NIETZSCHE UND DIE NS-INTELLEKTUELLEN


Rafael Capurro
  

 

 
 
Rezension von Giogio PENZO, Il superamento di Zarathustra: Nietzsche e il nazionalsocialismo, Armando, Roma 1987 (Filosofia e problemi d'oggi, 7), 360 Seiten. Erschienen in: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.): Schopenhauer in der Postmoderne, Wien: Passagen Verlag 1989, 347-349.




Unter dem Titel Die Männer in Reih und Glied kommen aus dem Tritt besprach kürzlich Bernd Nietzschke die Schwierigkeiten, welche die DDR mit den "geistigen Urhebern für Antihumanismus im 19. Jahrhundert", nämlich Schopenhauer und Nietzsche, empfindet. (1) Dabei mangelt es aber nicht ganz an kritischen Stimmen (wie denen Heinz Pepperles und Friedrich Tombergs), die eine faschistische Zurechtlegung Nietzsches (und Schopenhauers?) in Frage stellen. Ihnen gegenüber scheinen  andere (etwa Wolfgang Harich und Manfred Buhr) zu stehen, welche Nietzsche auf seine Wirkungsgeschichte im Faschismus festlegen wollen. (2) Eine ähnliche Kontroverse scheint mir im Westen auch in bezug auf Nietzsche (und Heidegger) zwischen Verteidigern der "Moderne" und Befürwortern der "Postmoderne" stattfindet. (3)

Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Monographie wie die Giorgio Penzos (4) eine besondere Aktualität und Bedeutung. Bei diesem Thema, nämlich Die Überwindung Zarathustras: Nietzsche und der Nationalsozialismus, denkt man natürlich zunächst and die "ontologische" bzw. metaphysische Lektüre Nietzsches, die Martin Heidegger und Karl Jaspers in den 30er Jahren durchführten. Spätere Deutungen, wie etwa die Walter Kaufmanns, (15) tragen ebenfalls zur Zerstörung der "Nietzsche-Legende", also der Art und Weise, wie Nietzsche von den Faschisten "gelesen" wurde, bei. Wie wurde aber Nietzsche tatsächlich von den NS-Intellektuellen gelesen? Die geläufige Meinung ist vermutlich, daß Nietzsches Denken und insbesondere sein Mythos des "Übermenschen" von den Nazis stets mißbraucht wurde. Was wissen wir aber überhaupt von den NS-Intellektuellen? Wie  wurde die Ideologie von den "Philosophen" formuliert? Gab es unterschiedliche Strömungen, oder marschierten auch hier alle "in Reih und Glied"? Was verbirgt sich hinter dem Etikett "NS-Intellektueller"? Mir scheint, daß wir hierüber einiges an Verdeckungen und "Erinnerungslücken" aufzuklären haben, wollen wir einen sachlichen Boden nicht nur im Hinblick auf Nietzsche, sondern auch etwa auf Heidegger gewinnen.

Penzo geht der Geschichte der Nietzsche-Rezeption seit dem Ende des 19. Jahrhunderts am Leitfaden der dabei stattfindenden Ausformung des Mythos des "Übermenschen" nach, wobei er sich eben mit den "Intellektuellen", die der Partei mehr oder weniger nahe standen, auseinandersetzt und "Pseudo-Intellektuelle" (etwa die unmittelbaren Kulturpropaganda) außer acht läßt. Im ersten Teil ("Die Bildung des Mythos des Übermenschen") geht es um die biologistische (an Darwin angelehnte) Deutung des Lebensbegriffs, dessen Verzerrung zur Mißdeutung des Existentialismus bzw. zur Polemik gegen die Existenzphilosophie sowie zur Angleichung von "Erziehung" und "Züchtung" führte. (5). In diesem Zusammenhang kommen sowohl positive (z.B. Rudolf Steiner) als auch negative (z.B. Eduard v. Hartmann) Deutungen dieses Mythos sowie seine Einbettung "zwischen Lebensphilosophie und Existentialismus" (Hans Vaihinger, Georg Simmel, Ernst Bertram, Ludwig Klages u.a.) zur Sprache. Im zweiten, besonders bedeutsamen, weil in bezug auf die NS-Intellektuellen "aufdeckenden" Teil ("Die Überwindung des Mythos des Übermenschen") geht es Penzo um den Prozeß der Mythisierung bzw. partiellen oder sogar vollständigen Entmythisierung des "Übermenschen" seitens der Nazi-Ideologen. so zunächst durch Alfred Baeumler, der Nietzsches Wille zur Macht  politisch mißdeutet (worauf bereits Heidegger aufmerksam machte), sich aber bewußt ist, daß die Nietzschesche Auffassung des Lebens sich nicht auf Biologie und Rasse eindeutig zurückführen läßt. Dann durch Alfred Rosenberg, den, nach Penzo, offiziellen Theoretiker des Nationalsozialismus, der in seinem von Hitler gerühmten Buch Der Mythos des 20. Jahrhunderts (München 1930) Nietzsche kaum erwähnt. Nietzsche kommt dabei lediglich im Zusammenhang mit "Boden" und nicht mit den Kernelementen des germanischen Mythos, nämlich "Blut" und "Rasse" (von wo aus der Antisemitismus seine "Rechtfertigung" nimmt), vor. Nietzsche wurde, so Penzo, von der Partei wegen seiner Popularität "ertragen" und bald von anderen "Dichtern" (wie etwa Dietrich Eckart) und "Denkern" ersetzt. (219). Die Wurzeln des "germanischen Mythos" sind in der Biologie (J. A. Gobineau) bzw. in der Mystifizierung des "Volkes" (R. Wagner, H. St. Chamberlain) zu finden.

Penzo schildert die Grundzüge der romantischen "Deutschen Bewegung": ihre Ursprünge in Fichtes Reden an die deutsche Nation, ihre Ausformungen bei Literaten bzw. Intellektuellen wie Hugo von Hofmannsthal, Oswald Spengler sowie Ernst und Friedrich Georg Jünger bis hin zu den Deformationen von E. J. Jung und A. Moeller van den Bruck. Das Charakteristische der Mißdeutung seitens der NS-Ideologie ist aber, daß  die "romantische" bzw. religiöse Dimension des Denkens Nietzsches wegfällt. Es geht, mit anderen Worten, um die Entmythisierung der Denkfigur des "Übermenschen". Das romantische Thema des "deutschen Schicksals" gewinnt bei Friedrich Würzbach in bezug auf Nietzsche deutliche nationalistische Züge, die aber noch im Bereich der wenn nicht religiösen so doch politischen "Romantik" bleiben. Für Günther Lutz stattdessen, als überzeugtem Nationalsozialisten, geht es um eine biologisch-anthropologische (Miß-)Deutung Nietzsches, im Sinne der NS-Politik (Krieg) und -"Kultur" (Germanisierung, Züchtung), die er den Interpretationen Heideggers und Jaspers' gegenüberstellt. Auf dieser Basis beruhen auch, so Penzo, die "fanatischen Lektüren" des "Übermenschen" von G. Scheuffler (der u.a. Nietzsches "Dekadenz-Theorie" als antisemitisch mißdeutet), Richard Öhler, Walter Spethmann und Johannes Müller-Rathenow (die in Hitler die Verwirklichung des "Übermenschen" sehen). Ferner stellt Penzo Beispiele für die Entmythisierung des "Übermenschen" im Bereich der Rechtsphilosophie (Friedrich Mess, Julius Binder) vor. Dabei werden vor allem die "individualistischen" und "anarchischen" Züge Nietzsches als Grenze zur NS-"Rechtsauffassusng" herausgestellt. Nicht Nietzsche, sondern Hegel, so Penzo im Anschluß an Hubert Kiesewetters Von Hegel zu Hitler, war für die Nazi-"Rechtsphilosophen" bestimmend. Nietzsches "Übermensch" wird auch bei einen Ideologen aus der "Baeumler Schule" nur teilweise entmythisiert. So z.B. bei Ernst Horneffer, der in Nietzsches "Übermensch" (und in seiner "Leistungsethik") zwar den "Vorboten der Gegenwart" (1934) sieht, zugleich aber die religiöse Dimension dieses Mythos betont: Zarathustra ist kein politischere, sondern ein ethischer Prophet. Sein Ideal der "Selbstbehauptung", den Horneffer mit Kant in Verbindung setzt, wird aber, wenn der dabei noch herrschende "romantische Begriff der "Persönlichkeit" "überwunden" wird,  zum Sinnbild des Ideals des deutschen Volkes im Dritten Reich. Hans Heyse, der eine "Metaphysik des "Reichs" entwickelt, sieht in Nietzsche den Gegner des Christentums. Für Heinrich Härte ist Nietzsche ein politischer Denker, der das "christlich-jüdische" Gleichheitsprinzip in Frage stellte. Ihm "fehlten" aber der biologische Gesichtspunkt des Volkes als "Rasse", die NS-Auffassung von "Demokratie" und "Führerprinzip", die Idee der Herrschaft der germanischen Rasse in einer europäischen Einheit u.a.m. Für Ernst Krieck, der das "Leben" als Grundprinzip der NS-Ideologie betrachtet, bleibt Nietzsches Wille zur Macht –  wegen des schweizerischen Einflusses (J. Burckhardt) – zwischen Germanentum und Europa gespalten. Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsches "Übermensch" und die Existenzphilosophie sind für Krieck "nihilistisch". Erwähnenswert scheint mir in diesem Zusammenhang Kriecks Urteil über Heidegger: "Deine Sprache verrät dich, Galiläer!" (16

Im letzten Kapitel bringt Penzo Beispele (Kurt Hildebrandt, Hans Göbel, Christoph Steding, Kurt Algermissen) einer totalen Entmythisierung des "Übermenschen" bzw. der Unmöglichkeit eines Dialogs zwischen Nietzsche und der NS-Ideologie. Die Begründung liegt z.B. bei Göbel darin, daß zwischen Hitler und der protestantischen Kirche eine "perfekte Harmonie" herrscht, während Nietzsche sowohl die Kirche und auch das deutsche Volk kritisiert!

Fazit: Die Entmythisierung bzw. Entnazifizierung Nietzsches begann nicht etwa nach dem Krieg, sondern es wurden bereits von Nazi-Ideologen klare Fronten geschaffen. Es ist außerdem, aufgrund der hier vorgelegten Analysen, offensichtlich, daß es unterschiedliche ideologische Strömungen (mehr "romantische" à la Baeumler, bis hin zum politisch-metaphysischen Fanatismus à la Krieck) gab. Dementsprechend ist die sachliche Qualität ihre Argumente nicht von vornherein mit dem Etikett "Nazi" gleichmäßig zu disqualifizieren. Es gibt zunächst, so Penzo, kein einheitliches Maß, um jemand (ideologisch) als Nationalsozialisten zu qualifizieren: Eine solche Qualifikation wurde nämlich seitens der Partei nur schrittweise konkretisiert (275). Angesichts der neueren Diskussionen um Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und die "Postmoderne" sowie angesichts der intellektuellen Auseinandersetzung im bzw. mit dem anderen deutschen Staat wäre es von großem Interesse, eine so gut fundierte Studie wie diese etwa in bezug auf Schopenhauer und Heidegger weiterzuführen.


Anmerkungen

1. B. Nietzschke, Die Männer in Reih und Glied kommen aus dem Tritt: Über die neueste (Um-)Stimmung im Osten: Schopenhauer und Nietzsche in der DDR, in Die Zeit, 12/1988, 54.

2. Cf. H. Ritter, Nietzsche ins Angebot? Die DDR plagt sich mit seinem philosophischen Erbe, in FAZ 61/1988, 27.

3. Cf. Die Zurechtlegung Nietzsches und Heideggers als "irrationalistische" Denker bei J. Habermas, Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985s. Cf. R. Capurro, Rez. von G. Vattimo: Das Ende der Moderne, Philos. Jahrbuch 94/1987, 205-209. Zum Thema "Philosophie im deutschen Faschismus cf. das Heft 13 (1987) der Zeitschrift Widerspruch sowie A. Gethman-Siefert & O. Pöggeler (ed.), Heidegger und die Praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1988, bes. E. Nolte, Philosophie und Nationalsozialismus, in: Gethman-Siefert & Pöggeler, Heidegger a.a.O.338-356.

4. Cf. auch G. Penzo, F. Nietzsche: Il divino come polarità, Bologna 1981 (3. Aufl.); G. Penzo, F. Nietzsche nell'interpretazione heideggeriana, Bologna 1982 (3. Aufl.) sowie G. Penzo, Il nichilismo da Nietzsche e Sartre, Roma 1984 (2. Aufl.).

5. W. Kaufmann, Nietzsche: Philosoph - Psychologe - Antichrist. Darmstadt 1982. Allerdings scheint mir das Geleitwort von Hans Albert, der, wie immer, eine emotionsgeladene Polemik gegen Heidegger (!) führt, irreführend. Cf. neuerdings auch H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin 1987.

6. E. Krieck, Vom Deutsch des deutschen Sprachvereins, in: G. Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, Bern 1962, 184. Cf. auch die Dokumente Nr. 191 in Schneeberger, Nachlese a.a.O. (Germanischer Mythos und Heideggersche Philosophie: "In Sein und Zeit philosophiert Heidegger bewußt und absichtlich um die 'Alltäglichkeit' – nichts darin von Volk und Staat, von Rasse und allen Werten unseres nationalsozialistischen Weltbildes") und 192 (Gegen die Sprachbilder), ebenfalls von E. Krieck.

Letzte Änderung: 25. Mai  2017
   
 
 
    
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