ETHIK IN EUROPA ZWISCHEN FORSCHUNG UND POLITIK 

Rafael Capurro

 
 

 
Vortrag im Rahmen der Abschlußveranstaltung des Verbundprojektes "Europäische Netze" im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen am 29. Oktober 2002. Erschienen in: Gert Kaiser (Hrsg.): Jahrbuch 2002/2003 des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen (wz.nrw.de), Düsseldorf 2003, 201-211.
Siehe auch:
Ethics and Public Policy in Europe. Stefano Rodotà and Paolo Zatti (Eds.): Trattato di Biodiritto. Vol.1 Stefano Rodotà and Mariachiara Talllacchini (Eds.): Ambito e fonti del biodiritto. Milano: Giuffrè 2010, 849-860.
 

 

INHALT

Einleitung 

I. Ethik in der Politik 
II. Ethik in Europa zwischen Forschung und Politik 

Ausblick 

Literaturangaben

 
 
 

Einleitung

Das Verhältnis zwischen Ethik, Recht und Politik hat eine lange Tradition in der abendländischen Philosophie. In grober Annäherung läßt sich sagen, dass die griechische Antike sowohl in der platonischen als auch in der aristotelischen Tradition auf eine differenzierte Einheit orientiert war, während die Neuzeit eine Spaltung zwischen Recht und Moral herbeiführte. 

So spricht Platon in den "Gesetzen" mehrmals über die Nützlichkeit von "Einleitungen" (proimia), wodurch die Anordnung, die durch Androhung  (bia) durchgesetzt werden soll, in einen sittlichen Kontext gestellt wird (Nom. 722 d). Die "Proömien" sollen den Adressaten überreden (peitho), dem Gesetz freiwillig zu gehorchen. Platons Dialog selbst geht in Form eines nicht-juridischen und gesetzeskritischen Diskurses über die Gesetze hinaus, indem er nicht auf einzelne Gesetzesregelungen, sondern auf die Legitimationsgrundlagen des Strafrechts sowie auf die Natur des Gerechten überhaupt hinzielt. Dadurch kommt auch das spezifische platonische Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Recht oder zwischen Philosophie und Politik zum Ausdruck (Thanassas 2002). Auch Aristoteles hat besonderen Wert darauf gelegt, die Verwirklichung der Tugend im Rahmen der polis aufzufassen, ohne sie mit dieser gleichzusetzen. Die politische und gesetzgeberische Praxis erfordert für Aristoteles eingehende ethische Beratung, die auf der Basis von Moralität (ethos) stattfindet (Capurro 2002).  

Die neuzeitliche Spaltung zwischen Recht, Politik und Moral läßt sich sowohl in der angelsächsischen Tradition seit Hobbes als auch in der Kontinentalphilosophie sei Kant feststellen. Die Hegelsche Tradition bis hin zu Habermas sowie der Pragmatismus in Anschluß an Pierce und Rorty suchen unterschiedliche Wege der Vermittlung zwischen den Sphären des Rechts, der Politik und der bürgerlichen Gesellschaft (civil society), nicht zuletzt auf der Basis von Massenmedien und Internet. Wichtig scheint es mir dabei, dass der gegenwärtig politisch institutionalisierte ethische Diskurs sich in einem Spannungsverhältnis zur Politik, zur Moral, zum Recht sowie zu den Massenmedien versteht. Wie gestaltet sich dieses Spannungsverhältnis in Europa?

I. Ethik in der Politik

Ethik in der Politik hat eine öffentliche Beratungsfunktion und zwar im Hinblick auf jene moralischen Fundamente menschlichen Handelns, die aufgrund ihrer Allgemeinheit einer Deutung oder Applikation auf den Einzelfall bedürfen. Das gilt auch in bezug auf jene Handlungsmaximen die in Form von Gesetzen unter Strafandrohung zwingend sind. Das ist keine selbstverständliche These, zumal wenn man diese Beratungstätigkeit nicht nur im herkömmlichen akademischen Sinne, als indirekte meistens schriftlich vermittelte Reflexion also, sondern als politisch institutionalisierte Beratung versteht.  

Mehrere Einwände lassen sich gegen eine solche Beratungsart erheben, auf die hier kurz eingegangen werden soll. Zuallererst die Vorstellung von Ethik-Fachleuten selbst. Sie klingt moralisch anmaßend. Dazu wäre zu sagen, dass hier eine Verwechslung von Ethik und Moral vorliegt. Ethik im Sinne von Reflexion über Moral schreibt nicht vor, sondern sucht plausible Gründe, warum in einer bestimmten Situation eine moralische und/oder rechtliche Maxime so oder so zu verstehen wäre, wenn bestimmte Handlungsziele erzielt oder verhindert werden sollen und welche Gegengründe dann dafür oder dagegen sprechen. Sie ist also, um es Kantisch auszudrücken, reflektierender und nicht bestimmender Natur. Sodann könnte man einwenden, dass eine solche Tätigkeit einschließlich der Gesetzgebung im Falle von Demokratien ohnehin im Parlament geschieht und geschehen soll. Dazu ist zu sagen, dass das selbstverständlich für alle Arten von Problemen, die einer gesetzgeberischen und politischen Lösung bedürfen, gilt. Dennoch bedarf die Politik in vielen Fällen einer außerparlamentarischen Beratung, die zugleich eine öffentliche Aufklärungsfunktion erfüllen soll.

Dies scheint auch bei moralischen Fragen der Fall zu sein, zumal wenn sie sich auf komplexe nicht zuletzt durch Wissenschaft und Technik mit verursachten Möglichkeiten beziehen, die weitreichende soziale Folgen haben. Ferner könnte der Einwand erhoben werden, dass die Tätigkeit der Applikation von gesetzlichen Maximen im Gerichtssaal stattzufinden hat. Das schließt aber wiederum nicht aus, das im Vorfeld über diese Maxime reflektiert werden könnte und sollte. Schließlich könnte der Einwand erhoben werden, dass eine solche kritische Instanz in einer Demokratie durch die freie Presse und die elektronischen Massenmedien garantiert ist. Dazu ist zu sagen, dass eine Demokratie eine Vielfalt von kritischen Instanzen zuläßt, die sich nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern auch begrenzen. Die Massenmedien sind wiederum per se keine moralische Instanz.

Natürlich ist eine politische Institutionalisierung ethischer Reflexion nicht ohne Risiken, wie die Diskussion in Deutschland in Zusammenhang mit der Einrichtung des Nationalen Ethikrates neben der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" zeigte. Der Verdacht einer politischen Instrumentalisierung ethischer Argumentation liegt nahe und kann nur durch die Praxis widerlegt werden. Ähnliches gilt für das Problem einer Verrechtlichung der Ethik, d.h. wenn das Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Recht nicht ausgehalten und thematisiert wird. Schließlich könnten solche Beratungsgremien eine ausdrücklich oder unausdrücklich geltende Moral lediglich sanktionieren und somit die Differenz zwischen Ethik und Moral aufheben. Die Tatsache aber, dass eine Institutionalisierung ethischer Reflexion in vielen demokratischen Ländern seit einigen Jahren stattgefunden hat, ist m.E. darauf zurückzuführen, dass die Politik einen Reflexionsbedarf angemeldet hat, der sich zunächst vor allem in Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten der Biotechnologie ergab. Mit anderen Worten, der Bedarf an ethischer Reflexion entsteht spätestens dann, wenn die moralischen Grundlagen einer Gesellschaft ins Wanken geraten. Das bedeutet, dass Ethik gerade dann sich nicht als Garant der (nicht mehr) geltenden Moral versteht, sondern eine Anstrengung der Reflexion unternimmt, um einer sich verändernden Moral neue Perspektiven aufzuzeigen. Eine solche institutionalisierte Beratung zielt also nicht auf eine Moralisierung der Politik ab. Das wäre ein "reflexionsmoralischer Fehlschluß" (Vollrath 1996). Sie soll statt dessen, wie Marcus Düwell mit Recht betont, "moralische Argumentationen im Hinblick auf die Regelung neuer Technologien transparent machen und Begründungsmöglichkeiten für moralische-normative Beurteilungen" skizzieren nicht zuletzt durch die öffentliche Präsenz ihrer Mitglieder sowie ihrer Beratungsergebnisse. Was sie aber nicht soll, ist eine parlamentarische Entscheidung vorwegnehmen (Düwell 2002). 

 

II. Ethik in Europa zwischen Forschung und Politik

Nicht nur fast alle europäischen Länder – darunter Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien  – haben eigene Ethikräte, sondern auch in der EU-Kommission existiert seit zehn Jahren die "European Group on Ethics in Science and New Technologies" (EGE), die 1991 als "Group of Advisers on the Ethical Implications of Biotechnology" (GAEIB) gegründet wurde. Romano Prodi hat die Gruppe, die aus zwölf Mitgliedern besteht, auf vier Jahre berufen (2001-2004).

Die EGE ist, laut Satzung, "an independent, pluralist and multidisciplinary body which advises the European Commission on ethical aspects of science and new technologies in connection with the preparation and implementation of Community legislation or policies." (EGE) Dafür bereitet die aus zwölf Mitgliedern bestehende Gruppe im Antrag der Kommission oder auf eigener Initiative sogenannte "Opinions", wobei auch das Parlament und der Europäische Rat Vorschläge unterbreiten können. Die zuletzt erarbeitete "Opinion" (7/5/2002) befaßte sich mit dem Thema: "Ethische Aspekte der Patentierung von Erfindungen im Zusammenhang mit menschlichen Stammzellen".

Die am 7. Dezember 2000 verabschiedete Charta der Europäischen Grundrechte ist ein Meilenstein in der europäischen Geschichte. Die EGE hat wesentlich zu der Formulierung z.B. des Artikel 3 (Integrität der Person) beigetragen. In diesem Artikel wird generell das Prinzip der Achtung vor der physischen und psychischen Integrität der Person festgelegt und zugleich auf folgende Aspekte der medizinischen und biologischen Forschung konkretisiert: informed consent, Verbot eugenischer Praktiken, Verbot der Kommerzialisierung des menschlichen Leibes und seiner Teile, Verbot des reproduktiven Klonens. Wenn die Charta zugleich im Artikel 22 das Prinzip der Achtung kultureller, religiöser und linguistischer Unterschiede aufstellt, dann bedeutet die Formulierung im Artikel 3 eine gemeinsame moralische Basis europäischen Forschungshandelns. Natürlich ist damit die Suche nach einer "europäischen Seele", wie Jerôme Vignon beim "European Ethics Summit" am 30. August 2002 in Brüssel bemerkte, eine offene Aufgabe, die nicht mit einem moralischen Minimalkonsens erledigt ist (European Ethics Summit 2002).

Die Bedeutung ethischer Prinzipien in Zusammenhang mit dem 6. Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft kommt im Beschluß des Europäischen Parlaments und des Rates deutlich zum Ausdruck. Im Artikel 3 heißt es:  

"Bei allen Forschungsmaßnahmen innerhalb des Sechsten Rahmenprogramms müssen ethische Grundprinzipien beachtet werden." (EU 2002)
Im Anhang I "Wissenschaftliche und technologische Ziele, Grundzüge und der Massnahmen und Prioritäten" wird dies näher bestimmt:
"Bei der Durchführung dieses Programms und bei den entsprechenden Forschungstätigkeiten sind die ethischen Grundprinzipien einschließlich des Tierschutzes zu beachten. Diese umfassen unter anderem die Prinzipien, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben, den Schutz der Menschenwürde und des menschlichen Lebens, den Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre sowie den Umweltschutz in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und, soweit zutreffend, internationale Übereinkünfte; hier sind beispielsweise zu nennen: die Erklärung von Helsinki, das am 4. April 1997 in Oviedo unterzeichnete Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin und das am 12. Januar 1998 in Paris unterzeichnete Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von Menschen, das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und die Menschenrechte und die einschlägigen Resolutionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Protokoll von Amsterdam über den Tierschutz sowie geltende Rechts- und Verwaltungsvorschriften und ethische Leitlinien der Länder, in denen die Forschungstätigkeiten durchgeführt werden." (ebda.)
In einer Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen mit dem Titel "Hin zu einem europäischen Forschungsraum" vom 18. Januar 2000 wird ein "Raum der gemeinsamen Werte" gefordert. Zwar gelten in ganz Europa "im großen und ganzen" die gleichen Werte und Grundsätze, diese werden jedoch in der Praxis  
"nicht überall in der gleichen Weise umgesetzt. So findet man zu ethischen Fragen im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt von Land zu Land unterschiedliche Standpunkte vor." (Kommission 2000, S. 24)
Die Erklärung dafür findet die Kommission "in den bestehenden kulturellen Unterschieden und unterschiedlich strengen moralischen Maßstäben, die in jedem Fall respektiert werden müssen." (ebda.) Mit anderen Worten, die Kommission stellt fest, dass zwischen der Allgemeinheit ethischer oder, besser, moralischer Standards, ein ethischer Reflexionsprozeß vonnöten ist, bei dem unter Umständen diese Unterschiede zu wahren sind. Zugleich heißt es aber:  
"Auf der anderen Seite ist es jedoch problematisch, wenn die Meinungen zu weit auseinandergehen. Daher muß alles daran gesetzt werden, um insbesondere in den Bereichen, in denen Programme auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden sollen, einen gemeinsamen Nenner zu finden." (ebda.)
Wie ist diese Arbeit der Applikation, d.h. der Deutung und Anwendung moralischer Maßstäbe im Rahmen eines ethischen Diskurses konkret möglich? Die Kommission weist in diesem Zusammenhang auf zwei Wege hin. Da sind zum einen die verschiedenen Initiativen der Parlamente, den Dialog zwischen Bürgern, Forschern, Experten, Verantwortlichen aus der Industrie und den politischen Entscheidungsträgern zu fördern, z.B. in Form von "Bürgerkonferenzen". Zum anderen schlägt die Kommission vor, die Verbindungen zwischen den Ethikkommissionen in den Mitgliedstaaten und jener auf EU-Ebene, nämlich der "European Group on Ethics in Science and New Technologies" (EGE), zu verstärken. Schließlich geht es darum, die unterschiedlichen ethischen Maßstäbe bei Programmen der Gemeinschaft und bei denen der Mitgliedstaaten zu vergleichen und möglichst anzugleichen, "wobei auf die Vielfalt Rücksicht zu nehmen ist." (ebda.) Diese vorsichtigen Formulierungen bei denen ein Balanceakt zwischen gemeinsamen moralischen Standards und Achtung vor der Vielfalt deutet darauf hin, dass die Kommission die Aufgabe ethischer Reflexion nicht mit einem wie auch immer gearteten Moralkodex abschließen, sondern solche Kodifizierungen in einen dynamischen Prozeß einbinden will, der als ethischer Diskurs Teil von Forschung und Politik ist oder besser gesagt, der zwischen Forschung und Politik angesiedelt ist.  

Was auf der Ebene der Kommission durch die EGE sowie im Bereich der Generaldirektion Forschung und zwischen diesen beiden Institutionen stattfindet, läßt sich, mutatis mutandis, auf die nationalen Zuständigkeiten übertragen. So fand zum Beispiel am 27. September 2001 ein "Joint Workshop of the European Commission Services and the European Group on Ethics" zum Thema "'ETHICS' in the RTD Framework Programme" statt,  dem eine umfangreiche Dokumentation zugrunde lag und bei dem sowohl eine gegenseitige Unterrichtung als auch künftige gemeinsame Aktivitäten, wie zum Beispiel die Vernetzung ethischer Gremien, die Stärkung der Europäischen Ethikgruppe, die Erarbeitung gemeinsamer Grundsätze, die Koordination von Dokumentationsaktivitäten, sowie die Erforschung der Rolle, die solche Ethik-Gremien im demokratischen Prozeß spielen sollte, besprochen wurden (European Commission - Research Directorate-General 2001).  

Im 5. Forschungsprogramm war ethische Beratung ("ethical assessment") im Bereich "Lebensqualität" in Form eines Drei-Stufen-Prozesses vorgesehen, nämlich:

1) Ethische Analyse ("ethical reviews") 
2) Wirkungsforschung  ("impact assessment of projects") 
3) Langfristige Konsequenzen und öffentlicher Dialog ("long-term consequences and public dialogue")  

Das neue Rahmenprogramm will dieses Modell auf andere Bereiche ausdehnen. Ferner soll mit einer neuen Unit "Ethics in Science and Research" ein interface zwischen Wissenschaft und Gesellschaft geschaffen werden, bei dem ethische Beratung eine größere Unabhängigkeit gegenüber den einzelnen Programmen genießt. Inzwischen sind "ethical reviews" für die Programme "Competitive and sustainable Growth", "Human training and mobility" und "International co-operation" entwickelt worden. Um die Vielfalt moralischer Wertmaßstäbe zu berücksichtigen, wurde eine Expertendatenbank angelegt, die auch Kandidaten aus Entwicklungsländern berücksichtigt (European Commission - Research Directorate-General 2001, 9-12). 

Wörtlich heißt es im 6. Forschungsprogramm: 

"The principle of sustainable development, socio-economic, ethical and wider cultural aspects of the envisaged activities, and gender equality, will be duly taken into account, where relevant for the activity concerned" (EU 2002/EC, S. 6).
Und ferner in bezug auf den Bereich "Wissenschaft und Gesellschaft":
"responsible use of scientific and technological progress, in harmony with fundamental ethical values: assessment, management and communication of uncertainty and risk; expertise, analysis and support to best practice in the application of the precautionary principle in different areas of policy making: European reference system; research on ethics in relation to science, technology developments and their applications." (EU 2002/EC, S. 24).
Die DG Research finanziert seit etwa zehn Jahren, genauer: seit dem 3. Forschungsprogramm, als einzige Institution in Europa gemeinsame Forschungsprojekte in der Bioethik mit der expliziten Bedingung der Teilnahme von Wissenschaftlern aus mehreren Ländern. Im 6. Rahmenprogramm wird es verschiedene Möglichkeiten geben, sich als Ethik-Forscher zu beteiligen und zwar sowohl innerhalb der großen integrierten Projekte als auch der Netzwerke, wo Ethik-Forschung im Rahmen des Schwerpunktes "Wissenschaft und Gesellschaft" stattfindet. Schließlich auch als Gutachter für Fragen der Ethik in den spezifischen Gutachter-Runden für Forschungsprojekte, die ethisch sensible Methoden anwenden.  

In Vorbereitung  des 6. Forschungsprogramms sind derzeit folgende Ausschreibungen im Bereich "Ethik und Forschung" offen: 

  • Bereitstellung einer Studie über einzelstaatliche,  internationale und professionelle Schulungsmaterialien zu ethischen  Fragen in der Forschung (Dokumentennummer 136141-2002)
  • Bereitstellung von Studien über ethische Verhaltensnormen in  der Forschung (Dokumentennummer 136144-2002)
  • Untersuchung von Schulungsprogrammen im Bereich "Ethik in der Forschung", die in wissenschaftlichen Fakultäten in ganz  Europa durchgeführt werden (Dokumentennummer 136146-2002)
  • Unterstützung zur Erstellung eines europäischen Verzeichnisses lokaler Ethik-Gremien  (Dokumentennummer 136147-2002)
  • Unterstützung zur Erstellung einer Studie über lokale Ethik-Gremien im Bereich Tierhaltung ("animal welfare") (Dokumentennummer 136142-2002)


Ausblick

Die Stellung der Ethik zwischen Forschung und Politik in Europa gewinnt an Gestalt und an Bedeutung. Das gilt für die Aktivitäten innerhalb der Kommission, zwischen dieser und den Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten untereinander. Im Aktionsplan "Wissenschaft und Gesellschaft" heißt es: 
"Die Europäische Gruppe für Ethik hat im Hinblick auf ethische Fragen in der Wissenschaft, die kulturellen sensitiv sind, Orientierungshilfe für die Gemeinschaft geleistet. Die Freiheit der Wissenschaft und ethische Erwägungen in der Forschung, die in der Charta der Grundrechte verankert sind, müssen eingehalten und umgesetzt werden, nach Möglichkeit auch in anderen Teilen der Welt. Daher sollte die deutsch-französische Initiative für ein weltweites Übereinkommen für das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen (Artikel 3 der Charta), mit der die Vereinten Nationen befaßt wurden, unterstützt werden." (Europäische Kommission, Aktionsplan 2002)
Der Nationale Ethikrat der Bundesrepublik Deutschland und der Nationale Beratende Ethikrat der Französischen Republik in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigem Amt, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Deutschen Stiftung für Internationale Entwicklung (DSE) veranstalteten  am 3.-4. Juni 2002 einen interkulturellen Dialog zum Thema: "Auf dem Weg zu einer globalen Bioethik?" an dem etwa siebzig Wissenschaftler und Politiker aus fünfzehn Ländern teilnahmen (Auswärtiges Amt 2002). Im "final statement" wurde ein Konsens in wichtigen Fragen der Bioethik, wie zum Beispiel beim Verbot des reproduktiven Klonens, erzielt, zugleich aber kamen unterschiedliche kulturelle und moralische Traditionen deutlich zum Ausdruck. In einzelnen Gesprächskreisen wurde auf die Gefahr eines moralischen Kolonialismus oder zumindest auf die Möglichkeit einer moralischen Bevormundung hingewiesen. 

Vor diesem Hintergrund läßt sich die ethische Dimension in der Wissenschaft und in den neuen Technologien so wie sie im Aktionsplan der Europäischen Kommission zum Ausdruck kommt, als vorbildlich bezeichnen. Folgende konkrete Aktionen sind vorgesehen: 

"Aktion 29: Es wird eine Informations- und Dokumentationsstelle aufgebaut werden, die aufzeigen und analysieren soll, wie sich ethische Fragen in der Wissenschaft national und international entwickeln." 

"Aktion 30: Zwischen Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen, Wissenschaftskreisen, Religionsgruppen, kulturellen Gruppen, philosophischen Schulen und anderen interessierten Gruppen wird ein offener Dialog etabliert werden, der den Meinungs- und Gedankenaustausch zu einer Reihe kritischer Fragen fördert, z.B. zu den ethischen Auswirkungen neuer Technologien auf künftige Generationen und auf die Würde und Unversehrtheit des Menschen, zur "Info-Ethik" und zur Nachhaltigkeit. Verschiedene Verfahren (Fokus-Gruppen, Umfragen, Internet-Diskussionen, Workshops, institutionalisierte Foren) werden dabei zum Tragen kommen." 

"Aktion 31: Modell-Lehrgänge und Ausbildungsmodelle werden entwickelt werden, um Forscher im Bereich der Ethik zu sensibilisieren." 

"Aktion 32: Netzwerke von Ethik-Ausschüssen werden sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene gefördert werden. Sie sollen eine engere Zusammenarbeit und einen effektiveren Erfahrungsaustausch und Austausch vorbildlicher Verfahrensweisen ermöglichen." 

"Aktion 33: Durch eine Reihe von Konferenzen und Workshops wird ein internationaler Dialog über ethische Grundsätze geführt werden. Wichtiges Ziel dabei wird es sein, in den Entwicklungsländern Kapazitäten für die ethische Überprüfung aufzubauen." 

"Aktion 34: Netzwerke von Ausschüssen für den Tierschutz und die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern im Bereich des Tierschutzes werden gefördert werden, um die Umsetzung der europäischen Rechtsvorschriften über den Tierschutz in der Forschung zu unterstützen." (Europäische Kommission, Aktionsplan 2002, 21-22)
 

 
 
 

Literatur

Aristotle (1950), The Politics of Aristotle, Ed. W. L. Newman. Oxford University Press. 

Aristotle (1962), Ethica Nicomachea, Ed. I. Bywater. Oxford University Press. 

Auswärtiges Amt (2002), Auf dem Weg zu einer globalen Bioethik? Vers une mondialisation de la bioéthique? Towards a global bioethic? Berlin 3./4.6.2002.  
http://www.auswaertiges-amt.de  

Bien, G. (1985), Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles. Karl Alber Verlag. 

Bubner, R. (2002), Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie. Suhrkamp Verlag. 

Capurro, R. (2002), Ethics and Public Policy within a Digital Environment. In: I. Alvarez, T. W. Bynum, J.A. de Assis Lopes, S. Rogerson (Eds.): Proceedings of the Sixth International Conference: The Transformation of Organisations in the Information Age: Social and Ethical Implications, ETHICOMP 2002, Lissabon 13-15 November 2002. Lisboa: Universidade Lusíada, 2002, 319-327. 
http://www.capurro.de/ethicomp02.html 

Capurro, R. (2003), Ethik im Netz. Stuttgart: Franz Steiner Verlag  

Capurro, R. (2000), Ethical Challenges of the Information Society in the 21st Century. International Information & Library Review 32, 257-276.
http://www.capurro.de/EEI21.htm  

Capurro, R. (2000a), Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit.  
http://www.capurro.de/zkmforum.htm  

Düwell, M. (2002), Medizinethik in gesellschaftlicher und politischer Diskussion. Ethik in der Medizin 14, 1-2. 

EGE  (2002): European Group on Ethics in Science and New Technologies 
- General report on the activities of the EGE 1998-2000  
- Report 23/05/2000 Citizens Rights and New Technologies: A European Challenge. Report on the Charter on fundamental rights related to technological innovation requested by President of the Commission, Romano Prodi. 
- Genetic testing in the workplace. Proceedings of the Round Table Debate held in Brussels on 6 March 2000.  
Opinions: 
n. 1: The ethical implications of the use of performance-enhancers in agriculture and fisheries (12/03/1993) 
n. 2: Products derived from human blood or human plasma (12/03/1993) 
n. 3: Opinion on ethical questions arising from the Commission proposal for a Council directive for legal protection of biotechnological inventions (30/09/1993) 
n. 4: The ethical implications of gene therapy (13/12/1994) 
n. 5: Ethical aspects of the labelling of the food derived from modern biotechnology (05/05/1995) 
n. 6: Ethical aspects of prenatal diagnosis (20/02/1996) 
n. 7: Ethical aspects of genetic modification of animals (21/05/1996) 
n. 8: Ethical aspects of patenting inventions involving elements of human origin (25/09/1996) 
n. 9: Ethical aspects of cloning techniques (28/05/1997) 
n. 10: Ethical aspects of the 5th Research Framework Programme (11/12/1997) 
n. 11: Ethical aspects of human tissue banking (21/07/1998) 
n. 12: Ethical aspects of research involving the use of human embryo in the context of the 5th framework programme (23/11/1998) 
n. 13: Ethical issues of healthcare in the information society (30/07/1999) 
n. 14: Ethical aspects arising from doping in sport (14/11/1999) 
n. 15: Ethical aspects of human stem cell research and use (14/11/2000) 
n. 16: Ethical aspects of  patenting inventions involving human stem cells (7/5/2002) 

European Commission - Research Directorate-General (2001), 'ETHICS' in the RTD Framework Programmes. Brussels  (4 Bde.) 

Europäische Kommission (2002), Aktionsplan Wissenschaft und Gesellschaft. Europäischer Forschungsraum. 

Europäische Union (2002), Beschluß Nr. 2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über das sechste Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Forschung, technologischen Entwicklung und Demonstration als Beitrag zur Verwirklichung des europäischen Forschungsraums und zur Innovation (2002-2006). PE-CONS 3635/02, Luxemburg, 27. Juni 2002. 

European Ethics Summit (2002), "Sustaining Humanity Beyond Humanism", European Parliament, Brussels, 29-30 August 2002.  
http://www.kuleuven.ac.be/een/Contents/brussels3.html 

Habermas, J. (1998), Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Suhrkamp Verlag. 

Hegel, G. W. F. (1976), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Suhrkamp Verlag. 

Hobbes, Th. (1985), Leviathan, Ed. C. B. Macpherson, Penguin Books. 

Kant, I. (1975), Metaphysik der Sitten. Suhrkamp Verlag. 

Kant, I. (1964), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. In: Kant Werke, Vol. 9, Suhrkamp Verlag. 

Kant, I. (1954), Was heißt: sich im Denken orientieren?. In: Kant Werke, Vol. 5, Suhrkamp Verlag. 

Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2000), Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen "Hin zu einem europäischen Forschungsraum" 18. Januar 2000, KOM (2000) 6. 

Marx, K., Engels, F. (1970), Manifest der Kommunistischen Partei. Hist.-kritische Gesamtausgabe: Werke, Schriften, Briefe, Abt. 1, Bd. VI, Berlin. 

Rawls, J. (1971), A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 

Thanassas, P. (2002), Platons letzte Schriftkritik. In: Allgemeine Zt. f. Philosophie, Jg. 27, 2, 95-110. 

Vollrath, E. (1996), Der reflexionsmoralische Fehlschluß. In:  Kurt Bayertz Ed.: Politik und Ethik. Stuttgart: Reclam.

 

Letzte Änderung - last update: 20. August 2017
 
 
 
    

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