Einführung
Die theoretischen
und
praktischen Anstrengungen,
im 20. sowie zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Gewalt zu rechtfertigen,
betreffen
zum einen die großen ideologischen und
geopolitischen Projekte
mit
ihren katastrophalen Auswirkungen und zum
anderen die
Friedensbemühungen
angesichts der gegenwärtigen Vermehrung von
lokalen kriegerischen
Auseinandersetzungen. Letztere suchen oft
ihre Rechtfertigung in der
"Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte" sowie in
demokratischen Idealen,
wobei
beide Begründungsformen ihre Wurzeln in der
europäischen
Aufklärung
haben. Aber die theoretischen Ursprünge von
Gewalt und Pazifismus
reichen weiter hinter den Horizont der
Moderne zurück,
nämlich
bis zur Entstehung der abendländischen
Metaphysik. Der Philosoph
Gianni
Vattimo ist eine der Schlüsselfiguren in der
großen
europäischen
und transatlantischen Debatte der Gegenwart
über die komplexen
Beziehungen
zwischen Metaphysik, Gewalt und Modernität.
Sein "schwaches
Denken"
hat eine empirische Basis in der
geschichtlichen Erfahrung der letzten
Jahrhunderte, öffnet sich aber zugleich
einer Reflexion und einem
Dialog mit den Interpretationen, die Denker
wir Friedrich Nietzsche,
Martin
Heidegger und Hans-Georg Gadamer über diese
Erfahrung sowie
über
deren philosophische Wurzeln vorgeschlagen
haben.
I.
Vattimo liest Nietzsche und Heidegger
Wolfgang
Sützls Arbeit
befaßt
sich mit "Gianni Vattimos ästhetischem
Pazifismus". Der Verfasser
stellt zunächst Vattimos
Nietzsche-Interpretation dar. Im
Gegensatz
zur üblichen Auffassung versteht Vattimo
Nietzsches Nihilismus als
ein Aufgeben des metaphysischen Fundaments.
Dies schließt auch
die
Anstrengungen der Moderne gegenüber einem
unsicher gewordenen
Subjekt
ein, was unweigerlich zu einer fast immer
gewaltsamen Beherrschung der
verschiedenen ihm gegenüber gestellten
Objekte führt. Der
Autor
erläutert, wie Schlüsselbegriffe wie
Freiheit und
Verantwortung
eine neue Bedeutung innerhalb eines
nicht-totalisierenden
Wirklichkeitsrahmens
bekommen. Dieser nicht-gewaltsame Rahmen ist
ereignishaft. "Gewaltfreiheit"
wird dabei als "Abstand von Gewalt"
verstanden, im Unterschied zu "Gewaltlosigkeit"
oder "Abwesenheit von Gewalt". Im Horizont
von "Gewaltfreiheit" lernt
das
"geschwächte" Subjekt innerhalb von
unvorhergesehenen und
komplexen
Situationen, jenseits eines Verhältnisses
von Herrschaft oder
Unterwerfung,
zu antworten. Der Verfasser erläutert dabei
Vattimos Deutung der
heutigen
Kommunikationsgesellschaft, wo ein
intensivierter Austausch von
Botschaften
stattfindet. Diese Situation ist einem
Gewaltverhältnis mit
Ausschluß
eines dialogischen Austausches
entgegengesetzt. Im Unterschied zur
Auffassung
der Kommunikationsgemeinschaft in der
"Frankfurter Schule" betont
Vattimo
die Funktion "lokaler Rationalitäten", deren
Emanzipations- oder
Aneignungsbestrebungen
im Sinne eines oszillierenden Verhältnisses
mit
Entfremdungserfahrungen
angesehen werden.
Sützl
erörtert
im Einzelnen
die Wechselbeziehungen zwischen Nietzsche
und Heidegger aus Vattimos
Sicht
und zeigt dabei die Originalität von
Vattimos
Nietzsche-Lektüre
besonders im Hinblick auf die Auffassung
des Irrens als Denk- und
Lebensmöglichkeit.
Damit setzt Nietzsche der Idee einer
objektiven Wahrheit eine Grenze,
ohne
aber in den absoluten Nihilismus zu
verfallen. Vattimos
nietzscheanische
Heidegger-Interpretation macht besonders
auf die Gefahr in der
Biographie
dieses Denkers aufmerksam, die sich daraus
ergibt, wenn ein
authentisches
Sein oder eine "starke Wahrheit" erwartet
wird. Durch eine literarische
Lektüre wird Nietzsche paradoxerweise zum
Vorreiter einer
nihilistischen
hermeneutischen Ontologie, in der
Heideggers Sein als Ereignis gedacht
wird.
II.
"Gestell",
"Verwindung" und "Gelassenheit"
Diese Umkehrung
von
Heideggers Nietzsche-Deutung
führt wiederum zu einer nihilistischen
Heidegger-Deutung, die ein
Schlüssel zu Vattimos Denken ist. Dieser
nietzscheanischen Deutung
Heideggers widmet der Autor ein
umfangreiches Kapitel, in dem
Heideggers
Begriffe "Gestell", "Verwindung" und
"Gelassenheit" eine zentrale Rolle
spielen. In diesem Spiel der
Interpretationen eignet sich der Autor
selbst
Vattimos hermeneutische Methode an, die
darin besteht, den Dialog mit
vergangenen
oder gegenwärtigen Denkern als eine Antwort
zu einer
"Überlieferung",
d.h. zur Übermittlung einer Botschaft, zu
verstehen. Das
führt
zu einem "schwachen" Denken, das keine
globale Theorie anbieten will,
sondern
im Dialog seine eigene Geschichtlichkeit
anerkennt. Sützl weist
auf
die Bedeutung von Heideggers "Verwindung"
für Vattimo sowie auf
das
Verhältnis zu "Ereignis" und "Gestell" hin.
Vattimo vollzieht eine
"säkularisierende" und "linksgerichtete"
oder emanzipatorische
Lektüre
Heideggers. Dies kann als einer der
innovativsten Beiträge des
italienischen
Denkers aufgefaßt werden. In dieser
Auslegung spielt auch die
Sprache
im Sinne eines "freien
Kommunikationsflusses" eine entscheidende
Rolle.
Dem stellt Vattimo totalitäre Bewegungen mit
ihren
eschatologischen
Ansprüchen entgegen, ohne aber selbst eine
Abschaffung der Gewalt
anzustreben. Letzteres wäre erneut ein
gewaltsames Projekt, wie
zum
Beispiel die politisch-militärischen
Sicherheitspläne auf der
Basis von sich auf Waffen stützenden
Lösungen zeigen. Das
"schwache
Denken" strebt lediglich eine
kontinuierliche Reduktion von
Gewalt
auf der Basis einer "Verwindung" der
Metaphysik, nicht aber ihre
Eliminierung
an. Krieg und Gewalt bedeuten somit, aus
Vattimos Sicht, einen
metaphysischen
Versuch, sich des Seins als Anwesenheit zu
bemächtigen oder, mit
anderen
Worten, das Vergessen der ursprünglichen
Offenheit, die nicht vom
Menschen stammt.
Der Autor zeigt
den
Übergang von
einer "Hermeneutik des Hörens" zu einer
postmetaphysischen Ethik,
in der die autonome Dimension des Rufes
einer Botschaft in ihrer
Alterität
anerkannt wird, so dass jede
Interpretation ursprünglich zu einem
"schweigsamen Hören" verweist. Letzteres
bedeutet aber wiederum,
in
Vattimos säkularisierter Interpretation,
nichts Geheimnisvolles,
sondern
die Autonomie selbst des Rufes, seine
Ereignishaftigkeit, sowie die
Sterblichkeit
menschlichen Existierens. Menschliche
Freiheit befindet sich
eingebettet
in einer Überlieferungsgeschichte von
Botschaften, in der sie aber
zugleich, aufgrund des offenen Charakters
des Sichgebens der Ereignisse
selbst, freigegeben ist. Sützl
interpretiert diese Struktur im
Sinne
einer "nicht-gewaltsamen Konfliktivität",
wo die Antworten auf die
Konflikte keine endgültige Lösung,
dialektische Aufhebung
oder
Überwindung, sondern eine "Verwindung"
anstreben. Der Verfasser
erörtert
das Verhältnis zwischen dem "Gestell" und
den Informations- und
Kommunikationstechnologien
und zeigt, wie diese für Vattimo zugleich
eine Radikalisierung der
Metaphysik und der Ort ihrer Implosion
oder Abschwächung sind.
Letzteres
ist nur möglich, weil die Technik am Ende
des 20. Jahrhunderts
eine
Kommunikationstechnik geworden ist, deren
Modell nicht der Motor als
zentrale
und stabile Struktur darstellt, sondern
das Netz, d.h. etwas
Dezentrales,
Mobiles und Kurzlebiges, wo die
Wirklichkeit nicht mehr eine
Autorität
über den Menschen ist, sondern in der
Mensch und Sein sich in
einem
"schwingenden" (Heidegger)
Verhältnis befinden. Heideggers
"Gelassenheit", wodurch der Mensch die
Technik weder vollständig
bejaht
noch ablehnt, wird von Vattimo im Sinne
einer "ästhetischen", d.h.
einer offenen oder oszillierenden Freiheit
gedeutet, die die Bedingung
eines nicht-gewaltsamen oder
post-metaphysischen Denkens und Handelns
darstellt.
III.
Das "schwache Denken" im Dialog mit
Habermas, Rorty und Feyerabend
Der Verfasser
setzt Vattimos
"schwaches
Denken" in Beziehung zu einigen Verteidigern
der Modernität,
darunter
Habermas und Rorty, und zeigt, inwiefern die
"Demut der Philosophie",
die
durch den Verlust der Unschuld nach
Hiroshima und Auschwitz
gekennzeichnet
ist, gerade das Projekt der Aufklärung, im
Sinne eines
unvollständigen
metaphysischen Herrschaftsprojekts, in Frage
stellt. Das "schwache
Denken"
hat nicht das Ziel, überzeugende Gründe zu
liefern, wie das
beim
"starken Denken" der Fall war, sondern
versteht sich im Horizont von
Güte,
Geduld und Aufmerksamkeit. Vattimo faßt dies
unter dem Begriff
der pietas zusammen. Er denkt eine
solche pietas als
eine Ethik
des Verhältnisses zu nahen Gütern, im
Unterschied zu einer
Ethik
der letzten Normen. Der Verfasser widmet ein
Kapitel seiner Arbeit der
Genese des "schwachen Denkens" und geht
dabei zunächst von der
Erfahrung
der Krise der auf Herrschaft hin sich
verstehenden Vernunft aus.
Vattimos pietas wird, demgegenüber,
als eine
Fähigkeit,
die Botschaften
der Vergangenheit in einer neuen Weise zu
hören, verstanden. Es
handelt
sich um eine auditive Tugend, die weder das
Neue mit dem Guten
gleichsetzt,
noch die Unbeweglichkeit eines bestimmten
normativen
Vorverständnisses
— meistens das der Sieger und Unterdrücker —
meint.
Das "schwache
Denken"
stellt jeden
Versuch einer dialektischen Integration
innerhalb eines totalisierenden
Projekts in Frage. Dabei fragt Sützl, ob
die Auflösung der
Dialektik
im Denken der Differenz zu einem
"konservativen" Denken führt, das
unfähig ist, die Macht- und
Herrschaftsverhältnisse zu
ändern.
Dennoch, für Vattimo, schwächt die Kritik
oder, besser
gesagt,
die Wiedererinnerung der Schickungen,
ihren illusorischen Charakter
einer
totalisierenden Identität ab. Die pietas
wird nicht als
ein
Verhältnis mit dem Göttlichen oder mit dem
metaphysischen ontos
on, sondern als nicht-gewaltsames
Verhältnis mit dem Erlebten
aufgefaßt, auf der Basis einer gegenwärtigen
Sorge
und
Aufmerksamkeit für die Seienden in ihrer
historischen Herkunft und
in ihren Erscheinungsformen. Vattimo zeigt
damit eine Alternative zu
einer
normativen Ethik der Imperative, indem er
den Akzent nicht auf eine
fundierende
Rationalität, sondern auf eine
Abschwächung des Seins setzt.
Dies bedeutet zugleich eine Abschwächung
jenes Denkens, das der
Geschichte
dieser Abschwächung selbst
antwortet.
Das führt
dazu, wie
Sützl
zeigt, den Frieden schwach zu denken, d.h.
nicht als ein Objekt oder
einen
Zustand, oder als etwas, was konstruiert
oder angeeignet werden
könnte,
sondern als eine dauernde Möglichkeit
ihres "Zustandekommens" oder
als Ins-Werk-Setzen einer "Gewaltfreiheit
ohne Frieden". Dies wird in
einer
weniger ironischen oder paradoxen Weise
folgendermaßen
ausgedrückt:
Das "schwache Denken", übersetzt als
soziales Projekt, bedeutet
eine
kontinuierliche Debatte auf der Basis
einer permanenten Auflösung
von als sicher gedachten Fundamenten, ohne
das damit die Beliebigkeit
des
"anything goes" (P. Feyerabend)
zustande kommt. Denn die
Hermeneutik
richtet sich auf die Wiedererinnerung von
überlieferten
Vorverständnissen
und Regeln, in denen sich Denken und
Handeln sich immer schon als
bedingt
vorfinden, auch wenn sie nicht von ihnen
vollständig determiniert
werden. Solches Erbe ist die Substanz der
pietas, aber nicht
als
eine statische Wertehierarchie, sondern
als Antrieb für die
Interpretation.
Vattimos Ethik ist eine Ethik der Güter,
nicht eine der Imperative.
Die "schwache"
Betrachtung der Überlieferung
bewirkt, dass Vattimos Denken sich nicht
innerhalb von konservativen
Entwürfen
einordnen läßt, während sein
hermeneutischer Antrieb
die
prophetischen Visionen abschwächt, indem
er sie innerhalb "eines
dichten
Netzes von Interferenzen" stellt.
Dem stellt Sützl die
Legitimierung
von Gewalt als Entfaltung einer Macht
entgegen, die sich sogar
wähnt,
den common sense als objektive
Wahrheit zu definieren. Vattimo
gibt
gute Gründe, um Emanzipation von Stärke
oder Gewalt zu
trennen,
ohne sich aber zugleich in eine Position
der Stärke zu setzen,
sondern
indem er Räume für Denken und Handeln
öffnet. Das meint
eine "Ontologie des Untergangs", in der
der Prozeß der Aneignung
des Seins nihilistisch, als Reduzierung
von Gewalt, gedacht wird, im
Unterschied
zu einigen revolutionären Bewegungen,
deren Seinsvergessenheit zu
einer Wiederaneignung des Seienden führt,
und die dabei den
ereignishaften
oder "sich schickenden" Charakter des
Seins und somit auch die
ontologische
Differenz aus der Sicht verlieren, und in
einer Auflösung der
Freiheit
in der Sicherheit enden.
Die Hermeneutik
ist
für Sützl,
der sich dabei auf Wolfgang Welsch
bezieht, das "Rückgrat" von
Vattimos
Denken. Sie steht in Beziehung, gegenüber
dem üblichen
Verständnis,
zu den aktuellen kulturellen und
politischen Problemen. Es handelt sich
nicht um eine Theorie über die Vielfalt
von Interpretationen,
sondern
um eine Philosophie der nihilistischen
Geschichte, die die "starken"
oder
gewaltsamen Strukturen in Frage stellt,
auch die, die sich auf das Erbe
der Aufklärung beziehen und sich in Dienst
der Emanzipation
stellen.
Die Reduzierung von Gewalt als "roten
Faden" der Geschichte ist der
Punkt,
an dem Vattimos Auffassung von Geschichte
sich vom idealistischen
Denken
einer vollständigen Eliminierung jeder
Form von Gewalt
unterscheidet.
Sützl weist darauf hin, wie diese
Auffassung Vattimos eine
kritische
Betrachtung des grenzenlosen Konsumismus
sowie jeder Art von
Fundamentalismus
ermöglicht.
Dennoch kann
sich die
nihilistische
Hermeneutik nicht als ein alternativer
Diskurs vorstellen, das den
herrschenden
Diskursen gegenübergestellt wäre, sondern
muß als
"bremsender
oder kontaminierender" Diskurs verstanden
werden. Vattimos Denken ist
ein
Denken der Kontamination. Es hat einen
anarchischen Charakter in dem
Sinne,
dass es versucht, neue Räume eines "freien
Spiels" zu öffnen.
Es strebt keine endgültige und dauernde
Befreiung an, sondern
bewegt
sich innerhalb eines Spiels historischer
Kontingenzen, auf der Suche,
"starke
Strukturen" zu vermeiden. Es zielt nicht
darauf ab, sich einen
"nicht-gewaltsamen"
Zustand anzueignen, sondern begreift sich
innerhalb einer
ereignishaften
Struktur in der Oszillation zwischen "dem
Gleichen" — hier werden die
Rechtsansprüche
in bezug auf "Gleichheit" und
"Gleichwertigkeit" eingeschlossen — und
"dem
Selben". Während die "Gleichheit" auf eine
Eliminierung der
Differenzen
abzielt, ermöglicht die "Selbigkeit",
heideggerianisch
aufgefaßt,
einen geschichtlichen Dialog, ohne dass
man dabei von einem Recht
auf die Differenz sprechen kann, da dies
eine nihilistische Hermeneutik
innerhalb eines auf Institutionen hin
orientierten Denkens bedeutet,
womit
sein anarchistischer Charakter verloren
ginge.
Sützl
zeigt die
Unterschiede zwischen
dieser Position mit Bezug auf die
Kommunikationsethik von Habermas und
Apel, mit ihren idealistischen
Implikationen, sowie auch in bezug auf
die
"Neubeschreibungen" ("redescriptions")
von Rorty, mit ihrem
Imperativ,
dass das "Gespräch weitergehen soll" und,
schließlich, in
bezug
auf Gadamers Ethik der Kontinuität, die
sich als universale
Methode
begreift. Für die nihilistische
Hermeneutik, so Sützl
zusammenfassend,
ist das "Nächste" das Einzige, was wir
haben und kein fernes telos,
das wir mit Hilfe eines technischen
Instrumentalismus erreichen
könnten.
Vattimos Ethik ist eine Ethik der Sorge
und der Aufmerksamkeit. Das
bedeutet
keineswegs, dass sie die Rationalität
ausschließt oder dass
sie eine Apologie des "Irrationalismus"
wäre, wie der Vefasser in
einem dem Thema einer "nicht-gewaltsamen
Rationalität" gewidmeten
Kapitel bemerkt. Im Unterschied zu den reinen
ästhetischen
Auffassungen von Hermeneutik bei Rorty und
Derrida, besteht Vattimo
darauf,
dass der Philosoph eine argumentative
öffentliche Aufgabe
gerade
angesichts der Abschwächung der
Rationalität hat und dass
diese
Aufgabe sich von Gadamers Auffassung
dadurch unterscheidet, dass diese
sich ihres eigenen hermeneutischen
Charakters nicht bewußt ist.
Die
Rationalität von Vattimos Hermeneutik ist
eine partikuläre
Rationalität,
ihres Bezuges mit der Überlieferung bewußt
und ohne
universalistische
Ansprüche. Es handelt sich um eine
"schwache" oder dynamische,
sich
in Übergang befindende Rationalität, die
nicht behaupten
kann,
in sich selbst einen letzten Grund zu
finden, gerade weil sie einen
nicht-gewaltsamen
Weg öffnet.
IV.
Hermeneutik
und Kommunikationstechnologien
Die hermeneutische
Arbeit
ähnelt
der Arbeit des Bibliothekars, der neue
Bücher auswählt,
erwirbt
und ordnet und damit seine Bibliothek
verändert. Diese Metapher
zeigt
auch die Beziehung zwischen dem Denken
Vattimos und den
Kommunikationstechnologien.
Sützl zeigt, wie das globale Projekt
der Informations- und
Kommunikationstechnologien die
Kontrollmöglichkeiten abschwächt,
so dass es zugleich die Gefahr einer
"starken" Einheit und eine Chance
für Freiheit und Pluralität in sich birgt.
Diese doppelte
Natur
entspricht der Natur des Marktes mit seinen
"harten" Aspekten und
seiner
wechselhaften Realität. Heideggers "Gestell"
wird zum Bild und
dieses
wiederum zur Information in den
Kommunikationstechnologien. Dadurch
entsteht
auch die Utopie der "Transparenz" (K.-O.
Apel), die Vattimo — indem er
die verschiedenen Oppositionsbewegungen
berücksichtigt, die in der
Globalisierung eine Gefahr für Freiheit,
Privatheit und Autonomie
sehen —, als ein normatives und nicht als
ein emanzipatorisches Ideal
ansieht.
Die Kommunikationsnetze stellen nicht nur
die Basis für eine
gemeinsame
menschliche Erfahrung dar, sondern sie
ermöglichen zugleich die
Fragmentierung
und die Kontextualisierung. In diesem Sinne
sind sie eine "Verwindung"
der Moderne. Die Möglichkeiten der
Emanzipation bestehen genau,
wie
Sützl zeigt, in einem "relativen 'Chaos'",
in dem eine
Kontrollsituation
mit nicht kontrollierbaren Bereichen
koexistiert. Vattimos
Ästhetik
der Kommunikationstechnologien wurde in den
achtziger Jahren entwickelt
und ist teilweise auf die
Vor-Internet-Periode beschränkt. Der
Autor
zeigt aber die Relevanz dieses Denkens für
die gegenwärtige
Situation.
Im Unterschied
zu
Habermas, der die
"Befreiung der Interpretation"
sucht, handelt es sich für
Vattimo
um eine "Befreiung von der einzigen
Interpretation". Das ist
der
Grund, warum Vattimo den emanzipatorischen
Charakter der
Fiktionalisierung
betont, wodurch er den Konflikt aufzeigen
will, der sich paradoxerweise
in den reality soaps in bezug auf
die Realität offenbart.
Sützl
erörtert auch das Verhältnis von Ästhetik
und
Emanzipation,
indem er Vattimos Kritik an der
metaphysischen Ästhetik mit ihren
Herrschaftsstrukturen im Lichte der
hermeneutischen und nihilistischen
Interpretation Nietzsches, Heideggers und
Benjamins erscheinen
läßt.
Benjamin erlaubt ihm ein Verständnis des
Kunstwerkes jenseits der
klassischen Auffassung als "Ding". Seine
technische und, mehr noch,
seine
informationelle Reproduzierbarkeit
entmaterialisiert das Kunstwerk
und bewirkt auch seine Dislokation. Dies
erlaubt eine Erfahrung der
Abschwächung
des Seins sowie den Prozeß der
Säkularisierung, worauf
Vattimos
"ontologische Ästhetik" hinweist, in der
die Kunst ihre
Authentizität
negiert und sich einer Pluralität von
Kontexten öffnet. Sie
nützt
dabei aktiv die Möglichkeiten der
Techniken der Reproduzierbarkeit
und Diffusion und nimmt an einem
ironischen Spiel in der "Begegnung mit
dem Anderen" teil. Auf diese Weise
eröffnet das Kunstwerk einen
vorläufigen
und flüchtigen Konsens, den Vattimo mit
Heideggers Analysen von
Wahrheit
und Kunst in Beziehung setzt. Für Vattimo
läßt sich
Frieden
oder, in Sützls Worten, "das Friedliche"
("lo pacífico"),
weder
als Ursprung und Schicksal, noch als Kampf
und Konstruktion, sondern
als
Ereignis (nihilistisch) denken, im Rahmen
der ästhetischen
Erfahrung
der Oszillation, und ist verwandt mit
Spiel und Fest.
Schluß
Das vorletzte
Kapitel ist
der Religion
bei Vattimo gewidmet. Im Mittelpunkt steht
die Parallelität
zwischen
der "kenosis", d.h. der Entäußerung
Gottes durch
seine
Inkarnation, und der Abschwächung des Seins.
So gesehen ist die
säkularisierte
religiöse (christliche) Erfahrung eine
eminent nicht-gewaltsame
Erfahrung.
Dies führt zu der Frage des letzten
Kapitels, nämlich: "Eine
Säkularisierung des Friedens?", die der
Verfasser im Sinne eines
Übergangs
von einer metaphysischen zu einer
ästhetischen und
nicht-gewaltsamen
Emanzipation auffaßt. Das bedeutet letztlich
ein Frieden ohne
Utopie. Der Frieden, so verstanden,
ähnelt dem "gemeinen
Frieden"
("la paz de la gente" I. Illich). Er ist
nichts anderes als "das
normale
Leben von örtlichen Gemeinschaften, die ihre
Kultur trotz des
nivellierenden
Entwicklungsprojekts bewahren, das immer in
der Nähe einer offenen
oder strukturellen Gewalt
steht."
Im Unterschied
zu einem
gewissen prä-technologischen
Romantizismus bei Illich, sind für Sützl
die
Kommunikationstechnologien
ein Bestandteil "des normalen Lebens von
örtlichen
Gemeinschaften",
zumindest als Möglichkeit und Chance.
Von diesem sozialen,
zugleich ereignishaften und unvollendeten
Frieden aus läßt
sich
die Gewalt, um es mit Vattimos Worten zu
sprechen, in schwacher Weise
in
Frage stellen und es läßt sich auch,
erneut in schwacher
Weise,
die Frage der Gewalt stellen.
Sützls
Kernthese ist
im Begriff
des "ästhetischen Pazifismus" ausgedrückt.
Die "Emanzipation"
bedeutet dabei eine Alternative zur
"Gewalt", aber im Unterschied zur
traditionellen ethischen oder
positiven Auffassung handelt es
sich bei
Vattimo
um eine Emanzipation, die als ästhetischer
oder negativer
Pazifismus
aufgefaßt wird. Die klassische Alternative
wäre, mit anderen
Worten, keine wahre Alternative, da sie im
Rahmen eines Versuchs der
"positiven"
Überwindung der Metaphysik, auf der Basis
von Idealen,
Fundamenten,
Gründen oder Dogmen, bleiben würde, was
wiederum eine
"gewaltsame"
Position bedeutet.
Letzte
Änderung: 12. Januar er
2017
|