Die Begriffe
"Moderne/Postmoderne" besitzen heute eine
magnetische Anziehungskraft
in den verschiedenen Bereichen: von der Architektur
über die
Literatur bis hin zur Philosophie. Unter dem Titel:
"Postmoderne.
Zeichen eines kulturellen Wandels" (Reinbek bei
Hamburg 1986) haben
Andrea Huyssen und Klaus R. Scherpe (Hg.) die
Wirksamkeit dieses
Begriffs mit seinen vielfältigen Auslegungen in den
Künsten
dokumentiert. Die philosophische Diskussion um die
Postmoderne hatte
1985 in der Bundesrepublik Deutschland zwei
Höhepunkte: eine von
der Civitas-Gesellschaft in Hannover veranstaltete
Tagung und die
Veröffentlichung der Habermaschen Vorlesungen: "Der
philosophische
Diskurs der Moderne" (Frankfurt a.M. 1985). Die
Tagung brachte viel
Strittiges (und Unbedeutendes) hervor: Ob die
Moderne mit Descartes
beginnen soll, ob wir, nach Odo Marquard, noch in
der Moderne leben, ob
man nicht einseitig alles Gute, Schöne und Wahre der
Moderne
zuschiebt (Robert Spaemann), ob nicht die Moderne,
wohl aber die
Modernisierung fragwürdig ist (Claus Offe), und
immer wieder die
Frage, ob der (Stil-)Pluralismus (etwa in der
Baukunst) eine typische
Eigenschaft der Postmoderne sei bzw. ob zur
Aufklärung nicht
notwendigerweise Kritik und Revolte gehören.
Die einen halten an der Moderne fest, die anderen
wollen sie
"überwinden". Von denjenigen, die sie festhalten
wollen, wird die
Postmoderne als eine "romantische" Bewegung
angesehen, eine
intellektuelle Mode, ein Konstrukt..., als ob die
Moderne keins
wäre! Ein solches Konstrukt entwirft Habermas in den
erwähnten Vorlesungen. In deren Zentrum stehen
Nietzsche und
Heidegger. In bezug auf Nietzsche genügt es zu
sagen, daß
Habermas ihm einen "dionysischen Messianismus"
bescheinigt, womit
Nietzsche sich außerhalb der (Dialektik) der
Aufklärung
stelle. Habermas scheint, gelinde gesagt, von der
Nietzsche-Forschung
der letzten Jahre keine Kenntnis genommen zu haben.
Vor diesem
Hintergrund darf es natürlich nicht wundern, daß
Heidegger
allerlei "Schlimmes" (angefangen mit der Überschrift
"Die
metaphysische Unterwanderung des okzidentalen
Rationalismus:
Heidegger") unterstellt wird. Ein Teufel wird an die
Wand gemalt, woran
inzwischen (auch in Deutschland) nur noch einige
strenggläubige
Rationalisten glauben. Hier einige Kostproben:
Heidegger setze "die
Philosophie wieder in die Herrschaftsposition ein,,
aus der sie durch
die Kritik der Junghegelianer vertrieben worden war"
(158), er
"nivelliert die Vernunft zum Verstand" (160),
"Nietzsches Messianismus"
verkehre sich bei Heidegger "in die apokalyptische
Erwartung des
katastrophischen Eintritts des Neuen" (162), in der
Geschichte der
Philosophie und der Wissenschaften nach Hegel nimmt
er nichts anderes
wahr "als ein monotones Durchbuchstabieren der
ontologischen
Vor-Urteile der Subjektphilosophie", wodurch er
zeigt, daß er
"noch in Anlehnung, den Problemstellungen verhaftet
bleibt, die ihm die
Subjektphilosophie in Gestalt der Husserlschen
Phänomenologie
vorgegeben hatte" (165). Wie Husserl soll Heidegger
"die Welt als
Korrelat des erkennenden Subjekts" bestimmen und an
den "Fundamentalismus
der
Bewußtseinsphilosophie gebunden" bleiben (166). Er
soll
schließlich (natürlich) seine Adressaten "in den
Umgang mit
pseudosakralen Mächten" einstimmen (168).
Demgegenüber mutet
die Darstellung der "Existentialhermeneutik" von
"Sein und Zeit"
(169-176) geradezu sachlich an, was aber
anschließend (176-183)
mißdeutet wird, etwa mit Bemerkungen, daß Heidegger
das
"Wer" des Daseins "auf ein Subjekt zurückführt",
oder
daß er die "Strukturen des lebensweltlichen
Hintergrundes" als
Strukturen einer "durchschnittlichen
Alltagsexistenz" "entwertet", oder
daß "das solipsistisch angesetzte Dasein" den Platz
der
transzendentalen Subjektivität "besetzt", oder daß
in den
Schriften "Was ist Metaphysik?" und "Vom Wesen des
Grundes" "die Welt
als Prozeß" "aus der Subjektivität des
Selbstbehauptungswillens" begriffen wird usw.
Richtig ist, daß
Heidegger auf den Anspruch auf "Selbst-
und Letztbegründung"
verzichtet,
falsch dagegen, daß er das "zugunsten eines
kontingenten Geschehens, dem das Dasein ausgeliefert
ist", tut (181).
Heidegger soll "die propositionale Wahrheit"
entwurzeln und "das
diskursive Denken" entwerten, er soll die
"welterschließende
Sprache" hypostasieren, das Seiende soll sich, nach
Heidegger, "von
beliebigen Zugriffen gleichermaßen widerstandslos
öffnen"
lassen usw. usw. Dieses einem Denker vom Range
Habermas wohl kaum
zuzutrauende Zerrbild endet mit einer politischen
Aufklärung (die
als "Vermutung" verkauft wird) und diese wiederum
mit dem lapidaren
Satz, daß Heidegger "den Problemstellungen der
Subjektphilosophie
verhaftet" bleibe. Man kann hier nur Vermutungen
über Habermas'
eigene Motive für diese wahrhaftig unverdaubare
Charakterisierung
einer Kernfigur des "philosophischen Diskurses der
Moderne" anstellen.
Demgegenüber fällt ihm nicht schwer, sich als Retter
der
Moderne, d.h. der Tradition der Vernunft in der Form
des
"kommunikativen Handelns", darzustellen, um sie vor
der
"Selbstdestruktion" (379) zu bewahren!
Vor diesem Hintergrund gewinnen die stilistisch
glänzend und
begrifflich transparent geschriebenen "Essays" von
Gianni Vattimo,
einem der bekanntesten Nietzsche- und
Heidegger-Forscher Italiens,
einen besonderen Wert.
Um dem des Italienischen unkundigen Leser einen
Vorgeschmack zu geben,
soll hier eine ausführliche Darstellung des Inhalts,
zuungunsten
der kritischen Bewertung und Diskussion, geboten
werden.
Zunächst zum "Äußeren". Das Buch ist eine Sammlung
von
Aufsätzen aus dem Jahren 1980-1984, die das im Titel
angedeutete
Thema: "Das Ende der Moderne. Nihilismus und
Hermeneutik in der
postmodernen Kultur" umkreisen. Gianni Vattimo (50),
Professor am
Philosophischen Institut der Turiner Universität,
veröffentlichte 1980 einen Essay-Band mit dem Titel:
"Abenteuer
der Differenz. Was heißt Denken nach Nietzsche und
Heidegger?"
(Mailand 1980). Seine früheren Arbeiten galten
Aristoteles,
Schleiermacher sowie Heidegger und Nietzsche. Das
hier zu besprechende
Buch enthält drei Teile, die folgende Überschriften
tragen:
Nihilismus als Schicksal; Die Wahrheit der Kunst;
Das Ende der Moderne.
Die Grundfrage des Werks, nämlich die nach dem Bezug
von "Moderne"
und "Postmoderne", gewinnt erst ihre philosophische
Tiefe und
Schärfe, so der Verfasser in der Einleitung, wenn
man sie in
Zusammenhang mit dem Nietzscheschen Gedanken der
"Ewigen Wiederkehr"
sowie mit der Heideggerschen Frage nach der
"Verwindung" der Metaphysik
betrachtet. Beide Ansätze unterscheiden sich von der
bloßen
"Kulturkritik" der Jahrhundertwende, und beide
können verstanden
werden, so die Hauptthese des Verfassers, als
"positive" Momente
für eine philosophische Rekonstruktion und nicht
etwa, wie
Habermas es tut, als Symptome der Dekadenz. Alles
dreht sich dabei um
die Deutung des "Post-". Der Gedanke des
Fortschritts, also der
Entwicklung durch Kritik und Aufklärung in den
Wissenschaften bzw.
durch die Verwirklichung der Freiheit in der
Geschichte, gehört
zum Kern der Moderne. Fortschritt ist aber wiederum
nur möglich,
wenn die jeweilige Entwicklung von
Grund auf angeeignet wird. Nietzsche und
Heidegger wollen vom
Gedanken des Grundes als Bestimmung des Denkens
Abstand nehmen. Indem
sie aber das tun, fragt sich mit Recht der
Verfasser, gehören sie
nicht eigentlich zur Moderne? Mit anderen Worten:
Ist nicht jeder
Versuch eines "Fort-schritts" aus der Moderne
selbstwidersprüchlich? Das wäre der Fall, wenn das
"Post-"
als Hinweis auf etwas Neues aufgefaßt wäre und nicht
etwa
als Auflösung dieser Kategorie bzw. als Erfahrung
vom "Ende der
Geschichte". Letzteres klingt zugleich sehr real,
wenn man etwa an die
Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe denkt. Für
den
Verfasser steht aber weniger dieser Zusammenhang als
vielmehr die Frage
nach der Auflösung der Geschichte als ein
einheitlicher
Prozeß bzw. die Entstehung einer Art unhistorischer
Immobilität im Mittelpunkt. Die "Post-Moderne" will
sich also als
"post-historisch" verstanden wissen: Das neue,
insbesondere das
technisch Neue, wird zur Routine, der Mensch sitzt,
unbeweglich, vor
dem Monitor (Fernseher, Terminal usw.) und "erlebt"
die dort
"ein-gebildete" Realität. Nicht mehr die Geschichte,
sondern ihre
Auflösung in Geschichten
prägt das Bewußtsein. Diese Zerstückelung erlaubt
auch,
dank der Perfektion der modernen
Informationstechnik, ihre Speicherung
und Übertragung in einer für die Moderne (das
Zeitalter
Gutenbergs) unvorstellbaren Weise. Im Gegensatz zur
typischen
"Kulturkritik" sehen, so Vattimo, Nietzsche und
Heidegger diese
Entwicklung als eine neue Möglichkeit menschlichen
Existierens
und, wie der Verfasser betont, als eine positive Chance! Nietzsches
Wort vom
aktiven Nihilismus und Heideggers "Verwindung" der
Metaphysik sind
deutliche Zeichen des Versuchs, mit der Postmoderne
im Sinne eines
neuen Erfahrungsraumes Ernst zu machen. Es ist
insbesondere die Kunst,
wie der Verfasser in den folgenden Kapiteln
erläutert, die uns die
Erfahrung der Eröffnung eines neuen
Möglichkeitsgefüges,
als eine Wahrheitserfahrung,
vermittelt.
Vattimos Analysen beginnen, nach dieser Einleitung,
mit der Behandlung
des "Nihilismus als Schicksal" (erster
Teil). Nietzsches These vom "Tod Gottes"
bzw. von der Entwertung
der obersten Werte und Heideggers Deutung der
Auflösung des Seins
in der Welterfahrung stimmen darin überein, daß das
im
Besitz seines Grundes wägende Subjekt sich auf kein
Wahrheitsimperativ mehr berufen kann. Die
Entgöttlichung bedeutet
also zugleich eine Entmenschlichung im
psychoanalytischen Sinne einer
"Ent-Ich-ung", d.h. eine Infragestellung des idealen
Ichs aufgrund der
"Entdeckung" des Symbolischen (J. Lacan). Der
Nihilismus als Verlust
des Fundaments kann also auf der einen Seite als
"Gefahr der
Verselbständigung des Subjekts in der Rigidität des
Imaginären bzw. in dem Versuch, "neue" Werte zu
errichten,
gedeutet werden. Während auf der anderen Seite die
Möglichkeit besteht, ihn als Chance für eine
"entwirklichte"
bzw. spielerische individuelle und kollektive
Welterfahrung zu
verstehen. In der "Krise des Humanismus" (Kap. II)
zeigt Vattimo,
daß gerade die Erfahrung des "Todes Gottes" eine
solche Krise mit
sich zieht, da der Gott (der Metaphysik) die "Maske"
des sich selbst
vergewissernden, seines Grundes gesicherten Menschen
war. Die Krise
des Humanismus, etwa in der Gestalt der Kulturkritik
der Technik,
zeichnete sich vielfach durch den Versuch aus,
menschliche
"Eigenschaften" methodisch abzusichern.
Wenn man aber, so Vattimo, die Technik, wie
Heidegger sie deutet, als
Erfüllung der Metaphysik auffaßt, dann bedeutet ihre
mögliche "Verwindung" weder ihre Verdammung noch die
Errichtung
eines abgesicherten (!) (Subjekt-) Bereiches,
sondern die Einsicht in
die Art von metaphysischer Erfahrung, die die
Technik uns vermittelt,
und die Möglichkeit der Subjektivität (!), eine
andere Stimme
zu hören als die des Fundaments. Heideggers
"Verwindung" setzt
sozusagen das Subjekt "auf Diät": anstelle eines
"sogetto forte"
tritt ein "sogetto" ein, das fähig ist, "seine An-
und Abwesenheit
in den Fäden einer durch den empfindlichen
Kommunikationsorganismus verwandelten Gesellschaft"
aufzulösen.
Der zweite Teil,
"Die
Wahrheit der Kunst", thematisiert die
"Zwei-Deutigkeit" des Nihilismus
in der Erfahrung der Kunst, die durch die
"Medialisierung" nicht
bloß eine Auflösung, im Sinne eines Absterbens der
Kunst,
sondern eher als die Art und Weise wie die Kunst
(als Utopie, Kitsch
oder Schweigen) ihre bisherigen metaphysischen
Dimensionen aufgibt –
und dabei einen neuen Erfahrungshorizont eröffnet.
In diesem
Sinne, sagt der Autor, Heidegger folgend, wird die
Kunst zu einem
Wahrheits- und Entbergungsgeschehen. Sie zeigt, in
der Figur der
Zerbrechlichkeit, daß Wahrheit nicht nur
(metaphysisch) als eine
stabile Struktur, sondern als Ereignis
verstanden werden muß, d.h. daß die Klarheit und
Evidenz
metaphysischer Prinzipien nur einseitig die im
Halbdunkel wesenden
Bezüge der Sterblichen zu den wechselnden
Fundamenten zur Sprache
bringt. Nicht nur das dichterische Wort (Kap. IV),
sondern auch das
ornamentale Mahmal (Kap. V) zeugen von dieser
Zerbrechlichkeit. Was
dabei "ins Werk gesetzt wird", sagt Vattimo im
Anscluß an
Heidegger, ist nicht bloß der Konflikt zwischen
einer
entborgenen. bzw. thematisierten und einer noch
nicht thematisierten
(aber durchaus thematisierbaren) Welt, sondern der
bleibende "Streit"
zwischen dem sich Ereignenden (bei Heidegger:
"Welt") und dem sich
dabei immer Entziehenden (bei Heidegger: "Erde").
Indem das Kunstwerk die Grundbezüge neu ordnet bzw.
indem sie entbirgt,
vollzieht es eine, wie
Vattimo in Anschluß an Th. S. Kuhn sagt,
"künstlerische
Revolution" bzw. einem "Paradigmenwechsel" (Kap.
VI). Hier knüpft
der Verfasser an Nietzsches Gedanken vom positiven
Nihilismus an, der
in der Kunst die zentrale "Macht" mitten in der
Moderne, d.h. in der
Zeit des Fortschrittsglaubens und der
Säkularisation, steht.
Der dritte Teil
der
Untersuchungen, "Das Ende der Moderne", ist vor
allem der Rolle der Hermeneutik bei der "Verwindung"
des Nihilismus gewidmet. Dabei setzt sich Vattimo
zunächst mit
H.-G. Gadamer, anschließend mit R. Rorty und
schließlich
mit Heidegger auseinander. Zunächst zeigt er, daß
Gadamers
Ästhetik eine Umdeutung der von Heidegger
thematisierten Erfahrung
des Verlustes eines Fundaments bedeutet. In der Tat,
die Hermeneutik
des Daseins und später das "An-denken" dienen nicht
dazu, die
Ursprünge besser zu rekonstruieren. Nicht die
historischen
Horizonte selbst (und ihre Wechselhaftigkeit) stehen
im Vordergrund,
sondern eben die Erfahrung des "Ab-Grundes", d.h.
eines "schwachen",
sich gewissermaßen verflüchtigenden, in das Nichts
sich
auflösenden "Seins" oder, mit anderen Worten, die
Erfahrung der
zwischen Geburt und Tod sich abspielenden
menschlichen Sterblichkeit.
Gadamer will, gegenüber dem Neukantianismus mit
seiner Betonung
der Rolle des Beobachters und seiner "Erlebnisse",
die
Wahrheitsdimension (die die Wissenschaft für sich
gepachtet zu
haben glaubt) auch für die Kunstwerke gelten lassen.
Das Kunstwerk
spricht geschichtlich, und so ist auch eine
geschichtliche Erfahrung
diejenige, die der Beobachter mit ihm macht, wodurch
beide (!) sich
verändern. Bekanntlich nennt Gadamer ein solches
Geschehen
"Wirkungsgeschichte". Nach Vattimo betont aber
Heidegger gerade die
Punktualität (den "Sprung in den Abgrund"...) der
ästhetischen Erfahrung, ihren ephemeren Charakter,
ihre
Diskontinuität, die ihrerseits aus dem Bezug des
Kunstwerkes zu
ihrem von ihm nicht beleuchteten "Grund" (zum
"Ab-Grund") also, bzw.
zur "Erde") entspringt. Ein solches "Erlebnis" wird
dadurch nicht mehr
durch die metaphysische Struktur von Subjekt und
Objekt deutbar bzw.
ist kein "romantisches" Erlebnis.
In Anschluß an Gadamer (Kap. VIII) erörtert Vattimo
die
"Urbanisierung der Heideggerschen Provinz"
(Habermas) im Sinne einer
Ausarbeitung der Beziehungen zwischen Wahrheit und
Sprache. Dabei
betont er den Unterschied zwischen Wahrheit als
methodische
Verifizierbarkeit nach öffentliche und
kontrollierbaren Kriterien
und Wahrheit im Sinne der Zugehörigkeit zu einem
lebendigen
gemeinschaftlichen Horizont bzw. zu einem lebendigen
öffentlichen
und ethischen Logos. Dieser zweite "rhetorische"
Sinn von Wahrheit
bildet den notwengiden Hintergrund (das
"Vorverständnis" der
ersten, wobei die Möglichkeit des gemeinsamen
"epochalen" Irrens
nicht ausgeschlossen werden kann.
Der Verfasser betont aber die Notwendigkeit, jene
"existenzialen"
"topoi" nicht aus dem Auge zu verlieren (etwa
"Eigentlichkeit",
"Vorlaufen zum Tode" usw.), die, beim
"konfliktualen" Charakter
des Kunstwerkes, eine kritische Funktion gegenüber
dem
"Gemeinsinn" ausüben sollen. Unter dem Titel
"Hemeneutik und
Anthropologie" (Kap. IX) behandelt Vattimo das
anthropologische
Grundproblem des Verstehens von Fremdkulturen. Nicht
Texte, sondern
ethnographische "Kontexte" bilden den
hermeneutischen Gegenstand dieser
Wissenschaft. R. Rorty faßt die ethnographische
Hermeneutik als
Gegenstück zu der von ihm kritisierten Epistemologie
auf:
Während diese alle Unterschiede zwischen den
Diskursen ebnet, geht
die Hermeneutik von der Pluralität aus und sucht
lediglich sich
die "Fremdsprache" anzueignen. In der Sprache Th. S.
Kuhns: Der
epistemologische Diskurs ist der der "normalen
Wissenschaft", die
Hermeneutik ist wesentlich "revolutionär". Dennoch,
so der Autor,
scheint zum Kern der (Heideggerschen) Hermeneutik
sowohl die "Zwiefalt"
(etwa zwischen "Sein" und "Seiendem") als auch die
"Selbigkeit" zu
gehören. Unsere gegenwärtige Welt steht eindeutig
(!) unter
dem Vorzeichen der "Verwestlichung", die alle
Unterschiede im vorhinein
zu ebnen scheint. In dieser Situation entschwindet
das von der
(hermeneutischen) Anthropologie gesuchte "Andere"...
Die Hermeneutik
wird "gezwungen", über "das Selbe" zu denken. Die
Verwestlichung
der Welt ist nicht einfach eine totale
Homologisierung in
eintönige technologischen Schemen ─ sondern eine
riesige Sammlung
von überlebenden Formen, also etwas Hybrides. Die
Alterität
wird "diffus". Alles ist gewissermaßen
"kontaminiert". Es ist
gerade diese Kontaminierung,
betont der Verfasser, die den einzigen Ausweg bzw.
die einzige Chance
bildet, um eine Metaphysik
der totalen Organisation, aber auch eine bloße
"Theatralisierung"
vergangener Formen (hermeneutisch) zu "verwinden".
Auf diesen Gedanken kommt Vattimo im letzten Kapitel
seines Buches
zurück. Der Titel: "Nihilismus und Postmoderne in
der Philosophie"
erinnert an die anfangs erörterten Thesen über die
"Verwindung" des Nihilismus. Für Nietzsche sind die
"Epigonen",
d.h. die Menschen am Ende der Moderne, nicht mehr in
der Lage, etwas
Neues zu schaffen, sie können bloß die Kostüme der
Vergangenheit nutzen. Als Ausweg sucht Nietzsche
zunächst die
Kunst und die Religion (etwas zur Zeit der Zweiten
"Unzeitgemäßen Betrachtung", 1874), während später
(in "Menschliches, Allzumenschliches", 1878) die
nihilistische
Erfahrung des "Todes Gottes" bzw. der
Auflösung der obersten
Werte leitend wird. Gegenüber der modernen
Gleichung: Sein =
Novum stellt Nietzsche seine Formel von der "Ewigen
Wiederkehr des
Gleichen" auf. Das ´Denken sucht dabei nicht mehr
den Ursprung,
sondern gewinnt Sinn für "die
nächste Realität". Die Philosophie der
"Morgenröte" begreift sich auf "Irr-Wegen",
wobei der
"Genesende" gelernt hat, auf die "ursprüngliche
Wahrheit" zu
verzichten: Es ist alles da, was die Metaphysik
hervorgebracht hat,
aber... es schaut, vom Standpunkt des "buon
temperamento", ganz anders
aus! Eine solche "Genesung" stellt ebenfalls
Heideggers "Verwindung der
Metaphysik" dar, deren gegenwärtige Ausformung
Heidegger als das
"Ge-Stell" kennzeichnet. Die "nihilistische"
Erfahrung der
Gundlosigkeit erlaubt es, es in seiner Offenheit,
d.h. als "Geschick"
und als Chance, aufzufassen.
Vattimo kennzeichnet das postmoderne philosophische
Denken als "Denken
des Genusses" ("pensiero della fruizione"), der
"Kontaminierung"
("pensiero della contaminazione") und des
"Ge-Stells". Dem ersten
Hinweis entspricht eine Ethik der "Güter" bzw. des
ästhetischen "Wiedererlebens", ohne Bezug auf
"Ziele" und
"Fortschritt"; das Gegenteil also zu einer Ethik der
Imperative. Der
zweite Hinweis drückt die Möglichkeit des
hermeneutischen
Denkens aus, sich nicht wie die Metaphysik "stark"
bzw. begründend
auszugeben, sondern sich mit allen Formen des
"Logos" zu verbinden und
als "schwache" Wahrheit aufzutreten. Das Denken des
"Ge-Stells"
schließlich bedeutet, daß die Hermeneutik keinen
ausschließlich "humanistischen" Bezug zur modernen
Technik hat,
sondern daß sie dabei "verwindend" wirkt, indem sie
etwa den
Bezug zwischen der Technologie und den
abendländischen Traditionen
herstellt, so daß das "Ge-Stell" auch (!) seinen
metaphysischen
Anspruch verliert und zu "schwingen" beginnt: seine
klaren Umrisse
werden unscharf. In dieser "schwingenden" Welt der
totalen Vermittlung
unserer Erfahrung, in der wir uns bereits befinden,
wird "die Ontologie tatsächlich
hermeneutisch, und die metaphysischen Begriffe von
Subjekt und Objekt,
von Realität und Wahrheit-Grund verlieren an
Gehalt". Vattimo
nennt eine solche Ontologie eine "schwache"
Ontologie. Der Anfang der
Bescheidenheit?
Ich möchte dies ausführliche Darstellung mit drei
Bemerkungen
beschließen. Die erste bezieht sich auf die anfangs
erörterte Deutung der Moderne in der Bundesrepublik
mit der
pauschalierenden Kennzeichnung der Postmoderne als
"Romantik" sowie mit
der Habermasschen klischeeartigen Einordnung von
Nietzsche und
Heidegger in vorgefertigte Schubladen: Habermas
kämpft gegen
Windmühlen, wo in Wahrheit sich überall schon das
"Ge-Stell"
ausgebreitet hat. Meine zweite Bemerkung betrifft
die Frage nach dem
"Ende der Geschichte". Es wäre, so glaube ich,
prägnanter und
präziser zu sagen, daß die Hermeneutik zwischen der
Vorstellung von Geschichte als Fortschritt und dem
Immobilismus der
Geschichtslosigkeit uns die des Geschichtlichen
lehrt, wodurch wir also
die Entstehung des "Neuen" nicht von einem
"fortschreitenden"
Prozeß abhängig machen bzw. die Ereignisse als Ereignisse
vollziehen
können. So kann auch die Technik, lautet schließlich
meine
dritte Bemerkung, in ihrer metaphysischen Form als
"Ge-Stell" erst
"verwunden" werden, wenn wir lernen, sie als
Ereignis zu sehen, d.h.
wenn wir ihre "glänzenden" Leistungen gewissermaßen
im
hermeneutischen "chiaroscuro" dämpfen, indem wir sie
also in ein
unerschöpfliches Kunstwerk verwandeln. Es erübrigt
sich fast
zu sagen, daß Vattimos Buch dringend ins Deutsche
übersetzt
und (nicht nur!) von deutschen Philosophen
"gelesen", d.h. rezipiert
werden sollte.
Letzte
Änderung: 16. November 2022