Unter dem Titel
Die Männer in Reih und Glied kommen
aus dem Tritt besprach kürzlich Bernd Nietzschke die
Schwierigkeiten, welche die DDR mit den "geistigen Urhebern für
Antihumanismus im 19. Jahrhundert", nämlich Schopenhauer und
Nietzsche, empfindet. (1) Dabei mangelt es aber nicht ganz an
kritischen Stimmen (wie denen Heinz Pepperles und Friedrich Tombergs),
die eine faschistische Zurechtlegung Nietzsches (und Schopenhauers?) in
Frage stellen. Ihnen gegenüber scheinen andere (etwa
Wolfgang Harich und Manfred Buhr) zu stehen, welche Nietzsche auf seine
Wirkungsgeschichte im Faschismus festlegen wollen. (2) Eine
ähnliche Kontroverse scheint mir im Westen auch in bezug auf
Nietzsche (und Heidegger) zwischen Verteidigern der "Moderne" und
Befürwortern der "Postmoderne" stattfindet. (3)
Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Monographie wie die Giorgio Penzos
(4) eine besondere Aktualität und Bedeutung. Bei diesem Thema,
nämlich
Die Überwindung
Zarathustras: Nietzsche und der Nationalsozialismus, denkt man
natürlich zunächst and die "ontologische" bzw. metaphysische
Lektüre Nietzsches, die Martin Heidegger und Karl Jaspers in den
30er Jahren durchführten. Spätere Deutungen, wie etwa die
Walter Kaufmanns, (15) tragen ebenfalls zur Zerstörung der
"Nietzsche-Legende", also der Art und Weise, wie Nietzsche von den
Faschisten "gelesen" wurde, bei. Wie wurde aber Nietzsche
tatsächlich von den NS-Intellektuellen gelesen? Die geläufige
Meinung ist vermutlich, daß Nietzsches Denken und insbesondere
sein Mythos des "Übermenschen" von den Nazis stets
mißbraucht wurde. Was wissen wir aber überhaupt von den
NS-Intellektuellen? Wie wurde die Ideologie von den "Philosophen"
formuliert? Gab es unterschiedliche Strömungen, oder marschierten
auch hier alle "in Reih und Glied"? Was verbirgt sich hinter dem
Etikett "NS-Intellektueller"? Mir scheint, daß wir hierüber
einiges an Verdeckungen und "Erinnerungslücken" aufzuklären
haben, wollen wir einen sachlichen Boden nicht nur im Hinblick auf
Nietzsche, sondern auch etwa auf Heidegger gewinnen.
Penzo geht der Geschichte der Nietzsche-Rezeption seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts am Leitfaden der dabei stattfindenden Ausformung des
Mythos des "Übermenschen" nach, wobei er sich eben mit den
"Intellektuellen", die der Partei mehr oder weniger nahe standen,
auseinandersetzt und "Pseudo-Intellektuelle" (etwa die unmittelbaren
Kulturpropaganda) außer acht läßt. Im ersten Teil
("Die Bildung des Mythos des Übermenschen") geht es um die
biologistische (an Darwin angelehnte) Deutung des Lebensbegriffs,
dessen Verzerrung zur Mißdeutung des Existentialismus bzw. zur
Polemik gegen die Existenzphilosophie sowie zur Angleichung von
"Erziehung" und "Züchtung" führte. (5). In diesem
Zusammenhang kommen sowohl positive (z.B. Rudolf Steiner) als auch
negative (z.B. Eduard v. Hartmann) Deutungen dieses Mythos sowie seine
Einbettung "zwischen Lebensphilosophie und Existentialismus" (Hans
Vaihinger, Georg Simmel, Ernst Bertram, Ludwig Klages u.a.) zur
Sprache. Im zweiten, besonders bedeutsamen, weil in bezug auf die
NS-Intellektuellen "aufdeckenden" Teil ("Die Überwindung des
Mythos des Übermenschen") geht es Penzo um den Prozeß der
Mythisierung bzw. partiellen oder sogar vollständigen
Entmythisierung des "Übermenschen" seitens der Nazi-Ideologen. so
zunächst durch
Alfred Baeumler,
der Nietzsches
Wille zur Macht politisch
mißdeutet (worauf bereits Heidegger aufmerksam machte), sich aber
bewußt ist, daß die Nietzschesche Auffassung des Lebens
sich nicht auf Biologie und Rasse eindeutig zurückführen
läßt. Dann durch
Alfred Rosenberg,
den, nach Penzo, offiziellen Theoretiker des Nationalsozialismus, der
in seinem von Hitler gerühmten Buch
Der Mythos des 20. Jahrhunderts
(München 1930) Nietzsche kaum erwähnt. Nietzsche kommt dabei
lediglich im Zusammenhang mit "Boden" und nicht mit den Kernelementen
des germanischen Mythos, nämlich "Blut" und "Rasse" (von wo aus
der Antisemitismus seine "Rechtfertigung" nimmt), vor. Nietzsche wurde,
so Penzo, von der Partei wegen seiner Popularität "ertragen" und
bald von anderen "Dichtern" (wie etwa Dietrich Eckart) und "Denkern"
ersetzt. (219). Die Wurzeln des "germanischen Mythos" sind in der
Biologie (J. A. Gobineau) bzw. in der Mystifizierung des "Volkes" (R.
Wagner, H. St. Chamberlain) zu finden.
Penzo schildert die Grundzüge der romantischen "Deutschen
Bewegung": ihre Ursprünge in Fichtes
Reden an die deutsche Nation, ihre
Ausformungen bei Literaten bzw. Intellektuellen wie Hugo von
Hofmannsthal, Oswald Spengler sowie Ernst und Friedrich Georg
Jünger bis hin zu den Deformationen von E. J. Jung und A. Moeller
van den Bruck. Das Charakteristische der Mißdeutung seitens der
NS-Ideologie ist aber, daß die "romantische" bzw.
religiöse Dimension des Denkens Nietzsches wegfällt. Es geht,
mit anderen Worten, um die Entmythisierung der Denkfigur des
"Übermenschen". Das romantische Thema des "deutschen Schicksals"
gewinnt bei Friedrich Würzbach in bezug auf Nietzsche deutliche
nationalistische Züge, die aber noch im Bereich der wenn nicht
religiösen so doch politischen "Romantik" bleiben. Für
Günther
Lutz stattdessen, als überzeugtem Nationalsozialisten, geht es
um eine biologisch-anthropologische (Miß-)Deutung Nietzsches, im
Sinne der NS-Politik (Krieg) und -"Kultur" (Germanisierung,
Züchtung), die er den Interpretationen Heideggers und Jaspers'
gegenüberstellt. Auf dieser Basis beruhen auch, so Penzo, die
"fanatischen Lektüren" des "Übermenschen" von G. Scheuffler
(der u.a. Nietzsches "Dekadenz-Theorie" als antisemitisch
mißdeutet),
Richard Öhler,
Walter Spethmann und Johannes Müller-Rathenow (die in Hitler die
Verwirklichung des "Übermenschen" sehen). Ferner stellt Penzo
Beispiele für die Entmythisierung des "Übermenschen" im
Bereich der Rechtsphilosophie (Friedrich Mess, Julius Binder) vor.
Dabei werden vor allem die "individualistischen" und "anarchischen"
Züge Nietzsches als Grenze zur NS-"Rechtsauffassusng"
herausgestellt. Nicht Nietzsche, sondern Hegel, so Penzo im
Anschluß an Hubert Kiesewetters
Von
Hegel zu Hitler, war für die Nazi-"Rechtsphilosophen"
bestimmend. Nietzsches "Übermensch" wird auch bei einen Ideologen
aus der "Baeumler Schule" nur teilweise entmythisiert. So z.B. bei
Ernst Horneffer,
der in Nietzsches "Übermensch" (und in seiner "Leistungsethik")
zwar den "Vorboten der Gegenwart" (1934) sieht, zugleich aber die
religiöse Dimension dieses Mythos betont: Zarathustra ist kein
politischere, sondern ein ethischer Prophet. Sein Ideal der
"Selbstbehauptung", den Horneffer mit Kant in Verbindung setzt, wird
aber, wenn der dabei noch herrschende "romantische Begriff der
"Persönlichkeit" "überwunden" wird, zum Sinnbild des
Ideals des deutschen Volkes im Dritten Reich.
Hans Heyse, der
eine "Metaphysik des "Reichs" entwickelt, sieht in Nietzsche den Gegner
des Christentums. Für Heinrich Härte ist Nietzsche ein
politischer Denker, der das "christlich-jüdische"
Gleichheitsprinzip in Frage stellte. Ihm "fehlten" aber der biologische
Gesichtspunkt des Volkes als "Rasse", die NS-Auffassung von
"Demokratie" und "Führerprinzip", die Idee der Herrschaft der
germanischen Rasse in einer europäischen Einheit u.a.m. Für
Ernst Krieck, der das "Leben" als Grundprinzip der NS-Ideologie
betrachtet, bleibt Nietzsches
Wille
zur Macht –
wegen des schweizerischen Einflusses (J. Burckhardt) –
zwischen Germanentum und Europa gespalten. Schopenhauer, Kierkegaard,
Nietzsches "Übermensch" und die Existenzphilosophie sind für
Krieck "nihilistisch". Erwähnenswert scheint mir in diesem
Zusammenhang Kriecks Urteil über Heidegger: "Deine Sprache
verrät dich, Galiläer!" (16
Im letzten Kapitel bringt Penzo Beispele (Kurt Hildebrandt, Hans
Göbel, Christoph Steding, Kurt Algermissen) einer totalen
Entmythisierung des "Übermenschen" bzw. der Unmöglichkeit
eines Dialogs zwischen Nietzsche und der NS-Ideologie. Die
Begründung liegt z.B. bei Göbel darin, daß zwischen
Hitler und der protestantischen Kirche eine "perfekte Harmonie"
herrscht, während Nietzsche sowohl die Kirche und auch das
deutsche Volk kritisiert!
Fazit: Die Entmythisierung bzw. Entnazifizierung Nietzsches begann
nicht etwa nach dem Krieg, sondern es wurden bereits von Nazi-Ideologen
klare Fronten geschaffen. Es ist außerdem, aufgrund der hier
vorgelegten Analysen, offensichtlich, daß es unterschiedliche
ideologische Strömungen (mehr "romantische" à la Baeumler,
bis hin zum politisch-metaphysischen Fanatismus à la Krieck)
gab. Dementsprechend ist die sachliche Qualität ihre Argumente
nicht von vornherein mit dem Etikett "Nazi" gleichmäßig zu
disqualifizieren. Es gibt zunächst, so Penzo, kein einheitliches
Maß, um jemand (ideologisch) als Nationalsozialisten zu
qualifizieren: Eine solche Qualifikation wurde nämlich seitens der
Partei nur schrittweise konkretisiert (275). Angesichts der neueren
Diskussionen um Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und die
"Postmoderne" sowie angesichts der intellektuellen Auseinandersetzung
im bzw. mit dem anderen deutschen Staat wäre es von großem
Interesse, eine so gut fundierte Studie wie diese etwa in bezug auf
Schopenhauer und Heidegger weiterzuführen.
Anmerkungen
1. B. Nietzschke,
Die Männer in
Reih und Glied kommen aus dem Tritt: Über die neueste
(Um-)Stimmung im Osten: Schopenhauer und Nietzsche in der DDR,
in
Die Zeit, 12/1988, 54.
2. Cf. H. Ritter,
Nietzsche ins
Angebot? Die DDR plagt sich mit seinem philosophischen Erbe, in
FAZ 61/1988, 27.
3. Cf. Die Zurechtlegung Nietzsches und Heideggers als
"irrationalistische" Denker bei J. Habermas,
Diskurs der Moderne, Frankfurt am
Main 1985s. Cf. R. Capurro,
Rez.
von G. Vattimo:
Das Ende der
Moderne,
Philos. Jahrbuch
94/1987, 205-209. Zum Thema "Philosophie im deutschen Faschismus cf.
das Heft 13 (1987) der
Zeitschrift Widerspruch
sowie A. Gethman-Siefert & O. Pöggeler (ed.),
Heidegger und die Praktische Philosophie,
Frankfurt am Main 1988, bes. E. Nolte,
Philosophie und Nationalsozialismus,
in: Gethman-Siefert & Pöggeler,
Heidegger a.a.O.338-356.
4. Cf. auch G. Penzo,
F. Nietzsche:
Il divino come polarità, Bologna 1981 (3. Aufl.); G.
Penzo,
F. Nietzsche
nell'interpretazione heideggeriana, Bologna 1982 (3. Aufl.)
sowie G. Penzo,
Il nichilismo
da Nietzsche e Sartre,
Roma 1984 (2. Aufl.).
5.
W.
Kaufmann,
Nietzsche: Philosoph -
Psychologe - Antichrist. Darmstadt 1982. Allerdings scheint mir
das Geleitwort von
Hans
Albert, der, wie immer, eine emotionsgeladene Polemik gegen
Heidegger (!) führt, irreführend. Cf. neuerdings auch H.
Ottmann,
Philosophie und Politik bei
Nietzsche, Berlin 1987.
6.
E. Krieck,
Vom Deutsch des deutschen
Sprachvereins, in: G. Schneeberger,
Nachlese zu Heidegger, Bern 1962,
184. Cf. auch die Dokumente Nr. 191 in Schneeberger,
Nachlese a.a.O. (
Germanischer Mythos und Heideggersche
Philosophie: "In
Sein und
Zeit philosophiert Heidegger bewußt und absichtlich um
die 'Alltäglichkeit' – nichts darin von Volk und Staat, von Rasse
und allen Werten unseres nationalsozialistischen Weltbildes") und 192 (
Gegen die Sprachbilder), ebenfalls
von E. Krieck.