TEIL II: Einführung in die Informationsethik

Rafael Capurro


 

8. Medienethik


8.1 Medienethik als Ethik der Medien

Texte: 

8.2 Medienethik als Ethik der Massenmedien (Literatur und Portale)

Übungen 
 
 
 
   

8. 1 Medienethik als Ethik der Medien

    
Klaus Wiegerling ("Medienethik" Stuttgart: Metzlersche 1998) strukturiert das Gebiet der Medienethik wie folgt:   

"Medientheoretische Positionen: Antworten auf die medientheoretische Grundfrage:  
 
 
Wie beeinflußt das Medium das Verhalten des Menschen?    

1. Historische Versuche: Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert    
2. Ethische Überlegungen in der Medientheorie der Gegenwart:    
2.1 Philosophische Grundlegungen und Einsprüche (Cassirer, Wittgenstein, Arendt, Benjamin)    
2.2 Theorien der Schrift (Schmueli, Derrida, Althusser, Flusser)    
2.3 Bild- und Filmtheorien:    
2.3.1 Philosophisch-psychologische Bildtheorien (Klages, Jung, Leuner)    
2.3.2 Kinematographische Bildtheorien (Pudowkin, Eisenstein, Balász, Kracauer, Faulstich)    
2.3.3 Theorien zum Gegenwärtigen Status der Bilder in den modernen Informationstechnologien (Flusser, Großklaus, Virilio, Sandbothe)    
2.4 Theorien der Massenmedien (Horkheimer/Adorno, Anders, Postman, Habermas, Luhmann)    
2.5 Theorien von Hypermedien, Cyberspace und vom medialen Menschen (McLuhan, Virilio, Baudrillard, Lyotard, Kittler, Bolz, Capurro)    

III. Konkretionen: Felder neuer medienethischer Fragestellungen:    

1. Journalismus: Von der Informationspflicht bis zu Infotainment und der Tugend der Unterlassung    
2. Recht: Von der Informationsfreiheit bis zu Urheberschaft und "Netiquette"".



 
 
   

Texte

Platon


Der folgende Text ist dem Dialog “Phaidros” (Übers. O. Apelt) entnommen. Sokrates erzählt die Geschichte von der Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theut. Die Vorteile der Schrift sind zugleich ihre Nachteile, nämlich gegenüber der mündlichen Mitteilung. Plato verteidigt aber das alte Medium (das gesprochene Wort) im neuen Medium (die Schrift).
  
 
   
“Sokrates. Also: ich hörte, in der Gegend von Naukratis in Ägypten sei einer der alten Götter des Landes zu Hause, der, dem auch der heilige Vogel geweiht ist, den sie Ibis nennen. Der Dämon selbst aber heißt Theut. Er sei der erste Erfinder der Zahl und des Rechnens, der Geometrie und Astronomie, außerdem des Brett- und Würfelspiels und namentlich auch der Schrift. Über ganz Ägypten habe dazumal als König Thamus geherrscht, in der großen Stadt des obersten Gebiets, welche die Griechen das ägyptische Theben nennen, während der Gott bei ihnen Ammon heißt.    

Zu diesem kam Theut und zeigt ihm seine Künste mit dem Ansinnen, sie sollten allen Ägyptern mitgeteilt werden. Thamus fragte nach dem Nutzen einer jeden. Und wie jener seine Erklärungen gab, tadelte er bald, bald lobte er was ihm gut oder schlecht schien an der Darlegung. So soll er dem Theut über jegliche seiner Künste eine eingehende Beurteilung für und wider gegeben haben, die nachzuerzählen zu umständlich wäre.    

Als er aber bei der Schrift war, sagte Theut: “Dieser Lehrgegenstand, o König, wird die Ägypter weiser und gedächtnisreicher machen; denn als Mittel für Gedächtnis und Weisheit ist er erfunden worden.”    

Doch Thamus erwiderte: “O du Meister der Kunstfertigkeit, Theut: der eine ist imstande die Künste hervorzubringen, ein anderer, zu beurteilen in welchem Verhältnis Schaden und Nutzen sich verteilen werden für die Leute, die sie brauchen sollen. Auch du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Auch du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du erfunden. Und von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen.” (...)    

Sokrates. Also wer da meint, in schriftlicher Aufzeichnung eine Kunstanweisung zu hinterlassen und anderseits wer solche annimmt in dem Glauben, es könne etwas Deutliches und Sicheres aus schriftlichen Aufzeichnungen entnommen werden, dürfte mit großer Einfalt behaftet sein und wirklich die Weissagung Ammons nicht kennen, indem er geschriebenen Worten eine weiter gehende Bedeutung beilegt, als die, Wissenden zur Erinnerung zu dienen an die Dinge, worüber die Aufzeichnungen handeln.    

Phaidros. Ganz richtig.    

Sokrates. Denn das ist wohl das Bedenklichste beim Schreiben und gemahnt wahrhaftig an die Malerei: auch die Werke jener Kunst stehen vor uns als lebten sie; doch fragst du sie etwas, so verharren sie in gar würdevollem Schweigen. Ebenso auch die Worte eines Aufsatzes: du möchtest glauben, sie sprechen und haben Vernunft; aber wenn du nach etwas fragst, was sie behaupten, um es zu verstehen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Und dann: einmal niedergeschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genau so bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechterweise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.    

Phaidros. Auch das ist vollkommen richtig.    

Sokrates. Doch wie? Sehen wir nach einem andern Wort, dem leiblichen Bruder von jenem, und beachten, auf welche Weise dieses zustande kommt und wieviel besser und wirkungsvoller es seiner Natur nach ist als jenes.    

Phaidros. Welches wäre das und wie entsteht es?    

Sokrates. Das, welches mit Sachkenntnis aufgezeichnet wird in der Seele des Lernenden, fähig zur Selbstverteidigung und kundig des Redens und Schweigens, je nach Umständen.    

Phaidros. Von dem lebendigen und beseelten Wort des Wissenden sprichst du, wovon das Geschriebene mit Recht als Nachbild bezeichnet werden könnte?” (Phaidros, 274-276) 

 
 
   

McLuhan


Marshall McLuhan war langjährige Direktor des “Center for Culture and Technology” an der University of Toronto (Canada), berühmt durch sein Buch “Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters” (The Gutenberg Galaxy, 1962, dt. Übers. 1.Aufl. Düsseldorf 1968). In seinem Buch “Understanding Media: The Extensions of Man” (New York 1964) thematisierte er u.a. seine zum Slogan gewordene Aussage “The medium is the message”.    

Vgl.  Medien verstehen. Der McLuhan-Reader, Hrsg. von M. Baltes, F. Böhler, R. Höltschl, J. Reuß (Bollmann Verl. 1997)    


 
 
   

Baudrillard

Jean Baudrillard (geb. 1929), Soziologe und Medientheoretiker, sucht mit den Begriffen der Simulation und der Simulakra die Struktur von modernen Medien zu bestimmen, sofern diese sich von der Realität abkoppeln und sie durch Bilder ersetzen. Es besteht dann keine Möglichkeit das so geschaffene System zu transzendieren.    

Falko Blask: Baudrillard - Eine Einführung, Hamburg 1995 

 
 
   

Anders

Günther Anders (1902-1993) in Breslau geboren. Studierte bei Husserl und Heidegger. 1933 ging er in die Emigration zusammen mit seiner ersten Frau Hannah Arendt nach Frankreich. Danach emigrierte er in die USA. Berühmt wurde er als Autor der “Die Antiquiertheit des Menschen” (geschrieben Mitte der fünfziger Jahre), in dem er seine Lehre vom Menschen im Zeitalter der Technokratie entwirft. Zwischen unseren technischen und unseren moralischen Fähigkeiten tut sich ein immer weiter werdender Riß auf: Wir sind antiquiert.    

G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, München: Beck 1987, Bd. 1, S. 142-145.

 
   

Flusser

Vilém Flusser (1920-1991) in Prag geboren, emigrierte 1940 über London nach Sao Paulo, Brasilien, wo er bis Anfang der 70er Jahre als Publizist und Professor für Kommunikationsphilosophie tätig war. Danach kehrte er nach Europa zurück und ließ sich in der Provence nieder. Er wurde als Medientheoretiker berühmt. Seine Schriften erscheinen im Bollman Verlag. Unser Text: “Eine neue Einbildungskraft” stammt aus dem Jahr 1990.    

Vilém Flusser: Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim 1996, S. 141-149.    


 
 
 
 

8.2 Medienethik als Ethik der Massenmedien 

Literatur und Portale

    • Capurro. R.: Vorlesungsskript: Einführung in die Informationswissenschaft (Kap. 8) 
    • -: Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit. Wird das Medienethos ausgehöhlt? (2000) 
    • -: Medien (R-)Evolutionen. Platon, Kant und der Cyberspace (2000)  
    • Drägert, Christian; Schneider, Nikolaus (Hrsg.): Medienethik. Freiheit und Verantwortung. Stuttgart: Kreuz 2001
    • Funiok, Rüdiger (Hrsg.): Grundfragen der Kommunikationsethik. Konstanz: Ölschläger 1996  
    • Funiok, Rüdiger; Schmälzle, Udo F.; Werth, Christoph H. (Hrsg.): Medienethik - eine Frage der Verantwortung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999  
    •  Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990  
    • Hartmann, Frank: Medienphilosophie. Wien: WUV 2000  
    • Hausmanninger, Thomas: Kritik der medienethischen Vernunft. München: Fink 1992  
    • Hunold, Gerfried W. (Hrsg.): Medien - Wahrnehmung - Ethik. Eine annotierte Bibliographie. Tüginben: Francke 2001  
    • Karmassin, Matthias (Hrsg.): Medien und Ethik. Stuttgart. Reclam 2002  
    • Krainer, Larissa: Medienethik als angewandte Ethik. Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse. Stuttgart: Reclam 2002
    • Krempl, Stefan: Krieg und Internet: Ausweg aus der Progapanda. Verlag Heinz Heise, 2003
    • Krempl, Stefan: Die zweite Supermacht? in: telepolis 2003  
    • Leschke, Rainer: Einführung in die Medienethik. München: Fink 2001  
    • Maresch, Rudolf; Werber, Niels (Hrsg.): Kommunikation - Medien - Macht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.  
    • Schmidt, Siegfried J.: Kalte Faszination. Medien. Kultur. Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000.  
    • Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983 (2 Bde.).  
    • Weil, Felix: Die Medien und die Ethik. Grundzüge einer brauchbaren Medienethik. Freiburg/München: Alber 2001  
    • Wunden, Wolfgang (Hrsg.): Medien zwischen Markt und Moral. Beiträge zur Medienethik. Stuttgart: GEP-Buch 1989
    • -: Wahrheit als Medienqualität. Beiträge zur Medienethik. Bd. 3. Stuttgart: GEP-Buch 1996  
    • -: Medienethik - die Frage der Verantwortung. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1998 

 

PORTALE
 
  • Big Brother Awards.de
  • de.indymedia.org. Ein internationales Netzwerk von Medieninitiativen und AktivistInnen für unabhängige und unkommerzielle Bereichterstattung von unten
  • Der Spindoktor von Stefan Krempl
  • Netzwerk Neue Medien.



  • MEDIENETHIK HdM
     
    Reporters without borders

    Message. Internationale Zeitschrift für Journalismus
     
     
     
       

    Übungen

    1) Wie lautet, nach Wiegerling, die Grundfrage der Medienethik und was beinhaltet sie? Nehmen Sie dazu Stellung 
    2) Beschreiben Sie Platons Position gegenüber der Schrift     
    3) Welche Veränderungen brachte die Neuzeit in bezug auf die Freiheit der Kommunikation? 
    4) Was versteht McLuhan unter ‘hot’ und ‘cold media’?  
    6) Was versteht Baudrillard unter Simulakra? 
    7) Was versteht Anders unter Phantom? 
    8) Erklären Sie den Unterschied zwischen den von Flusser beschriebenen Formen der Einbildungskraft. 
    9) Inwiefern stellen Menschenbilder als mediatisierte Vorbilder ein ethisches Problem dar? Erläutern Sie Ihre Auffassung anhand eines Beispiels 
    10) Welches Menschenbild liegt dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zugrunde und welche Bedeutung hat dieses Menschenbild für die Medien? 
    11) Welche ethische Fragen stellen sich in Zusammenhang mit Gerichtsshows? 
    12) Welche ethische Verantwortung haben Programm-Macher? 

     

     
    Inhalt
    Teil I
    Teil II
     
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