ETHIK IM BILDE

Rafael Capurro

  

 
 Raffael Schule von Athen
 
 
Einführungsbeitrag zum IV. Internationalen HBI-Workshop zur Informationsethik: "Ethik als Wirklichkeitskonstruktion. Ansätze zu einer konstruktivistischen Informationsethik", 18.-19. Nov. 1999. Erschienen in: A. Blum, Hrsg.: Bibliothek in der Wissensgesellschaft. Festschrift für Peter Vodosek. München: Saur 2001, 134-140.

 
 
 
 
Inhalt 
 

1. "Geister-Zitierung"  
2. Who is Who?  
3. Zu Besuch bei Protagoras  
4. Raffael und wir  

Literatur

  
 


1."Geister-Zitierung"


Raffael von Urbino (1483-1520) malte zwischen 1509 und 1511 eine Reihe von Fresken im Auftrag des Papstes Julius II. im Vatikanpalast, darunter ein 577 x 814cm großes Fresko, das in der Kunstgeschichte als Schule von Athen (Siehe auch: hier) bekannt ist und über die Jahrhunderte eine außergewöhnliche Faszination auf seine Betrachter ausgeübt hat (Löhneysen 1992). Julius II. bezog nach dem Tode seines Vorgängers Alexander VI. Borgia (1492-1503) drei neue Gemächer und einen Saal, die als "Stanzen Raffaels" (stanza = Zimmer) berühmt geworden sind. Die "Stanza della Segnatura" in der sich die "Schule von Athen" befindet, war vermutlich als Bibliothek und Lesezimmer bestimmt. Diese stanza wurde später so genannt, weil dort Urkundenunterzeichnungen und Siegelungen vorgenommen wurden.

In seiner Raffaels Biographie schreibt Wilhelm Kelber:  

"Eine Bibliothek war damals etwas anderes als heute. Das Buch war noch heilig, noch unentweiht. Es gab noch keine Kritik und keine Ursache dazu. Man las mit Devotion. Der Herzog von Urbino empfand ein gedrucktes Buch als unwürdig. Er duldete keines in seiner Bibliothek. Seine Bücher mußten durch die menschliche Handschrift die Würde des Inhalts wahren. Man ließ sich auch keine Bücher kommen, weder ins Haus noch gar von auswärts, sondern man reiste hin, wo sie waren, rückte seinen Stuhl vor das Pult, wo der Foliant an einer Kette an seinem festen Ort lag. Genau wie man heute Galerien besucht. Wo Bücher waren, war Weihe. Und das Lesen selbst ein vernehmlicher Umgang mit dem Schreiber, eine Art Geister-Zitierung. Man las mit der Seele und erlebte mehr als blasse Gedanken. Dieser inneren Situation entsprach es, den Geist der Autoren in Gemälden zu vergegenwärtigen, den der Leser erfühlte. Man "zitierte" den Autor." (Kelber 1993: 18) 
Ich möchte diesen Hinweis über die "Geister-Zitierung" als Leitfaden für eine Interpretation oder, besser gesagt, als Einladung zu einer eigenen Auseinandersetzung mit Raffaels Bild aufgreifen. Unversehens sind wir schon mitten beim Thema unseres Workshops. Denn wenn wir dieses Bild anschauen, dann sind wir mit einer vielschichtigen Komposition konfrontiert, bei der wir den Eindruck haben, dass jeder Versuch ihren Sinn zu erfassen nur als eine Rekonstruktion aus der einen oder anderen Perspektive bedeuten muss. Wir sind, mit anderen Worten, Teil des Bildes und nicht ein objektiver Betrachter. Es ist so, und das ist bereits eine mögliche Stellungnahme, dass wir, wenn wir von den Texten zu ihren Autoren vorgehen, feststellen, dass diese wahre Art der Zitierung, diese "Geister-Zitierung" also, uns vor eine viel größere Herausforderung stellt als der Versuch, Geschriebenes oder Gedrucktes auszulegen.

Wie sollen wir in dieser komplexen Situation miteinander umgehen? Wen sollen wir zuerst zitieren, d.h. zuhören oder zuschauen? Davor wüßten wir natürlich zu gern who is who. In welcher Reihenfolge sollen wir vorgehen? Dürfen wir uns überall einmischen? Wo befinden wir uns eigentlich, wenn wir in diesem Bild sind? Wir haben offenbar ein großes Informationsdefizit, aber wir sind uns auch im klaren, dass eine isolierte Deutung einzelner Figuren oder Gruppen uns vor die Frage nach dem Zusammenhang, oder in Hypertext-Sprache übersetzt, nach den vielfältig möglichen, sinnvollen und weniger sinnvollen links stellt. Die Situation selbst erscheint uns vielleicht als eine Momentaufnahme, die auf mehrere räumliche und zeitliche Richtungen hinweist, sowohl im Bild selbst als auch in ihrem Bezug zu den anderen Fresken dieser stanza.

Diese Hypertext-Annäherung an die "Schule von Athen" ist zunächst eine Einladung, uns selber ein Netz von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen aufzubauen, das zwar aus einem beliebigen subjektiven Interesse zu entstehen scheint, in Wahrheit aber als eine mögliche Antwort auf ein Angesprochenwerden zu verstehen ist. Das bedeutet, dass der Leser dieses Bildes zunächst glaubt, die hier zitierten Geister nach eigenem Gutdünken verlinken zu können, während aber in Wahrheit er selbst derjenige ist, der zu einer Teilnahme, in welcher Form auch immer, eingeladen wird. Unser Beobachterstatus, der zugleich der Status eines unbeteiligten Konstrukteurs zu sein scheint, entpuppt sich als eine Chimäre: Es gibt kein Beobachten, das nicht zugleich ein Mitmachen bedeutet. Wie aber mitmachen? Nach welchen Regeln? Und was sollen wir dabei tun? Worauf läuft das Gespräch mit der einen oder anderen Person hinaus? Und was ist, wenn jemand nur da sitzt oder liegt, völlig losgelöst von einer Kommunikationsgemeinschaft, in die eigenen Gedanken versunken oder dem, was um ihn herum stattfindet, nicht die Spur einer Aufmerksamkeit widmet? Und wie stellt sich das Verhältnis zu Personen dar, die in so unterschiedlichen Aktivitäten beschäftigt sind, dass sie in sich geschlossene Teilgemeinschaften bilden oder zu bilden scheinen, während andere wiederum mit Freude aufeinander zugehen oder einem anderen gebannt zuhören? Und wie steht es um das Verhältnis zwischen Menschen verschiedenen Alters und, was in diesem Bild zumindest auf den ersten Blick kaum ins Gewicht fällt, zwischen den Geschlechtern?

Das Bild bezieht uns auch in ein dynamisches Geschehen oder in einen Durchgang ein, der in verschiedene Richtungen führt. Wir befinden uns dabei mitten in einer Halle oder in einer  tempelartigen Anlage. Die göttliche und die menschliche Welt, die sich das Bild horizontal teilen, bilden eine Einheit. Diese konstruierte Welt, die der Gespräche und die der Bauwerke und Bildnisse, läßt  eine von sich aus aufgehende Natur durchscheinen. Diese überragt die massive aber offene Konstruktion der Halle. Links ist eine Tür, eine wirkliche Tür sollten wir sagen, die von einer 'stanza' in die nächste führt. Fast ist es aber so, als ob wir durch diese Tür in die Welt gelangen könnten, in der wir schon sind, wenn wir uns in das Bild 'ein-bilden' und dabei den Unterschied zwischen Bild und außenstehendem Beobachter aufgeben. In diesem Fall stehen wir mitten in einer vorgegebenen von anderen konstruierten und uns tradierten Welt der Gespräche und der Bauwerke und fragen uns, was für Möglichkeiten des Mitmachens uns diese Konstruktionen und Traditionen zulassen, in welche Verhältnisse sie uns einführen, und wie wir uns auf sie einlassen können.


2. Who is who?


Schauen wir uns die Sachverhalte etwas näher an. An der Decke dieser stanza befinden sich vier symbolische weibliche Gestalten, welche Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Poesie darstellen. Ferner befinden sich zwischen diesen Medaillons folgende Szenen: das "Urteil Salomos" zwischen Philosophie und Jurisprudenz, "Adam und Eva" zwischen Jurisprudenz und Theologie, "Apollo und Marsyas" zwischen Theologie und Poesie, und "Astronomie" zwischen Poesie und Philosophie. Auf der gegenüberliegenden Wand malte Raffael ein anderes Fresko, die "Disputa", in der eine Fülle von Teilnehmern über die Hostie auf dem Altar disputieren. An den beiden anderen Wänden sind die Fresken "Parnass" und die drei Kardinaltugenden (Stärke, Weisheit, Mäßigung) dargestellt. Über der "Schule von Athen" steht das Medaillon der Philosophie umgeben vom "Urteil Salomos" und von der "Astronomie". Die Bezeichnung "Schule von Athen" stammt von Giovanni Pietro Bellori (ca. 1615-1696) (Kelber 1993: 463).

Who is who in der "Schule von Athen"? Mit dieser Frage hat sich zuletzt Glenn Most (Most 1999) auseinandergesetzt. Es besteht die Gefahr zu glauben, so Most, alle Rätsel dieses Bildes wären gelöst, wenn wir einige oder sogar alle Namen der hier dargestellten Personen genau wüssten (Most 1999: 10). Gleich zu Beginn standen sich zwei konkurrierende Interpretationen dieses Bildes gegenüber. Giorgio Vassari (1511-1574) nannte Raffaels Fresko eine storia und sah in ihm den Versuch einer Harmonisierung von Theologie, Philosophie und Astrologie. Er identifizierte zwei Arten von Personen bzw. Personengruppen, nämlich, auf der einen Seite, historische Gestalten wie Platon mit seinem kosmologischen Dialog Timaios und Aristoteles mit einem allgemein gekennzeichneten Werk Ethica, Diogenes mit seiner Tasse, Zoroasther und den Hl. Matthäus, sowie, auf der anderen Seite, zeitgenössische Personen wie Federico II., Herzog von Mantua, Bramante und Raffael selbst (Most 1999: 12). Demgegenüber behauptete Pietro Bellori (ca. 1615-1696), das Fresko stelle keine Geschichte, sondern lediglich einen Disput zwischen Philosophen, Rhetoren, Poeten, Mathematikern und Gelehrten aus anderen Disziplinen dar. Er identifizierte ferner weitere Personen wie Sokrates, Pythagoras, Empedokles, Archimedes und Alkibiades. Most selbst teilt die 58 dargestellten Personen in drei Kategorien ein:

1. Personen, die aufgrund der dargestellten Attribute unverwechselbar sind. Das betrifft sechs oder sieben Figuren, nämlich: Platon, Aristoteles, Diogenes, Ptolemaios (im rechten Vordergrund, mit dunklem Mantel, erkennbar am Erdglobus), Pythagoras (im linken Vordergrund, vor einer Schreibtafel auf dem ein pythagoreisches Problem erkennbar), Sokrates (an seinem unverwechselbaren Gesicht erkennbar) sowie schließlich Raffael selbst (im rechten Vordergrund, neben Ptolemaios).  

2. Figuren, die aufgrund ihrer Attribute einer bestimmten Kategorie von Personen zugeschrieben werden können, so z.B. den Geometer (Archimedes oder Euklid) im rechten Vordergrund.  

3. Die restlichen 46 Figuren, die trotz ihrer Aktivitäten  unbestimmt bleiben und eher wie Komparsen rund um einen Star wirken.   

Das zeigt, so Most, dass hier die Philosophie anhand dessen dargestellt wird, was Philosophen gewöhnlich tun, nämlich lesen, schreiben, lehren, argumentieren, demonstrieren, fragen, zuhören und nachdenken (Most 1999: 20-27). Unser Bild steht zwar in der Tradition ikonographischer Darstellungen der Philosophie, Raffael bricht aber u.a. mit der Tradition der Sieben Freien Künste, als er hier nicht nur sieben allegorische Gestalten, sondern eine Fülle von wirklichen 'Geistern' zitiert.   

Mehrere Gruppen sind in bezug auf das Thema unserer Tagung bemerkenswert: darunter der Nachrichtenüberbringer am linken oberen Rand, der freudig gegrüßt wird, die aufmerksamen Zuhörer um Sokrates, Platon und Aristoteles, die als Paar sich gegenseitig anschauen und ansprechen. Ich möchte aber die Aufmerksamkeit auf die zwei Gruppen vorne links und rechts richten. Die rechte Gruppe auf der Seite von Ptolemaios mit dem Erdglobus und der neben ihm stehenden Gestalt mit dem Himmelsglobus stellt nach Most:  

"ein anschauliches Modell für die erfolgreiche Vermittlung von Wissen dar: Der Lehrer scheut keine Mühen und kniet unbequem, damit die Tafel, auf der er mit seinen Zirkel Strecken abgreift, für die vier seiner Demonstration folgenden Studenten gut erkennbar ist; und diese letzteren verkörpern vier aufeinanderfolgende Stufen des Erkenntnisprozesses, von schmerzlicher Verwirrung über wilde Mutmaßung und hoffnungsvolles Fragen bis hin zu befriedigter Gewißheit." (Moos 1999: 56-57)
Diese Gruppe kontrastiert wiederum mit der Gruppe am linken Rand um Pythagoras herum, der das Thema des Verbergens von Wissen verkörpert. Pythagoreer pflegten zu sagen, es dürfe nicht alles allen mitgeteilt werden, denn sie, die Pythagoreer, verfolgen das Gute auf der Grundlage ihres Wissens, das den Gegnern nicht zugänglich sein sollte.  Diogenes Laertius berichtet, daß Pythagoras' Schüler ihr Vermögen zum gemeinsamen Besitz zusammenlegten, denn Pythagoras war der erste der sagte,   
"dass unter Freunden alles gemeinsam und dass Freundschaft Gleichheit sei." (Diogenes Laertius 1967: 115)
Fünf Jahre lang mußten die Schüler schweigen und den Lehrvorträgen ausschließlich als Hörer folgen, ohne den Meister zu Gesicht zu bekommen,   
"bis sie sich hinreichend bewährt hätten; von da ab gehörten sie zu seinem Hause und durften ihn sehen."  (a.a.O.)
Pythagoras erstmals habe

"das Himmelsgebäude kosmos genannt und die Erde als rund bezeichnet (Diogenes Laertius 1967: 133).

Die Bezeichnung Philosoph geht auf Pythagoras zurück. Die Pythagoreer teilten sich in zwei Richtungen, die Akousmatiker (Hörer) und die Mathematiker (Schüler)
 
„Mathematiker hießen jene, welche mehr in den besonderen und im Hinblick auf Exaktheit gepflegten Lehren seiner Wissenschaft unterrichtet worden waren, Akousmatiker jene, welche nur die kurzgefaßten Vorschriften ohne exakte Begründung vernommen hatten." (Diels/Kranz 18.2)
Pythagoreer und Ptolemäer stehen bei Raffael in einem scharfen informationsethischen Kontrast.

3. Zu Besuch bei Protagoras


Gab es eine literarische Vorgabe, fragt sich Most, für diese eindrucksvolle Darstellung eines philosophischen Kongresses bei dem Bücher - elf sind dargestellt - eine wichtige Rolle spielen? Most glaubt einen solchen Inspirationstext im Platonischen Dialog Protagoras  entdeckt zu haben. Sokrates und der junge Hippokrates machen sich auf den Weg, um im Haus des Kallias, im größten und prächtigsten Haus Athens, den Sophist Protagoras zu treffen.

Der Text lautet:  
"Als wir nun eingetreten waren, trafen wir den Protagoras in dem vorderen Säulengange herumwandelnd. Neben ihm aber gingen auf der einen Seite Kallias, der Sohn des Hipponikos, und sein Bruder von mütterlicher Seite, Paralos, der Sohn des Perikles, und Charmides, der Sohn des Glaukon, auf der anderen aber der andere Sohn des Perikles, Xanthippos, ferner Philippides, des Philomelos Sohn, und Antimoiros von Mende, der am meisten im Ruf steht von den Schülern des Protagoras und als eigentlicher Kunstjünger bei ihm lernt, um selber Sophist zu werden. Andere aber zogen hinterdrein und hörten dem, was gesprochen wurde, zu, und von diesen schien der größte Teil aus Fremden zu bestehen, welche Protagoras aus allen Städten, durch welche er auch kommen mag, hinter sich herzieht durch den Zauber seines Mundes, wie Orpheus, so dass sie alle willenlos diesem Zauber nachfolgen; es waren aber auch einige von den Einheimischen in diesem Reigen. An dem Anblicke dieses Letzteren nun hatte ich am meisten meine Freude, nämlich darüber, wie hübsch diese stummen Zuhörer sich davor in acht nahmen, dem Protagoras vorne in den Weg zu treten, vielmehr, sooft er und die, die mit ihm gingen, sich umdrehten, sich sittig und wohlgeregelt auf beide Seiten verteilten, kehrtmachten und sich dann hinten in der schönsten Ordnung wieder anschlossen.

Jenem zunächst erblickt' ich, wie Homeros sagt, den Hippias aus Elis, welcher in dem gegenüberliegenden Säulengange sich auf einen Throm gesetzt hatte; um ihn herum aber saßen auf Bänken Eryximachos, des Akumenos Sohn, Phaidros aus Myrrinus, Andron, des Androtion Sohn, und von Fremden mehrere Landleute des Hippias und einige andere, und man konnte bemerken, daß sie ihm gerade Fragen aus der Erd- und Sternkunde, nämlich über die Natur des Alls und die Himmelserscheinungen vorlegten, und wie er von seinem Thron aus einem jeden von ihnen Auskunft über das Gefragte gab und es mit ihnen durchging.   

Auch des Tantalos
ferner schauet' ich. Denn es war wirklich auch Prodikos aus Keos da und befand sich in einem Gemache, welches vordem Hipponikos als Vorratskammer benutzt hatte; jetzt aber hat wegen der Menge der Einkehrenden Kallias auch dieses ausgeräumt und zur Aufnahme von Fremden eingerichtet. Prodikos nun lag noch im Bette, eingehüllt in Pelze und Decken, und zwar in nicht wenige, wie der Augenschein lehrte; ihm zur Seite aber saßen auf den nahestehenden Ruhebetten Pausanias aus Kerameis und neben diesem ein noch sehr junger Mensch, von schönen und trefflichen Anlagen, wie es mir vorkam, jedenfalls aber von Gestalt überaus schön. Wenn ich mich recht erinnere, so hörte ich, dass sein Name Agathon sei, und es sollte mich nicht wundern, wenn er der Geliebte des Pausanias wäre. Dieser junge Mensch also war dort zugegen, und die beiden Adeimantos ferner, den Sohn des Kepis und den des Leukolophides, und noch einige andere erblickte man daselbst. Worüber sie aber sprachen, konnte ich von draußen nicht verstehen, so dringend ich auch wünschte, den Prodikos zu hören - denn gar hochweise und göttlich scheint mir der Mann zu sein -, sondern der dumpfe Widerhall, welchen der tiefe Ton seiner Stimme in dem Gemache gab, machte seine Worte unvernehmlich." (Prot. 314e-316a)


4. Raffael und wir


So wie Plato im "Protagoras" eine Fülle von Personen zu einem Stelldichein zitiert, so gestaltet Raffael seinen Kongress in dessen Mittelpunkt Welt und Mensch, Kosmologie und Ethik, Platon und Aristoteles stehen. Ethik ist im Bilde im doppelten Sinne des Wortes: Sie wird als Disziplin und als Handlung versinnbildlicht. Die nach vorne und nach unten weisende Hand des Aristoteles in einem braunen und hellblauen an Erde und Wasser, so scheint es mir zumindest, hinweisenden Gewand steht im Spannungsverhältnis zum erhobenen Finger des Platon, der sowohl von seinem roten Gewand als auch von der Form seines Körpers her an eine Flamme erinnert und somit an Feuer und Luft. Mit beiden Gesten und in beiden Gestalten  wird das Verhältnis  zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen 'angemessen' und 'angespannt'. Ethik ist überall dort, wo Menschen miteinander sprechen, forschen, in scheinbarer Isolation nachdenken, alles akribisch festhalten, auf neue Nachrichten freudig reagieren, sich von einem Meister alle Argumente aufzählen lassen, Himmel und Erde in den Händen zu haben glauben. Menschsein heißt leben in einem Feld von spannungsreichen Alternativen.   

Ethik im Bilde bedeutet aber auch, daß sie über die Situation, in der sie steht, bescheid weiß aber nicht  im Sinne von Besserwisserei oder als bloße historische Forschung, sondern als "Geister-Zitierung", bei der Alte und Neue, antiqui et moderni, sich versammeln, wo der Zitierende zum Zitierten mutiert und seine scheinbare neutrale Position aufgibt. Fünf Figuren in verschiedenen Altersstufen - auf der linken Seite zwei Kinder sowie der weiß gekleidete junge Mann (vielleicht eine Anspielung auf Francesco Maria della Rovere, Herzog von Urbino) sowie eine stehende Figur am rechten Rand und Raffael selbst - blicken den Betrachter an und laden ihn zur Teilnahme am Mitteilungsgeschehen ein.  

Alle Verständnisbemühungen sind umsonst solange wir nicht selbst in ein Gespräch involviert sind. Raffaels Bild bleibt uns deshalb ein Rätsel und es geht uns dabei wie Sokrates und Hippokrates, die nur die dumpfen Töne des Prodikos und das Gemurmel der Gespräche zu hören vermögen, bis sie sich Protagoras persönlich zuwenden und ihm sagen: 

"Du bist es, Protagoras, den aufzusuchen wir hierher gekommen sind. Wollt ihr mich, erwiderte er, allein sprechen oder im Beisein der anderen? Uns, versetzte ich, soll das gleich sein. Vernimm denn den Zweck unseres Kommens und prüfe selbst." (Prot. 316 a)
In diesem Sinne wünsche ich den Teilnehmern unseres Workshops ein konstruktives Disputieren und Nachdenken nach dem Beispiel von Raffaels "Schule von Athen." 

 

 
   

Literatur 

Diogenes Laertius:  Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg 1967.
Kelber, W.: Raphael von Urbino. Leben und Werk. Stuttgart 1993 (2. Aufl.). Löhneysen, W. v.: Raffael unter den Philosophen - Philosophen über Raffael. Berlin 1992.
Most, G.W.: Raffael und die Schule von Athen. Frankfurt a.M. 1999.
Platon: Protagoras. Hamburg 1988 (Übers. O. Apelt)



Letzte Änderung: 22. August  2017
   
 
 
     

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