TEIL II: Einführung in die Informationsethik

Rafael Capurro

 
 
 

7. Systematische Aspekte (II)

 
7.1 Ethische Aspekte bei der Produktion von Information
7.2 Ethische Aspekte bei der Sammlung und Erschließung von Information
7.3 Ethische Aspekte bei der Verbreitung von Information
Übungen

     
 
 
 
   
 

7.1 Ethische Aspekte bei der Produktion von Information

Im zweiten Teil der systematischen Aspekte der Informationsethik beschäftigen wir uns mit den Bereichen der Produktion, Sammlung (und Erschließung) von sowie des Zugangs zu Information. Im Mittelpunkt stehen Fragen des Copyright, Zensur/Kontrolle sowie der Vermittlung bzw. des Zugangs.  
  
7.1.1 Warum soll geistiges Eigentum geschützt werden? 

Mögliche Begründungen:     
- Aufgrund der Gerechtigkeit: Das Werk ist ein Produkt der eigenen Arbeit. Vgl. Recht auf Eigentum (Menschenrechte Art. 27)     
- Aus ökonomischen Gründen: Ein Werk zu produzieren kostet (viel) Geld und das muß entsprechend entschädigt werden. Vgl. So rechnen Verleger damit, daß z.B. Bibliotheken Bücher kaufen.     
- Aus kulturellen Gründen: Die Werke werden geschützt als Teil des kulturellen Erbes.     
- Aus sozialen Gründen: Der Schutz der Werke trägt zur Gestaltung der Gesellschaft sowie zum sozialen Fortschritt bei.     
 

7.1.2 Traditionen des Schutzes des geistigen Eigentums

Unterschiedliche Traditionen bezogen auf unterschiedliche Technologien und Produkte (Bücher, Gemälde, Filme...) haben in verschiedenen Teilen der Welt zu verschiedenen Gesetzen zum Schutz des geistigen Eigentums geführt:     
- Die europäische Tradition betont die moralischen Rechte des Autors (‘droit d’auteur’). Diese sind auf die Person des Autors bezogen und erlauben ihm, die Integrität und Autorschaft seines Werkes sowie seine Reputation zu schützen.     
- Die angelsächsische Tradition betont das Eigentum oder die ökonomischen Rechte (‘copyright’), die übertragen werden können.     
- Asiatische Traditionen betrachten das Kopieren als eine Ehre bzw. als Ausdruck des Willens, den Meister nachzuahmen.     

    

7.1.3 Was kann geschützt werden? 
    
1) Die amerikanische Tradition besagt: ‘Original works of authorship fixed in any tangible means of expression’ (17 U.S.C. sect. 102(a)). Diese Tradition betont weniger die Originalität als vielmehr die Tatsache, daß es sich um Ergebnisse von Arbeit handelt.     

2) Die europäische Tradition betont die Originalität bzw. die schöpferische Kreativität, die sich dann durch ‘Autorenrechte’ schützt.     

Konsequenz: Unterschiedliche Dinge sind in unterschiedlichen Ländern Copyright-geschützt aber nicht dieselben Dinge!   
Z.B. ein schwarz-weiß Film wäre in Europa gegen seine Umwandlung in einen Farbfilm geschützt, aber nicht in USA. Das Kopieren eines Videos ist in USA geschützt aber nicht in China usw.
    

7.1.4 Wege zur Harmonisierung 
    

1) Berner Konvention (1886, Revisionen) wird durch das World International Property Organization (WIPO) verwaltet.
Schützt: Bücher, Skulpturen, Architekturwerke...     
Dauer des Copyright: 50 Jahre (nach dem Tode des Autors)
Unterscheidet zwischen ökonomischen und moralischen Rechten:     
Wenn ich einer anderen Person die ökonomischen Rechte übertrage, heißt das nicht, daß auch die moralischen Rechte übertragen worden wären.     
Beitritt der USA: 1989

2) Universal Copyright Convention (1952) (nicht mehr aktuell seitdem die Mitglieder die Berner Konvention unterschrieben haben)   
Der Schutz hängt vom jeweiligen Land ab.     
Schützt die Rechte der Vervielfältigung.     
Schützt 25 Jahre (nach dem Tod des Autors).     
Wird durch UNESCO und WIPO verwaltet..     

3) Copyright Direktiven der EG     
Z.B. Ausweitung des Schutzes von 50 auf 70 Jahre     
Kopiermöglichkeit 'für den persönlichen Gebrauch'     
Kopierrechte für elektronische und multimediale Werke (z.T. noch offen)     

 
 

7.1.5 Neue Techniken - Neue Fragen 

Ausgangslage:     
1) Vereinfachung des Kopierens und Veränderns aufgrund der Digitalisierung.     
2) Globalisierung (Internet)  

Konsequenzen:  
- Elektronische Verteilung von Kopien     
- Internet-Zugang aus verschiedenen Ländern     
- Downloading aus Datenbanken (Online, CD-ROM)     
- Digitale Bibliotheken     
- Multimediale Werke     

Offene Fragen:     
- Sollte Information immer als ein Eigentum betrachtet werden?     
- Wie kann der öffentliche freie Zugang zu elektronischer Information erhalten bzw. ermöglicht werden?  

 
7.1.6 Zur aktuellen Copyright-Diskussion 

- privatkopie.net

 
 
 
 

7.2 Ethische Aspekte bei der Sammlung und Erschließung von Informations

Ethische Fragen bei der Sammlung und Erschließung von Information betreffen vor allem Zensur und Kontrolle. Diese Fragen sind eng mit der politischen, ökonomischen, religiösen und militärischen Ausübung (oder Mißbrauch) von Macht und Zensur verknüpft. Auch kulturelle bzw. moralische Traditionen spielen hier eine Rolle bezüglich zum Beispiel dessen, was als ‘anstößig’ gilt. Wir betrachten zunächst die ethischen Aspekte bei der Auswahl von Information und anschließend ethische Fragen bei der Erschließung.      
  
     
7.2.1 Ethische Aspekte bei der Auswahl von Information 
     
Wir unterscheiden zwischen Auswahl und Zensur:      
- Zensur ist ein willentlicher Ausschluß von Information aus religiösen, politischen usw. Gründen.      
- Auswahl betrifft den Ausschluß von Information entsprechend den Zielen der Bibliothek bzw. des Informationszentrums. Zensur in Bibliotheken und Informationszentren betrifft den systematischen Ausschluß von bestimmter Art von Information.      

Daraus ergeben sich Konflikte zum Beispiel wenn dieser Art von Ausschluß Fragen der Sexualität, Gewalt, Religion, Politik usw. betrifft. Man denke an die Probleme um S. Rushdies Buch: “Die satanischen Verse”.  Es gibt interne und externe Quellen von Zensur. Zu den ersten zählen zum Beispiel die Sponsoren einer Institution. Zu den letzteren zählen Familie, religiöse Gruppen, Minderheiten usw.  Zensur ist auch abhängig von der Art der Organisation. Zum Beispiel Schulbibliotheken üben Zensur zum Schutz der Kinder und Jugendlichen. Der Vorgang der Selektion kann seinerseits durch Vorurteile zugunsten bestimmter Gruppen oder Sachverhalte geleitet werden, wodurch dann ein Mangel an Gleichgewicht entsteht. Die entscheidende ethische Frage lautet: Gibt es Grenzen der geistigen Freiheit?     

Der Wille das Schlechte auszuschließen mündet in ein ethisches Paradoxon, sofern nämlich das Ausschließen selbst vermieden werden sollte. Die heutige Tendenz ist die nach weniger Kontrolle und mehr Liberalität.  Dabei entstehen ethische (sowie moralische und rechtliche) Konflikte: Ein Fernsehfilm ist z.B. in USA obszön, in Deutschland nicht; eine große Stadtbibliothek stellt Material zur Verfügung, das in einer kleinen Bibliothek Anstoß erregen würde; ein Buch könnte in Iran einen Skandal hervorrufen, ein anderes in Spanien usw. 

Die der ethischen Wahl, je nach Situation unterschiedlich zu beantwortenden Fragen lauten dann: Wie lassen sich ethische Prinzipien (Achtung vor der Menschenwürde, soziale Verantwortung) mit den kulturellen Traditionen in Einklang bringen? Oder, anders ausgedrückt: Wie lassen sich die Rechte der Mehrheit mit denen der Minderheiten ausbalancieren?  Diese Fragen sind gerade angesichts der Globalisierung schwieriger und dringender geworden. 

     

7.2.2 Ethische Aspekte bei der Informationserschließung 
     
Zunächst muss bedacht werden, dass entgegen der Meinung Retrieval-Systeme (Suchmaschinen z.B.) seien an sich neutral, hier die These vertreten wird, dass es keine neutrale Informationserschließung gibt.      

Das leuchtet zunächst ein, wenn man bedenkt, daß z.B. Melville Dewey der Philosophie einen Vorzug in seiner Klassifikation (Sektion 100) gab, oder dass mit Ausnahme der Colon Classification alle Klassifikationen von Weißen entwickelt wurden, oder, schließlich, dass die großen Klassifikationen (LCC, DK) eurozentrisch sind.      

Das Problem der Nicht-Neutralität von Erschließungsmethoden liegt aber nicht nur darin, dass sie auf Vorurteilen gründen, sondern darin, dass bestimmte (ethisch) unhaltbare Vorurteile nicht als solche erkannt und korrigiert werden. So kann es diskriminierende Schlagwörter in einem kontrollierten Vokabular geben. Beispiel: ‘Siamesiche Zwillinge’ werden in den ‘Medical Subject Headings’ (MESH) (Klassifikation der National Library of Medicine) als ‘Monsters’ bezeichnet.      

Die Vielfalt der Ressourcen und die Ungenauigkeit der Suchmethoden in Internet kann zu massiven Vorurteilen in den Ergebnissen führen. 

 
 

 
 
    

7.3 Ethische Aspekte bei der Verbreitung von Information

Ethische Aspekte bei der Verbreitung von Information betreffen vor allem Fragen des Zugangs sowie der Vermittlung. 

Vom Einzelnen aus betrachtet, stellt sich die Frage, wie sich der freie und öffentliche Zugang zu allen Formen von Information heute garantieren läßt.  Das betrifft z.B. die Entscheidung, ob Gebühren für bestimmte Dienste seitens öffentlicher Institutionen verlangt werden sollen.  Zugleich gilt, dass Information etwas ist, dessen Herstellung Arbeit kostet (Mehrwert) und dementsprechend auch honoriert werden sollte. Die Frage ist also, welche Information für wen (Gebühren-) frei sein sollte. Das Problem der Ausbildung des Benutzers schließt sich an die Beantwortung dieser Frage an.  

Die Frage des Zugangs zu Information von der Gesellschaft aus betrachtet stellt sich als Frage nach der Schaffung von Chancengleichheit oder nach Abschaffung oder Abschäwchung der Ungleichheit zwischen ‘Informationsreichen’ und ‘Informationsarmen’. Stichwort: digital divide 

Vgl. das II. ICIE-Symposium (2002) sowie vom Vf.: Ethical Challenges of the Information Society in the 21st Century (2000) 

In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Desinformation (irreführende Information, ‘halbe’ Wahrheit etc.) zu bedenken, wodurch dem Benutzer erheblichen Schaden entstehen kann. 

 

Fazit: 

Das Internet bringt eine Änderung in der Auffassung von Informations- freiheit mit sich. Lösungsansätze lassen sich auf verschiedenen Ebenen finden:    
 

1) Selbstkontrolle: diese ist die von der Internet-Gemeinde propagierte Lösung. Ihre einfachste Form ist die sogenannte Netiquette. Andere Formen von Selbstkontrolle sind zum Beispiel die von Moderatoren in Newsgroups. Verstöße gegen Benimmregeln betreffen zum Beispiel die berühmten ‘sieben Worte’ so wie andere (z.B. rassistische oder sexistische) Äußerungen.     
Sanktionen können zum Beispiel mit einem ‘flaming’ (Schimpfwort) (‘flames’, ‘nastygrams’, ‘shitograms’) beginnen, und sich über ‘spam’ (wörtlich: Preßfleisch, Müllpost) bis hin zu ‘mail bombs’ (mehrere MG mails), die das System des ‘Bösewichts’ zum Einsturz bringen, erstrecken. Schließlich gibt es die cyber angels, die sich (freiwillig) um Anstand im Netz kümmern. 

2) Kampagnen: wie die Blue Ribbon Campaign  gegen verschiedene Formen von Diskriminierung und Zensur, zum Beispiel gegen das Communications Decency Act (CDA) vom Februar 1996. Die Electronic Frontier Foundation (eff), gegründet 1990, ist eine “non-profit civil liberties organization working in the public interest to protect privacy, free expression, and access to public resources and information online, as well as to promote reesponsibility in new media.” Die EFF agiert z.B. durch elektronische Kampagnen zum Schutz der Redefreiheit im Netz. 

3) Ethik-Kodizes:

 
INFORMATIONSETHIK
 

4) Gesetze auf nationaler Ebene: zum Beispiel in Deutschland 

5) Gesetze, Vereinbarungen und Deklarationen auf internationaler Ebene 

6) Technische Einrichtungen:  

- Filtering Software: Surf Watch, Net Nanny, Cyber Sitter und Cyber Patrol. 
- Kennzeichnungsverfahren (rating), wodurch die Anbieter ihre Websites indizieren 

 
 

www.saferinternet.org
 

7) UN-Aktivitäten: 
 

The World Summit on the Information Society (WSIS)
(Geneva 2003, Tunisia 2005) 
 

UNESCO: 
- International Congresses on the Ethical, Legal and Societal Challenges of Cyberspace 
- Observatory on the Information Society   

8) Aktivitäten (Kongresse, Programme...) von NGOs (Non-Governmental Organizations), Firmen, Ministerien u.a.:  
 

 

9) Ethische Reflexion: Vgl. v.Vf.: Das Internet und die Grenzen der Ethik  (2000)

 
 
 
   

Übungen

1) Geben Sie einige Gründe, warum geistiges Eigentum geschützt werden soll?     
2) Erläutern Sie die verschiedenen Traditionen zum Schutz des geistigen Eigentums und nehmen Sie dazu Stellung. 
3) Was wird durch die Berner Konvention und was durch die Universal Copyright Convention geschützt?     
4) Erläutern sie den Unterschied zwischen Zensur und Auswahl von Information   
5) Inwiefern sind Suchmaschinen ethisch nicht neutral? 
6) Inwiefern ist die Frage des Zugangs zu Information eine ethische Frage? 
7) Was unternimmt die UN zur Lösung des digital divide?



 
 
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