PHÄNOMENOLOGIE DER FREIHEIT


Rafael Capurro
  

 

  
 
Rezension von: Günter Figal: Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit. Athenäum, Frankfurt am Main 1991, 428 pp. ISBN 3-445-04772-3, erschienen in. Daseinsanalyse. Zeitschrift für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie, Juni 1993, 61-63.




Obwohl die Heidegger-Sekundärliteratur beinahe uferlos ist, sind jene Kommentare selten, die einen zugleich erläuternden und kritischen Charakter haben, ohne in Paraphrasierungen oder in die Verrechnung von Defiziten zu verfallen. Dies trifft auch besonders für ein Werk wie Heideggers "Sein und Zeit" (SZ) zu. Figals Untersuchung, 1987 als Habilitationsschrift von der Universität Heidelberg angenommen, versteht sich in diesem Sinne als "Kommentar" und nicht al paraphrasierende "Erläuterung" zu SZ. Ein solcher Kommentar muss zunächst, angesichts des fragmentarischen Charakters dieses Werkes, zu einem Verhältnis mit den späteren Denkwegen Stellung nehmen. Figal stellt sich dabei auf die Seite derjenigen Interpreten, die Heideggers Denken einheitlich und an der Seinsfrage orientiert verstehen. Da die neuzeitlilche Philosophie eine entscheidende Wende in der Seinsfrage vollzieht, liegt der Gedanke nahe, Heidegger im Rahmen der Subjektivitätsphilosophie auszulegen. Gegenüber dieser von W. Schulz und C.F. Gethmann vertretenen These gilt für Figal, dass Heidegger "ein gegenüber der philosophischen Tradition neues Konzept von Freiheit" entwickelt, das "nicht mehr durch eine Orientierung an den Vollzügen selbst charakterisiert ist" (p. 22). Dieses neue Konzept wird, so Figal, gerade in Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Seinsfrage entwickelt und bietet eine Alternative zur subjektivitätsphilosophischen Perspektive. Die Pointe der Heideggerschen Alternative besteht darin, dass die Frage nach der Freiheit nicht für Personen (wie bei Kant) oder für Verhaltensweisen (wie bei Aristoteles), sondern auch für alles nichtdaseinsmäßige Seiende gilt. Eine solche Ausweitung hat aber nicht, wie häufig angenommen nach der "Kehre" stattgefunden. Die "Kehre" ist in Wahrheit eine "Umkehrung" der Fragestellung von "Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein", wobei Heidegger in dieser Umkehrung den Übergang von einer nichtphilosophischen (oder "vorontologischen") zu einer philosophischen Analyse des Daseins vollzieht. Diese Umkehrung findet man auch, so Figal, mit Heidegger gegen Heidegger denkend, in Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten im Kampf um die Bestimmung von "Richtigkeit" und "Wahrheit". Sowohl in der Platonischen als auch in der Heideggerschen Konzeption werden die bestimmten (ontischen) Gestalten stets vom "vollständig Unbestimmten", Offenen, Mass-gebenden überragt, ohne dass wir uns an einem solchen Mass wie an einem Modell beständig orientieren könnten. Dieses Offene und Unbestimmte schwebt aber nicht über allen Verhaltensweisen, sondern wird erst beim jeweiligen sicheinlassen eines Verhaltens erfahren, so zwar, dass die Richtigkeit der Massstäbe durch das "Korrektiv des Offenen" ihre Gewalt verliert (p. 401). Diese Hinweise aus der letzten Seite der Untersuchung zeigen, dass Figal sowohl einen Kommentar zu SZ (mit Einbeziehung der nahestehenden Vorlesungen) als auch eine Anleitung zu Heideggers "Denkwegen" insgesamt vorlegen will, wobei der Schwerpunkt (zirka 330 Seiten) beim ersten Ziel liegt.

So wird also "Heideggers Ansatz zu einer Philosophie der Freiheit" (Kapitel I) zunächst in Zusammenhang mit dem Begriff der Phänomenologie erörtert, um anschliessend das "Dasein als In-der-Welt-sein. Grundbestimmungen von Freiheit und Unfreiheit" (Kapitel II) zu behandeln. Das dritte Kapitel trägt die Überschrift: "Die Differenz von Freiheit" und gilt der Darstellung der Existenzialien "Erschlossenheit", "Befindlichkeit", "Verstehen" und "Rede" sowie "Uneigentlichkeit" und "Eigentlichkeit". Kapitel IV schliesslich setzt sich mit dem Zusammenhang zwischen "Freiheit und Sein" auseinander und führt von "Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein".

Folgende Punkte scheinen mir in diesem ansonsten durch Klarheit und analytische Schärfe gekennzeichneten Kommentar besonders denk- und "frag-würdig". Zunächst die Aussparung der Grundzüge der Leiblichkeit und Geschichtlichkeit. Man kann zwar argumentieren, dass Heidegger selbst diese Grundzüge in SZ nicht thematisiert, aber genau auf diese Frage (Stichwort: Neutralität des Daseins) hätte dieser Kommentar eingehen sollen. Mehr noch: auf diese Aussparung ist Heidegger selbst in der Vorlesung von 1928 (Gesamtausgage vol. 26, p. 171 ff.) eingegangen, was Figal, mit Ausnahme eines knappen Hinweises auf den Zusammenhang zwischen Daseinsneutralität und Gewissensruf (p. 235) mit keinem Wort erwähnt. Auch der ebenfalls im Rahmen dieser Vorlesung erörterte Problematik über "Idee und Funktion einer Fundamentalontologie" mit dem wichtigen Hinweis auf die "Kehre" in die "metaphysische Ontik" wird von Figal übersehen. Der rote Faden der Seinsfrage sollte meines Erachtens nicht dazu dienen, die vielfältigen vollzogenen und nicht vollzogenen Umkehrungen und Um.- (Irr-) Wege dieses Denkens ("Wege - nicht Werke" lautet der Leitspruch der Gesamtausgabe) zu verdecken. Aber auch die späteren zerstreuten selbstkritischen Hinweise auf SZ finden in diesem Kommentar keinen gebührenden Anklang. Die massive Weiterwirkung von SZ in der von Medard Boss und seinen Mitstreitern unter der aktiven Unterstützung Heideggers (weiter-)geführten "Daseinsanalyse" wird vollständig ignoriert.

Ein zweiter "frag-würdiger" Punkt ist die an H.-G. Gadamer anknüpfende Interpretation der Todesproblematik. Der Tod wird dabei zugunsten des "Entwurfs des bevorstehenden und unbestimmten Seins" heruntergespielt, so dass das Dementi, man müsse das Dasein nciht für unsterblich halten (p.229) beinahe wie eine Bestätigung dieser Interpretation klingt, denn die Struktur des Sich-vorweg hat, so Figal, "eine Tendenz ins Unendliche" (p. 230). Für Figal behält Epikur recht: "Solange wir sind, ist der Tod nicht; wenn der Tod ist, sind wir nicht". Das Gegenteil ist aber für Heidegger der Fall: "Solange wir sind, ist der Tod; sind wir nicht mehr, so ist auch der Tod nicht mehr", wie g. Condrau in Anschluss an W. Müller-Lauter betont ["Daseinsanalyse", Freiburg/Bern, 1989, p. 89]. Geburt und Tod werden von Figal lediglich als ontisch datierbare Bestimmungen interpretiert und nicht im Sinne eines Existenzials ("gebürtig"-sein und "sterblich"-sein). Die Instanz, die als "Vorlaufen zum Tode" ersetzt, ist für Figal das Gewissen. Dementsprechend sind Figals Kommentare über die Undenkbarkeit des Todes, zumindest als Interpretation von SZ, mehr als "frag-würdig".

Es fällt schlieslich auf, dass Figal wiederholte Vergleiche zwischen Platon und Heidegger aufstellt. Franco Volpis 1984 erschienene Untersuchung "Heidegger e Aristotele" lässt keinen Zweifel darüber, wo sinnvollere Parallelitäten zu suchen sind.

Diese kritischen Punkte sollten keineswegs die vielen aufklärenden und vertiefenden Kommentare abwerten. Figals Erläuterungen zur Frage des "Selbst" und des "Mitseins" rück einiges aus D. Thomäs tausendseitigen Werk ["Die Zeit des Selbst und die Zeit danach", Frankfurt 1990] im voraus zurecht. Figal schreibt: "Die Erfahrung der Angst ist eine Erfahrung der Freiheit in ihrer Differenz, und 'Dasein selbst' ist diese Differenz ... 'Dasein selbst' bezeichnet danach die Erfahrung der Freiheit in ihrer Differenz, bei der man als 'diese Bestimmte' gerade fraglich wird" (p. 203). Mit dem "existenzialen Solipsismus" ist keine Weltlosigkeit des Daseins, sondern die Verschiedenheit des Daseins vom Verhalten gemeint. Das unumgängliche wirkliche Verhalten zeigt sich dann als die Wirklichkeit des eigenen Möglichseins. Mit anderen Worten, die "Vereinzelung" ist nicht die einer bestimmten Person, sie ist nicht ontisch gemeint.

Im Schlussteil erläutert Figal die "Kehre" von "Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein". Er zeigt, wie Heidegger sich von den "Bindungen und Perspektiven" von SZ befreite, indem er seine "Befangenheit", das Unbestimmte nur vom Bestimmten aus zu thematisieren (wofür der Titel "Metaphysik" steht) "wieder-holte". Das führte zu einer Relativierung der Zeitlichkeitsproblematik, wie sie z.B. im Kant-Buch weitergeführt wurde, und schliesslich zur Frage nach der "vierten Dimension" der nicht mehr vom Dasein aus bestimmten "Zeitekstasen" im Vortrag "Zeit und Sein". Figals Kommentar ist ein wertvoller Begleiter für die Lektüre von SZ.


Letzte Änderung: 2. Juli  2017
    
 
 
    
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