Interkulturelle Medienwissenschaft - Interkulturelle Mediengeschichte(n)

von
 

Götz Großklaus

Universität Karlsruhe


Deutlich ist, daß Europa seit dem Übergang vom Manuskript zum Druckwerk (um 1450) und seit dem Übergang vom Printmedium zum elektronischen Medium als Schrittmacher dieser technischen Entwicklungen zu gelten hat. Von Europa ging die Revolutionierung der Mediensysteme aus: aber auch alle anderen außer- und nichteuropäischen Gesellschaften kamen und kommen in den Sog dieser radikalen Veränderungen des symbolischen Haushalts der Kulturen. Eine interkulturelle Medienwisenschaft hat nach Voraussetzungen und Folgen des Zusammenbruchs von Mediensystemen und des Zusammenstoßes kulturell und technisch unterschiedlicher Mediensysteme zu fragen.

Wie 'antworten' nicht-europäische Kulturen auf 'Zusammenbruch' und 'Zusammenstoß'? Was bedeutet beides für die 'kulturelle Kommunikation' im ganzen? Was bedeutet es für die Thematisierung von 'eigenkulturellen' Programmen? Wie verlief die 'Medien-Geschichte' in fremden Kulturen, denen unsere 'Geschichte' in beschleunigtem Durchlauf ökonomisch-technisch aufgenötigt wurde? Fragen, die es im interkulturellen wissenschaftlichen Diskurs zu behandeln gilt.

Eine interkulturelle Mediengeschichte könnte in einer Synopse die unterschiedlichen Mediengeschichten der Kulturen anschaulich machen: eingezeichnet werden müßten die verschiedenen Bruchstellen des Übergangs von einem Mediensystem zum anderen, besonders eben neuzeitlich vom Manuskript zum Buchdruck, vom Buch zum ersten technischen Bild und zum ersten technisch übermittelten gesprochenen Wort (Telefon, Radio): vergleichbar würden die verschiedenen kulturellen Tempi des Wechsels - bzw. die ganz unterschiedlichen Zeiträume, in denen ein Mediensystem (z.B. das Buch) sein Monopol behaupten kann: sichtbar würden, bezogen auf die 'Schubkraft' des europäischen Modernisierungs-Prozesses-kulturelle Verspätung, Verzögerung und Ungleichzeitigkeit. Bei Vergleichungen dieser Art ist zu bedenken, daß sich kulturelle Verspätung immer nur relativ zur Beschleunigung des Fortschritts in Europa zeigt - und daß 'Verspätung' gerade auch einen anderen, kulturspezifischen Weg in die 'Moderne' andeuten kann.

Mediengeschichte bewegt sich somit immer auch im Rahmen einer allgemeinen 'Modernisierungs-Geschichte': im Sinne eines permanenten wissenschaftlich-technischen soziokulturellen und mentalen Wandels: wie ihn Europa beschleunigt seit dem 18. Jahrhundert erlebt. Eine interkulturelle Medienwissenschaft wird somit imer wieder mit dem Problem der Globalisierung des europäischen 'Modells' einerseits - und mit der Möglichkeit ganz unterschiedlicher 'Antworten' andererseits konfrontiert.

Eine interkulturelle Mediengeschichte orientiert sich an der Zäsurlinie von 1450. Zu vermessen gilt es die zeitlichen Abstände, die zwischen diesem europäischen Datum und dem Datum der Einführung des Buchdrucks in einer beliebigen nicht-europäischen Kultur liegen. So wird beispielsweise der mechanische Buchdruck im Osmanischen Reich erst 1728/9 eingeführt: gegenüber Europa mit einer 300jährigen 'Verspätung'. D.h., daß sich die 'kulturell-öffentliche' Kommunikation bis zu diesem Datum im Medium des gesprochenen Worts (Koran Schulen, Moscheen) und exklusiv im Medium des geschriebenen Worts (Koran-Handschrift) vollzog. Das islamische Bilder-Verbot schloß weiterhin 'Bilder' als Medien der Übermittlung kultureller Inhalte aus. In islamischen Gesellschaften scheint sich somit eine öffentliche Bild-Tradition wie in abendländischen Gesellschaften nicht ausgebildet zu haben.

Wie geht eine islamische Kultur (hier des alten Osmanischen Reiches) mit dem explosiven Einbruch der säkularen Bildwelt im Laufe des 19. Jahrhunderts über Fotografie und Film um? Was bedeutet der massenmediale Fluß von (Fremd)Bildern via Satellit und Kabel für die heutige Türkei, die, ob sie will oder nicht, in der islamischen Tradition der Bild-Abstinenz steht?

Über multimediale Bildwelten aber wird der Anschluß an die Moderne gesucht - in den islamischen Ländern und anderenorts. "Die nationalen Mehrheiten Lateinamerikas finden Anschluß an die Modernität nicht über die Kultur des Buches, sondern durch die Technologien und Formate des audiovusuellen Bildes" - schreibt der kolumbianische Kommunikationswissenschaftler Jesús Martin-Barbero.

Diesen 'Anschlüssen' stehen bekanntlich in den Gesellschaften der Peripherie krasse Formen der Nicht-Teilhabe an den Standard-'Errungenschaften' der 'Moderne' entgegen.

Der interkulturell neuralgische Punkt für eine Theorie-Bildung ist sicherlich die Konzeptualisierung eines Modernisierungs-Programms, das sowohl von den 'Zentren' seiner geschichtlichen 'Erstformulierung' und -durchsetzung in Europa und dann in den USA, als auch von den 'Peripherien' her zu interpretieren ist. Der universelle Anspruch des euro-amerikanischen Programms wird inzwischen längst unterschiedlich relativiert: in Lateinamerika auf andere Weise als beispielsweise in der arabischen Welt. So wird die 'lateinamerikanische Kulturmoderne' von der lateinamerikanischen Kulturtheorie als: 'periphere Modernität' (modernidad periférica) gedeutet. (Herlinghaus). "Hier wiederum findet sich" - nach Herlinghaus - "auch das (post)moderne Denken der Zentren relativiert, indem über diese hinausgehend, sich ein modernekritisches Denken nunmehr in eigenständiger Epistomologie der Peripherie artikuliert." Es geht um kulturelle Selbstbehauptung im Sog der Modernisierungs-Schübe. Die islamische Theorie einer kompatiblen 'Moderne' rettet sich in die Formel einer Wiederaneigung und Rücknahme dessen, was an Wissenschaft und Technologie dem Islam (=dem Koran) immer schon inhärent sei. (Bassam Tibi)

Die Problematik einer globalen Theorie der Modernisierung ist hiermit nur angedeutet. Deutlich wird vielleicht, daß die traditionellen Kategorien wie 'Akkulturation', 'Assimilation' oder auch 'cultural clash' zur Beschreibung von beschleunigten Prozessen der 'medialen Penetration' nicht mehr ausreichen. Alle Etappen der Medien- und Modernisierungsgeschichte überspringend bringt ein einziger Fernseh-Apparat auf dem Dorfplatz im Busch den momentanen Anschluß an die Kommunikations- und Informationsflüsse der fernen und fremden Metropolen. Für diesen Sturz aus der lokalen Geschichte in die Ungleichzeitigkeit des Globalen gibt es noch keine Bezeichnung.

Die Mediengeschichte ist von der Modernisierungsgeschichte nicht abtrennbar. Gerade über die jeweils neuste Mediengeneration (vom gedruckten Buch zum technischen Bild: als Foto und Film, vom analogen Bild zum digitalen) erreicht das 'Kultur-Programm' der 'Zentren' die 'Peripherie': hier stößt es auf Eigen-Programme. Der Zusammenstoß führt zu 'Verwerfungen', 'Überschichtungen', zu 'Asymetrien' und Ungleichzeitiggkeiten etc. Ist nun die permanente Modernisierung als 'Kultur-Programm'der Zentren (Europa, USA) 'unteilbar' verknüpft mit den europäischen 'Aufstiegs-Kategorien' (Säkularisierung - Individualisierung - Rationalisierung - Industriealisierung von Raum und Zeit: Natur-Beherrschung u.a.) - oder sind im Sinne peripherer Modernität unterschiedliche Modernisierungswege denkbar, die mit Konzepten der 'gemischten Realitäten', der kulturellen 'Kontaminationen' (Vattimo), der kulturellen Heterogenität (Herlinghaus - José Joaquín Brunner), zu fassen wären?



Letztes update: Juni 1999


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