SINN WAHRNEHMEN


Rafael Capurro



  

 
Keynote bei der 52. Fortbildungsveranstaltung des Deutschen Berufsverbands der Hals-Nasen-Ohrenärzte e.V., Mannheim, 31. Oktober 2018 (PPT)



 

Einführung

Wir leben im digitalen Zeitalter. Das bedeutet nicht nur, dass wir allerlei digitale Geräte benutzen, sondern dass wir uns selbst, unsere Arbeit, unsere Städte, unsere Mobilität, unser soziales und politisches Leben digital vernetzen. Es entsteht eine lokale und globale "Kultur der Digitalität" (Stalder 2016). Man kann dieses Phänomen aus einer Sicht deuten, die ich digitale Ontologie nenne (Capurro 2017). Gemeint ist damit ein Verstehenshorizont unseres Lebens und der Welt, wonach wir glauben, nur das sei wirklich, was digitalisierbar ist. 'Digitalsein oder Nichtsein' lautet die Devise. Das hat Auswirkungen auf die Art und Weise wie wir das Krank- und Gesundsein verstehen und wie wir Heilungsmethoden und -werkzeuge entwickeln und anwenden. Das ist ein weites Feld. wozu die folgenden Ausführungen nur einen sehr kleinen Beitrag leisten, zumal sie sich auf das Phänomen der Sinneswahrnehmungen aus philosophischer und ethischer Sicht beschränken.

Diese Einschränkung ist aber ebenfalls ein weites Feld, allein wenn man die hier angesprochenen Fragen und Phänomene in der Philosophiegeschichte verfolgt und sich dabei nicht nur, wie in diesem Fall, auf einige wenige Höhepunkte der westlichen Tradition bezieht (Scheerer 1995). Ich habe einige Klassiker ausgewählt, nämlich Platon, Aristoteles, Descartes und die phänomenologische Schule repräsentiert durch den schweizerischen Arzt und Psychotherapeuten Medard Boss, den ich die Ehre hatte, persönlich begegnet zu sein (Capurro 2018).

Diese Auswahl hängt nicht nur mit meinen philosophischen Präferenzen, so wie mit meiner persönlichen Vita zusammen, sondern sie ist auch in der Einsicht begründet, dass wir uns in einem Epochenumbruch gegenüber Antike und Neuzeit befinden. Dieser Umbruch, der durch die digitale Technik eingeleitet wurde, ist einerseits die Vollendung der in der Moderne entwickelten Weise des Zusammenhangs zwischen Mensch und Welt, andererseits öffnet er neue Dimensionen des In-der-Welt-seins über den modernen Entwurf des Menschseins hinaus. Er stellt uns als Ärzte und Patienten vor Möglichkeiten, die wir erst anfangen zu erahnen. Sie kritisch in Fachkreisen sowie in einem breiten gesellschaftlichen Kontext zu analysieren, gehört zur Aufgabe der medizinischen Ethik im 21. Jahrhundert. Um dies zu verdeutlichen, lassen Sie mich erst einige Schritte zurückgehen, damit wir hören was Sokrates in Sachen Sinnesorgane und Sinn wahrnehmen sagt.

 

1. Sinn wahrnehmen in der Antike

Im Platons Dialog Theaitetos unterhalten sich Sokrates und Theaitetos wie folgt.

"Sokrates: Leichte Gewandtheit in Worten und Wendungen unter Vermeiden allzu peinlicher Genauigkeit macht meistens nicht den Eindruck des Unedeln, eher hat das Gegenteil etwas Unfreies an sich. Doch gibt es Fälle, wo dies Gegenteil notwendig ist; so müssen wir jetzt deine Antwort gehörig anfassen, insoweit, als sie nicht richtig ist. Denn bedenke: welche Antwort ist richtiger: "Womit (ho, ᾧ)  wir sehen, das seien die Augen" oder "wodurch (di' hou, δι᾽ οὗ) wir sehen", und "womit wir hören" oder "wodurch wir hören"?"
Worauf Theaitetos erwidert: ""Wodurch" ist für alle Wahrnehmungen, wie mir scheint zutreffender als "Womit"." (Theät. 184c)

Es gibt Fälle bei denen es sich lohnt, auf die Worte genau zu achten. Was macht es für einen Unterschied von den Sinnesorganen als etwas "wodurch" und nicht "womit" wir etwas wahrnehmen zu sprechen? Der Ausdruck "wodurch" soll anzeigen, dass alle Sinnesorgane (orgánon, ὀργάνων) sich auf eine gemeinsame Idee (eis mían tiná idéan, εἰς μίαν τινὰ ἰδέαν) auf den Sinn also dessen, was sinnlich wahrgenommen wird, beziehen müssen "mag man es nun Seele (psychen, ψυχὴν) nennen oder wie sonst", fügt Sokrates hinzu, wenn von Erkenntnis die Rede sein soll (Theät. 184d). Die Alternative wäre, dass die Sinneswahrnehmungen (aistheseis, αἰσθήσεις) wie beim "Pferd der Dorer" (doureios hippois, δουρείοις ἵπποις) (Theät. 184d) nebeneinander liegen. Jedes Organ würde das Eigene (ídion, ἴδιον) wahrnehmen und keiner wäre in der Lage das Gemeinsame (ta koiná, τὰ κοινά) zu erkennen. Dieses Gemeinsame, dass das Wahrgenommene in Bezug zueinander setzt, betrifft "Sein und Nichtsein und Ähnlichkeit und Unähnlichkeit und Identität und Verschiedenheit, ferner das Eins und was sonst von Zahlen von ihnen ausgesagt wird." (Theät. 185d-e). Die Unterscheidung zwischen den Sinnesorganen als etwas "wodurch" und nicht "womit" die Seele "oder wie man sie sonst nennen mag" soll die von Theaitetos vertretene Gleichsetzung von Wahrnehmung und Erkenntnis in Frage stellen. Ohne den Anteil der Seele am Vorgang des Wahrnehmens, ist das Wahrgenommene 'sinn-los'. Der Hinweis auf das "Pferd der Dorer" ist ein ironischer Hinweis auf das trojanische Pferd, das heißt, auf die Möglichkeit der Täuschung, die allem Künstlichen eigen ist. In diesem Fall auf die Täuschung, die Sinnesorgane würden Sinn wahrnehmen, wenn die Seele nicht "durch" sie wahrnimmt.

Vermutlich wird jemand die sokratische Unterscheidung zwischen "wodurch" und "womit" als eine Scheinunterscheidung entlarven und die Seele "oder wie man sie sonst nennen mag" als ein metaphysisches Relikt ansehen. Anstelle von Seele sind Algorithmen ― so kann man im digitalen Zeitalter die Seele nennen ―in der Lage, Sein von Nichtsein usw. zu unterscheiden. HNO-Ärzte werden zu Recht darauf hinweisen, dass ihr Fach gerade darin besteht, einzelne Sinnesorgane als solche zu betrachten, sich also auf das jeweilige Eigene der Sinneswahrnehmungen zu beschränken, und das Eigentümliche des leiblichen In-der-Welt-seins des Menschen, worüber später die Rede sein wird, außer Acht zu lassen. Wissenschaft basiert auf Reduktionismus.

Es ist im Rahmen dieses Vortrags nicht möglich, Platons ausführliche Erörterung der Sinnesorgane im Dialog Timaios darzulegen. Nur soviel mit Bezug auf die besondere Bedeutung, die Platon dem Sehvermögen und dem Gehör, beimisst. Er schreibt:

"Die Sehkraft (opsis, ὄψις) nun ist es, der wir nach meinem Urteil den größten Nutzen zu verdanken haben; denn wären wir nicht des Anblickes der Sterne, der Sonne und des Himmelsgewölbes teilhaftig geworden, dann wäre von unseren jetzigen Erörterungen über das Weltall überhaupt kein Wort über unsere Lippen gekommen; so aber haben der Anblick von Tag und Nacht und der Ablauf der Monate und die Jahresumläufe uns zur Kenntnis der Zahl verholfen und uns die Vorstellung der Zeit und die Möglichkeit und den Trieb zur Untersuchung des Alls gegeben. Daraus ist uns die eigentümliche Betrachtungsweise der Philosophie erwachsen, des größten Gutes, das dem sterblichen Geschlecht von den Göttern verliehen ward und überhaupt verliehen werden kann. [...] Gott erfand für uns und schenkte uns die Sehkraft, damit wir uns aus der Betrachtung der Kreisbewegungen am Himmel Nutzen zögen für die Gestaltung der Umläufe in unserem eigenen Gedankenreiche; denn diese Umläufe sind mit jenen verwandt, nur daß sie in ihrer Ordnung gestört, jene dagegen jeder Störung enthoben sind: sie sollten wir verstehen lernen und  uns die Berechnung ihres naturgemäßen Ganges zu eigen machen, um durch die Nachahmung der göttlichen, unfehlbar richtigen Umläufe den in unserem eigenen Inneren sich vollziehenden schwankenden Umläufen einen festen Halt zu gewähren." (Platon, Timaios, 47 a- b)

In Anschluss daran schreibt er über das Gehör:

"Auch für den Schall (die Stimme) und das Gehör gilt denn der nämliche Spruch: sie sind uns zu dem nämlichen Zweck und in der nämlichen Absicht von den Göttern verliehen worden. Denn nicht nur die Sprache ist eben zu diesem Zwecke bestimmt und hat den stärksten Anteil dabei, sondern auch, was von der Musik durch den Schall nützlich ist für das Gehör, ist uns der Harmonie wegen geschenkt worden." (Platon, Timaios, 47 c-d)

Wahrnehmungslehre, Theologie, Astronomie, Sprache, Musik und Ethik gehören für Platon eng zusammen.

Eine Kernthese der aristotelischen Erkenntnistheorie besagt, dass das Denkvermögen (nous, νοῦς) den Sinn (eidos, εἶδος; morphé, μορφή) dessen erfasst, was durch die Sinnesorgane wahrgenommen wird. Dies geschieht mittels der durch die Vorstellungskraft (phantasia, φαντασία) abstrahierten Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge "ohne dessen Materie" (Aristoteles, Über die Seele, III, 431 a 16). Das Denkvermögen vollzieht eine Hin- und Rückkehrbewegung zum Wahrgenommenen. Es wird sinnlich 'in-formiert' und es 'in-formiert' d.h. erfasst den Sinn des Wahrgenommenen zugleich (Capurro 1978, 34-49). Bei Thomas von Aquin lauten die Bezeichnungen für dieses feedback "abstractio" und "conversio ad phantasmata" (Capurro, 1978, 127-133). Der Theologe Karl Rahner hat in seiner Schrift Geist in Welt eine berühmte an Kant orientierte Deutung dieser aristotelisch-thomistischen These vorgelegt (Rahner 1957; Capurro 1978, 130).

Die Sinnesorgane nehmen jeweils das wahr, was ihnen eigentümlich ist: "Die Wahrnehmung der eigentümlichen Gegenstände (aisthesis ton idíon, αἴσθησις τῶν ἰδίων)" so Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele, "ist immer wahr, und sie kommt auch allen Tieren zu, das Nachdenken kann auch falsch sein und kommt nur dem Wesen zu, das auch Verstand hat." (Aristoteles, Über die Seele, III, 427 b 29-32). Die Frage nach dem Medium (metaxy, μεταξὺ) zwischen dem jeweiligen Wahrnehmungsorgan (aistheterion, αἰσθητήριον) und dem Wahrgenommenen zieht sich wie roter Faden durch die Erörterung der Sinneswahrnehmung. Das Medium der Wahrheit ist für Aristoteles nicht die Sinneswahrnehmung, sondern die Sprache (logos). In Bezug auf den Gesichtssinn (opsis, ὄψις) schreibt er:

"Wenn einer das Farbige unmittelbar auf das Auge legt, so wird es nicht sehen. vielmehr erregt die Farbe das Durchsichtige, z.B. die Luft, von diesem aber als einem Zusammenhängenden wird das Sinneswerkzeug erregt. Denn Demokrit sagt nicht mit Recht, wenn das Medium leer würde, könnte auch eine Ameise deutlich am Himmel gesehen werden. Das ist unmöglich. Denn das Sehen kommt zustande dadurch, daß das Wahrnehmungsvermögen etwas erleidet. Unmöglich aber direkt seitens der gesehenen Farbe: so bleibt also, daß es seitens des Mediums geschieht, und es muß ein Medium geben; ist dieses leer, so wird nicht nur nicht deutlich, sondern überhaupt nichts gesehen." (Aristoteles, Über die Seele, II, 419 a 12-21)

Dementsprechend heißt es im Fall von Schall und Gehör (perí psófou kai akoés; περὶ ψόφου καὶ ἀκοῆς)

"Schallerzeugend ist also, was fähig ist, die einheitliche Luftmasse zusammenhängend bis zum Gehörorgan in Bewegung zu setzen; dem Gehörorgan ist (innere) Luft eingewachsen. Weil es (das Gehörorgan) von Luft umgeben ist, so bewegt sich mit der äußeren Luft die innere. Deshalb hört das Lebewesen nicht überall, und nicht überall dringt Luft ein. Denn nicht überall hat Luft der (Körper-) Teil, der erregt werden soll und beseelt ist." (Aristoteles, Über die Seele, II, 420 a 2-7)

Im Falle des Geruchssinns schreibt er:

"[...] die Eigentümlichkeit des Geruchs (osmé,  ὀσμή)  liegt nicht so offen da wie die des Schalls oder der Farbe. Ursache davon ist, daß dieser Sinn bei uns nicht scharf ist, sondern schlechter als bei vielen Tieren. Denn nur ungenügend riecht der Mensch, und er riecht Riechbares nicht ohne ein Gefühl des Unangenehmen oder Lustvollen zu empfinden, weil eben das Sinneswerkzeug nicht scharf ist." (Aristoteles, Über die Seele, II, 421 a 8-13).

Die Sinneswahrnehmungen des Schmeckens und Tastens sind eng miteinander verbunden. Ich zitiere ausführlich:

"Der Gegenstand des Schmeckens (das Schmeckbare) (geustón, γευστόν)", so Aristoteles, "ist ein Tastbares (haptón ti, ἁπτόν τι). Und das ist der Grund, daß es nicht durch einen fremden Körper als Medium (metaxy, μεταξὺ) wahrgenommen wird, so wenig wie das Getastete. Aber auch, was den Körper anbelangt, in dem Geschmack ist, das Schmeckbare, so liegt es im Feuchten als Stoff, und dieses ist etwas Tastbares. Deshalb würden wir auch im Falle, daß wir im Wasser lebten, das hineingemischte Süße wahrnehmen. Wir würden es aber nicht durch das Medium wahrnehmen, sondern weil es mit dem Feuchten vermischt ist, wie bei einem Getränk. [...] Nichts bewirkt eine Geschmackswahrnehmung ohne Feuchtigkeit, sondern Schmeckbares enthält der Wirklichkeit oder Möglichkeit nach Feuchtigkeit, wie das Salzige; denn es zerfließt selber leicht und vermag die Zunge zum Fließen zu bringen. [...] Das Trinkbare gehört übrigens ebenso dem Tastsinn wie dem Geschmacksinn an. Da das Schmeckbare feucht ist, darf auch sein Sinneswerkzeug weder feucht der Erfüllung nach sein noch unfähig feucht zu werden. Das Geschmackvermögen erleidet ja etwas vom Schmeckbaren als Schmeckbarem. Also muß, was ohne zugrunde zu gehen feucht fähig ist, aber nicht feucht ist, feucht werden: eben das Geschmacksorgan. Beweis dafür ist, daß die Zunge weder wenn sie trocken, noch wenn sie feucht ist, wahrnimmt." (Aristoteles, Über die Seele, II, 422 a 36 ff).

Beim Tastsinn (hafé, ἁφὴ) stellt Aristoteles die Frage, welches das Organ ist, ob etwa das Fleisch (sarx, σὰρξ) oder die Haut (hymena, ὑμένα) oder ob diese nur ein Medium eines "inneren Sinneswerkzeuges" (aisthetérion entós, αἰσθητήριον ἐντός) sind (Aristoteles, Über die Seele, II, 422 b 22). Auf Aristoteles kann man sich verlassen: wenn er eine Frage nicht klar beantworten kann, lässt er sie offen. Am Schluss der Schrift Über die Seele schreibt er über den Tastsinn Folgendes: "Es ist also klar, daß nur beim Verlust dieses Sinnes die Lebewesen sterben müssen." (Aristoteles, Über die Seele, III, 435 b 5). In der Hierarchie der Sinnesorgane steht für Aristoteles nicht das Sehen an erster Stelle, sondern das Tasten als Bedingung sine qua non um überhaupt in der Welt überleben zu können.  Aristoteles war Biologe. Er wusste genau worauf es bei Lebewesen zuerst ankommt.

In Raffaels Fresko Die Schule von Athen, dass 1510 in der Stanza della Segnatura des Vatikans entstand, hält Aristoteles seine Ethik in der linken Hand und weist mit dem rechten horizontal erstreckten Arm auf die Welt hin, während Platon, den Timaios in der linken Hand haltend, den rechten Arm vertikal zum Himmel erstreckt.


2. Sinn wahrnehmen in der Neuzeit

Wir machen einen großen Sprung von der Antike zur Neuzeit. Was als eine Frage der Vermittlung durch die Sinnesorgane zwischen der Seele und der sinnlich erfahrbaren Welt in der griechischen Philosophie gedeutet wurde, gewinnt in der Neuzeit, und ich beschränke mich auf René Descartes (1596-1650), ein radikales Neuverständnis. Die Seele wird zum "denkenden Ding" (res cogitans) im Gegensatz zum "ausgedehnten Ding" (res extensa). Was ist ein "denkendes Ding"? In der zweiten Méditation antwortet Descartes wie folgt:

"Mais qu'est-ce doc que je suis? Une chose qui pense. Qu'est-ce qu'une chose qui pense? C'est à dire une chose qui doute, qui conçoit, qui affirme, qui nie, qui veut, qui ne veut pas, qui imagine aussi, & qui sent." (Descartes, Méditations 1966, IX,  22)

"Aber was bin ich also? Ein denkendes Ding. Was ist ein denkendes Ding? Das ist ein Ding, dass hört, begreift, bejaht, verneint, will, will nicht, sich etwas vorstellt und empfindet." (meine Übersetzung, RC)

Wie soll man sich aber die Verbindung zwischen den beiden Substanzen genau vorstellen? Descartes argumentiert so, dass die Dinge der Außenwelt, die sich bildlich in unserem Gehirn einprägen ("phantasia corporea") den ihnen zugewandten Geist ("mens") "informieren" ("informant") (Descartes, Objectiones, 1996, 160-161). In diesem Gebrauch des lateinischen Wortes "informare" zeigt sich die scheinbare Nähe Descartes zur aristotelischen durch die Scholastik vermittelten Tradition und seinem neuen Verständnis der Beziehung zwischen Denken und Sinneswahrnehmung. Information bedeutet für Descartes nicht nur eine materielle Substanz einprägen, sondern ein Kommunikationsprozess zwischen der eingeprägten "res extensa" und der "res cogitans", wobei unklar ist, wie diese Kommunikation zu verstehen ist (Capurro 1978, 152-154). Diese Schwierigkeit drückt Elisabeth von der Pfalz (1618-1680), Tochter von Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz und König von Böhmen und der Prinzessin Elisabeth von England und Schottland und Nichte von König Karl I. von England, eine der großen gelehrten Frauen des 17. Jahrhunderts, in einem Brief an Descartes, datiert in Den Haag am 10. Juni 1643 aus. Elisabeth ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Sie schreibt:

 "[...] ma stupidité, de ne pouvoir comprendre l'idée par laquelle nous devons iuiger comment l'ame (non estandue & immaterielle) peut mouvoir le corps" (Descartes, Correspondance 1996, III, 684)

"[...] meine Dummheit die Idee nicht verstehen zu können, wonach wir urteilen sollen wie die (unausgedehnte und immaterielle) Seele den Körper bewegen kann." (meine Übersetzung RC).

Er antwortet ihr postwendend. In einem vorhergehenden Brief vom 21. Mai 1643 hatte er ihr geschrieben, dass er sich sehr geehrt fühlt, die Gunst ihrer "Befehle" ("ses commandemens") brieflich zu bekommen. Ihre Gunst, schreibt Descartes, lindert seine Fehler mehr als jene die er mit Leidenschaft ("avec passion") gewünscht hatte, und die da wäre, ihre Befehle "mündlich zu bekommen" ("recevoir de bouche"). (Descartes, Correspondance, 1996, III, 663). Das erste Treffen kam vermutlich 1644 zustande (Descartes, Correspondance, 1996, IV, 106). Sie haben sich 1646 zum letzten Mal wieder gesehen (Correspondance, 1996, IV, 452, 493). Am 10. Oktober 1646 schreibt sie ihm aus Berlin und erzählt vom Augenleiden des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688). Man hatte ihn ein Stück Haut ("une petite peau") ans rechte Auge getan, das mit Hilfe von Salzwasser aus dem Heilbrunnen zu Hornhausen (bei Magdeburg) sich löste so dass er schemenhaft Menschen erkennen kann, wenn er das linke Auge schließt. Er sei ein Mann von starker Konstitution und "schlechter Diät", schreibt Elisabeth, so dass er eine gute Darmreinigung ("une bonne purge"), wie in anderen Fällen, sicherlich nicht schaden kann (Descartes, Corrspondance, 1996, IV, 523-524). Descartes antwortet: "Es gibt sicherlich kein Mittel, das alle Beschwerden heilen kann" ("il est certain qu'il n'y a point de remede qui puisse servir à tous les maux"). (Descartes, Correspondance, 1996, IV, 531).

Kehren wir aber zum Brief von 1643 zurück. Die Seele kann man nur durch den reinen Verstand ("l'entendement pur") verstehen. Den ausgedehnten Körper, seine verschiedenen Weisen des Aussehens und der Bewegung, erkennt man viel besser mit Hilfe der Einbildungskraft. Was die Einheit von Seele und Körper betrifft, man kann durch Verstand allein sowie mit Hilfe der Einbildungskraft nur "dunkel" ("obscurement") aber sehr deutlich mit Hilfe der Sinne ("les sens") erkennen. Daher kommt es, so Descartes ironisch, dass diejenigen, die nie philosophieren und sich nur ihrer Sinne bedienen, keinen Zweifel daran haben, dass die Seele den Körper bewegt und dass der Körper auf die Seele sich auswirkt. Sie betrachten beides, Seele und Körper, wie "ein einziges Ding" ("une seule chose"). Dieser Erklärung fügt Descartes eine Entschuldigung wegen seines scherzhaften Tons hinzu. Er hofft, dass Ihre Hoheit nicht glaubt, er hätte die Sache nicht Ernst gemeint! (Descartes, Correspondance 1996, III, 690-692) Dass er mit der Verbindung zwischen den zwei Substanzen durchaus Ernst meint, zeigt die Regel 12 seiner Regulae ad directionem ingenii, ein Titel bei dem, wie oft bei Descartes, Erinnerungen an seine Schulzeit (1607-1614) bei den Jesuiten im Collège royal von La Flèche anklingen. Bei dieser Regel geht es darum, alle Hilfsquellen des Verstandes, der Einbildungskraft, der Sinne und des Gedächtnisses beim Erkenntnisprozess heranzuziehen (Descartes, Regulae 1996). Am Schluss eines Briefes von 1643 warnt er die Prinzessin davor, sich zu oft mit metaphysischen Prinzipien zu beschäftigen. Es genügt, sie einmal im Leben verstanden zu haben, den Rest der Zeit sollte man sich den Dingen zuwenden, bei denen die Vernunft mit der Einbildungskraft und den Sinnen zusammen wirkt (Descartes, Correspondance 1996, III, 695). In ihrem Brief vom 25. April 1646 äußert sich Elisabeth lobend über seine Erklärungen über die Leidenschaften im Traité des Passions aber kritisch über den "physischen Teil" des Traktats (Descartes, Correspondance, IV, 404). Sie sehnt sich danach, dass er seine "angenehme Einsamkeit" ("agréable solitude") unterbricht und ihr "die Freude macht, ihn zu sehen" ("me donner le bonheur de vous voir") (ibid. 448).

In Les passions de l'ame, erschienen 1649 in Amsterdam und Paris ein Jahr vor seinem Tod, erörtert Descartes die Leidenschaften der Seele in Zusammenhang mit denen des Körpers. Es ist zugleich ein medizinisches, ein psychotherapeutisches und ein moralphilosophisches Traktat dessen Entwurf 1645-46 entstand. Er hatte es für Elisabeth auf ihre Bitte hin geschrieben (Descartes, Correspondance IV, 289; Rodis-Lewis 1995, 257). Durch die Vermittlung von Alfonso Pallotti (1602-1688), ein Italiener im Dienste des Statthalters Frederik Hendrik van Oranje (1625-1647), lernten sich Descartes und Elisabeth kennen. Am 6. Oktober 1642 schreibt Descartes an Palloti von Schloß Endegeest in der Nähe von Leyden aus, wo er sich vom 31. März bis 1641 bis Mai 1643 aufhielt. Er hätte, schreibt er, "so viel Wunderbares" ("tant de merueilles") über den "hervorragenden Geist" (l'excellent esprit") von Madame la Princesse de Boëme gehört, dass er nicht überrascht ist, zu hören, dass sie metaphysische Schriften liest und "die Güte hatte seine zu lesen". Er hält viel mehr vom ihrem Urteil ("son iugement") als von dem der Herrn Doktoren, die "als Wahrheitsregel die Meinungen von Aristoteles anstelle der Evidenz des Verstandes ("l'euidence de la raison") nehmen". (Descartes, Correspondance, III, 577, meine Übersetzung, RC). Seine Meditationes de prima philosophia  oder Méditations métaphysiques, eine Kritik des Schularistotelismus, erschienen 1641 auf Latein in Paris und die zweite Auflage ebenfalls in 1641 in Amsterdam. Die französische Übersetzung erschien 1647 in Paris.

Im Mittelpunkt von Les passions de l'ame steht die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Seele und Körper. Die Seele hat ihren "Hauptsitz" ("son siege principal") in der Zwirbeldrüse von wo aus sie "mittels der Lebensgeister, der Nerven und selbst des Blutes" in die gesamte "Körpermaschine" ("machine de notre corps") "ausstrahlt" ("rayonne") (Descartes, Les passions de l'ame, 1996, XI, 354). Was Passivität und Aktivität im Falle der Seele und des Körpers jeweils bedeutet, ist genau zu definieren. Die "Außenobjekte" ("objets de dehors") wirken auf die Sinnesorgane, die sich unabhängig von der Seele bewegen können  (ders. 336, 341). Die Seele ihrerseits ist aktiv in den Dingen die ihr eigen sind, wie das Denken und der Wille, ist aber passiv bezüglich dessen, was eine andere Ursache als sie selbst ist. Im Laufe des Traktats analysiert Descartes die verschiedenen Formen der Wechselwirkung zwischen den jeweiligen "Leidenschaften", wobei er zwischen einer psycho-physischen Einheit und einer scharfen Trennung zwischen Seele und Körper schwankt. Die Möglichkeit, unsere seelischen und körperlichen Leidenschaften zu regulieren ("regler") hängt von unserem Wissen darüber sowie von unserem Willen ab. Wenn man sich Mühe gibt, besteht die Möglichkeit eine "absolute Herrschaft" ("un empire tres-absolu) über sie zu erlangen (ders. 370). Wir müssen dabei lernen zwischen den Bewegungen "des Blutes und der Geister von den Gedanken mit denen sie gewöhnlich verbunden werden und den Gedanken mit denen sie für gewöhnlich verbunden sind" ("En s'exerçant à separer en soy les mouvements du sang & des esprits, d'avec les pensées ausquelles ils ont coustume d'estre joins") (ders. 486, meine Übersetzung RC) zu unterscheiden. Er muss aber gestehen, fügt er hinzu, dass er wenige Leute kennt, die darauf vorbereitet sind, auch weil das, was auf den Körper einwirkt ("impressions") oft so stark ist, dass die Seele und überhaupt die menschliche Weisheit ("sagesse humaine") kaum Chancen hat, etwas dagegen zu tun (ders. 486).

Zu Beginn des kleinen Essays La dioptrique, der dem Discours de la méthode (1637) angehängt ist, schreibt Descartes, dass "unser ganzes Lebensverhalten von unseren Sinnen abhängt". Er hebt dabei das Sehen als das "universellste und edelste" der Sinne hervor. Jene Erfindungen, welche die Macht des Sehorgans erhöhen, sind die nützlichsten. Dazu zählt Descartes jene "wunderbaren Brillen" ("merveilleuses lunettes"), die "erst kürzlich in Gebrauch sind" womit man "neue Himmelskörper sowie andere neue Objekte auf der Erde" entdecken kann (Descartes, La dioptrique, VI, 8). Vier hundert Jahre später sind das 'Fern-sehen', das 'Fern-hören', das 'Fern-sprechen', das 'Fern-tasten', vielleicht sogar demnächst das 'Fern-riechen' hinzugekommen. Mit der hierarchischen Hervorhebung des Sehens steht Descartes in einer Tradition, die bis auf Platon zurückreicht. Der menschliche Körper ist zwar ein Automat, aber, wie er im Discours de la Méthode schreibt, gibt es zwei Wege, die, falls es Maschinen geben sollte, die den Menschen ähneln, uns erlauben den Unterschied zwischen einem Automaten und einem Menschen zu erkennen nicht aber zwischen einer Maschine und einem Tier. Automaten könnten, erstens, die Worte und andere Zeichen nicht so zusammensetzen, wie wir es tun, um anderen unsere Gedanken mitzuteilen und, zweitens, sie würden nicht auf der Grundlage von Erkenntnis ("connaissance") handeln, sondern nur mittels der Zusammensetzung ihrer Organe ("la disposition de leurs organes"), die auf bestimmte Handlungen eingeschränkt sind ― und Maschinen können, in dieser Hinsicht, bestimmte Dinge genau so gut oder sogar besser als wir tun  ― während der Verstand ein "universelles Werkzeug" ("instrument universel") ist, das uns erlaubt in allen möglichen Lebenssituationen ("occurrences de la vie") zu handeln. Maschinen können also wegen dieses Mangel an universelle Rationalität nicht verantwortlich für ihr Handeln gemacht werden (Descartes, Discours de la méthode, 1996, 56-57). In seinem 1662 posthum erschienen Traité de l'homme, geht Descartes en détail auf die Beschreibung des menschlichen Körpers als eine Maschine ein, und vergleicht die Nerven mit den Röhren ("tuyaux") in den Springbrunnen und Grotten königlicher Gärten, und die "ame raisonable" mit dem "Brunnenbauer" ("fontenier") der überall da sein muss, um die Bewegungen der  Röhren zu verhindern oder um ihre Richtung zu verändern (Descartes, L'homme, XI, 130-132).

Im September 1649 nimmt Descartes eine Einladung von Königin Christine von Schweden, ihr Lehrmeister ("tuteur") zu werden, an. Die Gespräche fanden um fünf Uhr morgens statt. Er schreibt an Elisabeth am 9. Oktober 1649, dass er nicht glaubt, länger als bis zum Sommer in Schweden zu bleiben (Descartes, Correspondance 1969, V, 431). Elisabeth antwortet am 4. Dezember 1649, er soll nicht glauben, sie wäre eifersüchtig. Sie hofft ihn bald wieder zu sehen (Descartes, Correspondance 1969, V, 451-452). Descartes stirbt am 11. Februar 1650.

Descartes ist nicht Theaitetos und auch nicht Sokrates. Er setzt Wahrnehmung und Erkenntnis nicht gleich, sondern ganz im Gegenteil. Die Seele als "res cogitans" nimmt am materiellen Vorgang der Sinneswahrnehmung nicht teil. Dennoch findet ein commercium statt, das aber anders aussieht als die sokratische Seele die "durch" die einzelnen Sinnesorgane den gemeinsamen Sinn erfasst. Bei Descartes ist dieser gemeinsame Sinn allein Sache der denkenden Substanz auch wenn im Erkenntnisprozess beide Quellen, die Seele und die Sinneswahrnehmungen in Wechselwirkung treten. Dennoch ist weder auf jene von der Seele erfassten Ideen noch auf das, was die Sinneswahrnehmungen erbringen letztlich Verlass. Der methodische Zweifel findet nur ein sicheres Fundament in der Gewissheit des Selbstdenkens, losgelöst von der Welt und den anderen "denkenden Dingen". Die von Descartes vollzogene Trennung zwischen Subjekt und Außenwelt ist eine petitio principii. Descartes ist einen Denkweg gegangen, in dem er Lebewesen als Automaten verstand, der bis heute nachwirkt nicht zuletzt auf dem Gebiet der Robotik. Zugleich war dieser Denkweg ein Lebensweg. Man kann viel von ihm lernen, wenn man diesen Lebensweg nicht cartesisch, sondern phänomenologisch liest. Das war ein Grund, warum in dieser Darstellung sowohl sein Denken als auch sein Leben zur Sprache kamen.

3. Sinn wahrnehmen aus phänomenologischer Sicht

Ich mache erneut einen großen Sprung und übergehe viele bedeutende Autoren und streife nur den Gründer der neueren phänomenologischen Bewegung, Edmund Husserl (1859-1938) und den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908-1961). Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, erschien 1913 (Husserl 1975), seine Kritik an Descartes in den Cartesianische Meditationen (Husserl 1992) und sein letztes unvollendetes Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie erschienen 1936 in Belgrad (Husserl 1992) beeinflussten nachhaltig die Phänomenologie im 20. Jahrhundert. Im Merleau-Pontys Meisterwerk Phénoménologie de la perception, erschienen 1945 (Merleau-Ponty 1990), sowie im posthum veröffentlichten Werk Le visible et l'invisible (Merleau-Ponty 2004) steht die körperliche Erfahrung von Welt im Mittelpunkt seines Denkens. Ich zitiere aus Le visible et l'invisible, der uns unmittelbar zum Werk von Medard Boss führt. Er schreibt:

"Car enfin, autant il est sûr que je vois  ma table, que ma vision se termine en elle, qu'elle fixe et arrête mon regard de sa densité insurmontable, que même, moi qui, assis devant ma table, pense au pont de la Concorde, je ne suis pas alors dans mes pensées, je suis au pont de la Concorde, et qu'enfin à l'horizon de toutes ces visions ou quasi-visions, c'est le monde même que j'habite, le monde naturel et le monde historique, avec toutes les traces humaines dont il est fait; autant cette convictions [sic] est combattue, dès que j'y fais attention, par le fait même qu'il s'agit là d'une vision mienne." (Merleau-Ponty 2004, 19)

"Da schließlich, soweit sicher ist, dass ich meinen Tisch sehe, dass mein Sehen an ihm endet, dass er meinen Blick mit seiner unüberwindlichen Dichte fixiert und stoppt und dass sogar ich, der vor meinem Tisch sitze, an die Concorde Brücke denke, bin ich nicht dann in meinen Gedanken, sondern bin an der Concorde Brücke und schließlich der Horizont aller dieser Ansichten oder Quasi-Ansichten, es handelt sich um die Welt selbst, die ich bewohne, die natürliche und die historische Welt, mit allen menschlichen Spuren woraus sie besteht; so weit wird diese Überzeugung ab dem Augenblick bekämpft, wenn ich darauf achte, aufgrund der Tatsache selbst, dass es sich um meine Ansicht handelt." (meine Übersetzung, RC)

Merleau-Ponty wehrt sich gegen cartesische Zweifel, die dann aufkommen, wenn die Subjektivität von der Außenwelt getrennt ist und das Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft sich im Kopf abspielt.

Als Leitfaden für die folgende phänomenologische Erörterung der Sinneswahnnehmung,  nehme ich das Werk des schweizerischen Arztes und Psychiaters Medard Boss (1903-1990). Boss Hauptwerk Grundriss der Medizin und der Psychologie wurde, wie er schreibt, "über seine ganze Werdezeit über von der unermüdlichen Aufmerksamkeit Martin Heideggers begleitet. Keinem Abschnitt, der eine "philosophische" Aussage enthält, versagte er seine wiederholte Kritik." (Boss 1975, 9). Davor lagen zwischen 1959 und 1968 die Zollikoner Seminare im Hause Boss an denen Studenten sowie Kollegen von Medard Boss teilnahmen ― das erste davon fand im großen Hörsaal des Burghölzli der Psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich statt ― sowie Zwiegespräche, Briefwechsel und gemeinsame Reisen (Boss 1987). Er schreibt für Heidegger zu seinem 80. Geburtstag ein Grußwort, das in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde. Der Schluss lautet:

"Als Erheller des technischen Geistes sind Sie auch der Begründer einer wirksamen Präventiv-Medizin. Bereits nämlich gehört die überwältigende Mehrzahl aller modernen Leiden zu den Krankheiten des Menschen, die man mit einem unglücklichen Namen die "psychosomatischen" nennt. Sie alle haben letztlich ihren Ursprung in einem nicht menschenwürdig bewältigten Verhältnis des Kranken zur modernen Industriegesellschaft unserer Tage. Erste Voraussetzung einer vorbeugenden Korrektur solch pathogenen Sozial-Verhaltens ist die klare Einsicht in das eigentümliche Wesen der diese Gesellschaft bestimmenden Technik." (Boss 1987, 368-369)

Das gilt genauso für die uns heute bestimmende digitale Technik. Die von Boss gegründete Schule der Daseinsanalyse verweist bereits in ihrem Namen auf das Denken Martin Heideggers (1889-1976), insbesondere auf sein frühes Hauptwerk Sein und Zeit hin (Heidegger 1976). Der phänomenologische Durchbruch Heideggers gegenüber der modernen Subjekt-Objekt Spaltung besteht in der Einsicht, dass der Mensch nicht ein isoliertes von der so genannten Außenwelt und den anderen Menschen getrenntes Subjekt ist, sondern immer schon mit anderen eine gemeinsame Welt teilt. Heideggers Formel dazu lautet "In-der-Welt-sein" (Heidegger 1975). Wir, also keine isolierte und von der Außenwelt getrennte "res cogitans", sind immer schon leiblich draußen. In der Vorlesung von 1925, kurz vor dem erscheinen von Sein und Zeit, beschreibt Heidegger dieses "Draußensein" wie folgt:

"Wir vergleichen das Subjekt und seine Innensphäre mit der Schnecke in ihrem Haus. [...] Man könnte sagen: Die Schnecke kriecht zuweilen aus ihrem Gehäuse und behält es dabei zugleich, sie streckt sich nach irgendetwas aus, nach Nahrung, nach gewissen Dingen, die sie am Boden findet. Kommt die Schnecke dadurch erst in ein Seinsverhältnis zur Welt? Nein! Das Herauskriechen ist nur eine örtliche Modifikation ihres Schon-seins-in-der Welt. Auch wenn sie im Gehäuse ist, ist ihr Sein rechtverstandenes Draußensein. Sie ist in ihrem Haus nicht wie das Wasser im Glas, sondern sie hat das Innen ihres Hauses als Welt, daran sie sich stößt, das sie betastet, darin sie sich wärmt und dergleichen. Alles was vom Seinsverhältnis des Wassers im Glase nicht gilt, oder, wenn es zuträfe, auch vom Wasser, nötigte uns aufgrund dessen zu sagen: Wasser hat die Seinsart des Daseins, es ist so, daß es eine Welt hat." (Heidegger 1979, 223-224)

Für unsere Erörterung der Sinneswahrnehmung ist es wichtig festzuhalten, dass das "Draußensein" oder das "Da-sein" wie Heidegger es nennt, sich als räumliche und zeitliche Offenheit mit Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckt im Gegensatz zu einer linearen homogenen Folgen von Jetzt-Punkten. So wurde die Zeit seit der Antike gedacht. Sinnlich wahrnehmen heißt immer Sinn in dieser erstreckten räumlich-temporalen Dreidimensionalität wahrnehmen. Das bedeutet, erstens, dass wir immer etwas als etwas wahrnehmen und nicht etwa Erfahrungsdaten, die im Nachhinein im menschlichen Leib, der nicht dasselbe wie ein lebloser Körper ist, mit seelischen Zutaten sinnhaft gemacht werden. Leiben in der Weise des Existierens in diesem räumlich-temporal bestimmten Offenheitsbereich bedeutet, zweitens, dass nicht nur unsere Sinnesorgane, sondern unser Leib als Ganzes sozusagen raum-zeitlich 'an-gespannt' ist und zwar nicht erst jeder für sich allein, sondern immer schon mit anderen, mit denen wir die Weltoffenheit teilen und sozusagen aushalten. (Capurro 1984). Würden wir methodisch vom einem materiellen Automaten und eines in ihm eingekapselten materielosen denkenden Ding ausgehen, kämen wir nie in diese raum-zeitliche Offenheit hinaus, sondern würden wir uns ständig fragen, nicht nur wie die immaterielle "res cogitans" mit dem Körper, sondern auch mit den ausgedehnten Dingen in der Außenwelt kommuniziert. Sinn vernehmen und sinnlich wahrnehmen bleiben sich fremd auch wenn Descartes sich bemüht, Brücken zu schlagen, um die quaestio de ponte zu lösen. Dinge 'wahr-zu-nehmen', das heißt, sie in ihrer Bedeutsamkeit zu vernehmen indem wir sie sinnlich wahrnehmen, bedeutet auch, dass wir sie nicht nur gegenwärtig, sondern auch in ihrem Gewesensein und Künftigsein an- und abwesen lassen können. "Da-sein" heißt, so Heidegger im Seminar vom 8. September 1959 im Burghölzli, "das Offenhalten eines Bereiches aus Vernehmen-können der Bedeutsamkeiten der Gegebenheiten, die sich ihm aus seiner Gelichtetheit her zusprechen. Menschliches Da-sein ist als ein Bereich von Vernehmen-können nie ein bloß vorhandener Gegenstand." (Boss 1987, 4) Medard Boss erläutert diesen Sachverhalt wir folgt: 

"Jetzt gerade bin ich zum Beispiel hier mit meinem Gesprächspartner beim Thema unserer Diskussion. Ich bin in Südafrika, bei einer dort durchgeführten Herztransplantation. Ich bin aber ineins auch hier, wo dort der Tisch und wo dort drüben das Fenster ist und wo weiter dort draußen das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht. Das jederzeitige »Hier« eines Menschen gibt es immer nur als sein hiesiges Sein bei den Gegebenheiten dort. Also bestimmt sich mein jeweiliges »Hier« stets von dem »Dort« des mir im offenständigen Vernehmensbereich meiner Welt Begegnenden her. [...] Von welcher Seite wir uns auch immer dem Verständnis der Leiblichkeit des Menschen zu nähern versuchen, immer zeigt es sich, daß das "Leiben" das Existieren voraussetzt. Dieses, das Existieren, ist das, was "leibt". Darum ist das Leibliche des Menschen methodisch im Grunde das letzte, wenn es auch das sinnenhaft erste, das zuerst sich dem Blick Aufdrängende ist." (Boss 1975, 284)

Martin Heidegger schreibt:

"Die Weise, wie wir im Hören und Sehen etwas wahrnehmen, geschieht durch die Sinne, ist sinnlich. Diese Feststellungen sind richtig. sie Bleiben dennoch unwahr, weil sie Wesentliches auslassen. Wir hören zwar eine Bachsche Fuge durch die Ohren, allein wenn hier nur dies das Gehörte bliebe, was als Schallwelle das Trommfell beklopft, dann könnten wir niemals eine Bachsche Fuge hören. Wir hören, nicht das Ohr. Wir hören allerdings durch das Ohr, aber nicht mit dem Ohr, wenn "mit" hier sagt, das Ohr als Sinnesorgan sei das, was uns das Gehörte ermittelt. Wenn daher das menschliche Ohr stumpf wird,  d.h. taub, dann kann es sein, daß, wie der Fall Beethovens zeigt, ein Mensch gleichwohl nocht hört, vielleicht sogar noch mehr und Größeres hört als zuvor. Nebenbei sei vermerkt, daß "taub", "tumb" soviel bedeutet wie stumpf, weshalb dasselbe tumb im Griechischen wiederkehren kann im Wort τυφλός, d.h. stumpf im Sehen, also blind.
Das jeweils von uns Gehörte erschöpft sich niemals in dem, was unser Ohr als in gewisser Weise abgesondertes Sinnesorgan aufnimmt. Genauer gesprochen: Wenn wir hören, kommt nicht nur etwas zu dem hinzu, was das Ohr aufnimmt, sonderm das, was das Ohr vernimmt und wie es vernimmt, wird schon durch das gestimmt und bestimmt, was wir hören, sei dies nur, daß wir die Meise und das Rotkehlchen und die Lerche hören. Unser Gehörorgan ist zwar eine in gewisser Hinsicht notwendige, aber niemals eine zureichende Bedingung für unser Hören, jenes, was das eigentlich zu-Vernehmende uns zureicht und gewährt.
Das gleiche gilt für unser Auge und unser Sehen." (Heidegger 1971, 87-88)

Allerdings ist die Frage zu stellen, wer wir jeweils sind, d.h. ein geschichtliches Wer der jeweils anders hört. Meistens hört 'man' was man immer schon gehört hat. In diesen Sätzen Heideggers klingt die am Anfang erwähnte sokratische Unterscheidung zwischen hören 'mit' und  hören 'durch' an.

Im Kapitel "Des senteurs" (Über die Düfte) im ersten Buch der Essais ― die erste Ausgabe erschien 1580 in Bordeaux ― deutet Michel de Montaigne (1503-1599) die Sinneswahrnehmung wie folgt:

"Quelque odeur que ce soit, c'est merveille combien elle s'attache à moi et combien j'ai la peau propre à s'en abreuver. Celui qui se plaint de nature, de quoi elle a laissé l'homme sans instrument à porter les senteurs au nez, a tort; car elles se portent elle-mêmes. Mais à moi particulièrement, les moustaches, que j'ai pleines, m'en servent. Si j'en approche mes gants ou mon mouchoir, l'odeur y tiendra tout un jour. Elles accusent le lieu d'où je viens. Les étroits baisers de la jeunesse, savoureux, gloutons et gluants, s'y collaient autrefois, et s'y tenaient plusieurs heures après. [...] Le principal soin que j'aie à me loger, c'est de fuir l'air puant et pesant. Ces belles villes, Venise et Paris, altèrent la faveur que je leur porte, pour l'aigre senteur, l'une de son marais, l'autre de sa boue." (Montaigne 1965, 433-434)

"Gleich welcher Duft, es ist ein Wunder wie sehr er an mir haftet und wie sehr ich die Haut habe, fähig damit getränkt zu werden. Derjenige der sich über die Natur beschwert, sie hätte den Menschen ohne Werkzeug gelassen, um die Düfte an die Nase zu bringen, hat unrecht; sie bringen sich von selbst. Aber in meinem besonderen Fall, die Schnurrhaare, wovon ich viele habe, dienen mir dazu. Wenn ich meine Handschuhe oder mein Taschentuch an sie annähere, bleibt der Duft einen ganzen Tag erhalten. Sie weisen den Ort, woher ich komme, auf. Die engen Küsse der Jugend, köstlich, gefräßig und klebrig, blieben früher daran haften, und hielten dort mehrere Stunden danach an. [...] Die wichtigste Sorge, die ich bei einer Unterkunft habe, ist der stinkenden und drückenden Luft zu entfliehen. Diese schönen Städte, Venedig und Paris, beeinträchtigen den Gefallen, den ich ihnen entgegenbringe, wegen der saueren Luft, die eine von ihrem Morast, die andere von ihrem Schlamm." (meine Übersetzung, RC)

Montaigne holt sich das Gewesensein der Düfte in der ganzen leiblichen und weltlichen Intensität in die Gegenwart, indem er sich diesem seinem Gewesensein öffnet und dort auch weilt. Was Montaigne so in seine Anwesenheit zurückholt und schriftlich festhält, lässt sich auch auf die von vielen Menschen sinnlich und sinnhaft vorgestellten Welt ausweiten. Peter Süskind beschreibt in seinem Roman Das Parfum wie europäische Städte im 18. Jahrhundert, allen voran Paris, gerochen oder, besser gesagt, gestunken haben mögen. Er schreibt:

"Zu der Zeit, von der wir reden, [das 18. Jahrhundert, RC] herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligen Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend süßen Duft der Nachtöpfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zähnen, aus ihrem Mägen nach Zwiebelsaft und an den Körpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Käse und nach saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgesell wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Denn der zersetzenden Aktivität der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tätigkeit, keine aufbauende und keine zerstörende, keine Äußerung des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wäre. Und natürlich war in Paris der Gestank am größten, denn Paris war die größte Stadt Frankreichs." (Süskind 1985, 5-6).

Das war vielleicht vor dreihundert Jahren aber heute wohl nicht mehr. Wirklich? Björn Finke berichtete kürzlich in der Süddeutschen Zeitung über die Zustände in "Her Majesty's Prison Birmingham" wie folgt:

"Überall Ungeziefer und kaputte Scheiben, auf ungeputzten Böden Blut, Erbrochenes und Rattenexkremente. Wärter schließen sich aus Angst vor den Häftlingen in ihren Zimmern ein. Gefangene können Drogen nehmen oder andere Insassen angreifen, ohne Strafen befürchten zu müssen: Die Zustände in Her Majesty's Prison Birmingham sind derart katastrophal, dass die britische Regierung dem Betreiber, der Dienstleistungsfirma G4S, nun die Verantwortung entzogen und einen neuen Anstaltsleiter eingesetzt hat. [...] Auslöser für den Schritt ist ein Bericht von Peter Clarke, Her Majesty's Chief Inspector of Prisons, also dem obersten Gefängniskontrolleur der Regierung. Er bezeichnet die Anstalt als "das schlimmste Gefängnis", das er je besucht habe. Die Luft in einem Gebäudeflügel sei so drogengeschwängert gewesen, "dass ich ihn wegen des Effekts, den die Drogen auf mich ausübten, verlassen musste". Dort als Wärter zu arbeiten oder als Häftling zu leben, gefährde die Gesundheit, klagt er." (Finke 2018)

Medard Boss weist darauf hin, dass wenn leibliche Schmerzen auftreten, wir mit Weisen eines gestörten "Da-seins" zu tun haben, worauf er ausführlich insbesondere mit Bezug auf Stress-Krankheiten eingeht (Boss 1975, 455-461). Dabei kann "die vernehmende Weltoffenheit des gesamten Zeitraumes" durch eine banale Begebenheit "gestört" werden, indem die Existenz auf die unmittelbare Gegenwart zusammenschrumpft. Er schreibt:

"Nun aber kracht  – so wie es die Art alter Liegestühle zu sein pflegt – mitten in mein offenes und glücklich gestimmtes Weltverhältnis hinein, als welches ich eben gerade noch existierte, unversehens mein Sitz unter mir zusammen. Die hölzernen Winkelstücke des Stuhles klemmen mir dabei mit Wucht die Fingerbeere des Ringfingers meiner rechten Hand ein. Weg ist mit einem Mal die glücklich heitere, gelassene Weite meiner eben noch bestandenen Weltoffenheit. Fort ist das reiche Thema der neuzeitlichen Medizin. Sie entschwanden im Nu in äußerst unthematisch vage Ferne. Zugedeckt ist die ausgedehnte Erstreckung meiner Existenz in ihrer Vergangenheit und Zukunft. Mit einem Schlage ist meine gegenwärtige Welt – auf eine brutale Schmerzhaftigkeit verstimmt, wie ich bin – eingeschrumpft auf den minimalen Raum eines Bezuges zu meiner verletzten Fingerkuppe. Meine Zukunft ist eingeengt auf den Plan, so rasch als möglich etwas gegen der verteufelten Schmerz zu unternehmen." (Boss 1975, 463).

Der Arzt und Daseinsanalytiker Boss braucht also dringend ärztliche Hilfe. Sein Tastsinn ist gestört, losgelöst von seiner Gesamtheit im leiblichen "Dasein". Gestörte Organe melden sich als "Zeug" in ihrer "Vorhandenheit", um an Heideggers berühmte Zeuganalyse zu erinnern (Heidegger 1975, 66-76), indem sie nicht mehr durchlässig oder "zuhanden", sondern ganz oder teilweise unbrauchbar geworden sind. Sie versagen in einer solchen Situation des Bruchs der jeweiligen leiblich und raum-zeitlich erstreckten eigenen Durchsichtigkeit und bringen das "Draußensein" selbst zeitweilig oder dauerhaft zum Absturz. Der Sinn solcher Abstürze bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Jedes menschliche Leben als Leiben ist in ihrer Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit einmalig und universell zugleich. Medard Boss schreibt:

"Über unser Einzelbeispiel hinaus gilt aber vor allem, daß leiblicher Schmerz im ganzen wesensmäßig und daher immer zu einem bestimmten Verletzt-werden oder Verletzt-sein des Weltverhältnisses gehört, als welches ein Mensch jeweils existiert." (Boss 1975, 465)

Das Krankseinkönnen ist nicht ein einmaliger Zustand, sondern gehört zum menschlichen In-der-Welt-seins selbst. Gesundsein und Kranksein sind Grundbestimmungen menschlichen Lebens und Leibens. Sie haben ihren Grund im Wechselspiel zwischen Verbergen und Offenbaren, dass nicht nur allen Naturprozessen eigen ist, sondern auch, wenngleich auf einer je eigenen Art und Weise, allen zwischenmenschlichen Beziehungen sowie allen menschlichen artifiziellen Produkten auszeichnet. Wir können zwar sich uns zunächst und zumeist entziehende raum-zeitliche Dimensionen von natürlichen und künstlichen Prozessen der Verborgenheit entreißen um mit Hilfe von Fachwissen und technischem Können und in Wechselwirkung mit den von sich aus stattfindenden Naturprozessen den Zustand des Gesundseins wieder eintreten lassen. Aber eine volle Durchsichtigkeit über das, was von sich aus natürlich entsteht und vergeht, sowie über die Auswirkungen unseres technischen Handelns im Kontext von raum-zeitlich offenen Möglichkeiten unseres In-der-Welt-seins, können wir nicht erreichen. "Das Leben ist diesig. Es nebelt sich ständig selber wieder ein" pflegte Heidegger zu sagen (Gadamer 1995, 63-64). Die Wissenschaftstheorie des vorigen Jahrhunderts hat die Fehlbarkeit und Perspektivität der nach Wahrheit strebenden Wissenssuche mit Begriffen wie "Falsifizierbarkeit" (Karl Popper) und "Paradigmenwechsel" (Th. S. Kuhn) zum Ausdruck gebracht. Im digitalen Zeitalter brauchen wir, Kinder der Neuzeit, mehr denn je Aufklärung über die digitale Aufklärung.

Ausblick

Ich fasse zusammen. Die goldene Regel des Arztes aus phänomenologischer Sicht lautet: 'Nimm die Weltoffenheit des Patienten wahr!' Was bedeutet aber dieses Wahrnehmen der persönlichen Weltoffenheit eines Patienten im digitalen Zeitalter? Mit welchem klinischen Sinn muss der Arzt im Allgemeinen und der HNO-Arzt im Besonderen ausgestattet sein, um die Weltoffenheit des Patienten nicht zu vergessen gerade in dem Moment, wo sie den Patienten ganz oder teilweise entschwunden ist, so dass er sich mit Recht danach sehnt, seine Sinneswerkzeuge wieder in Ordnung bringen zu lassen? Sind das dieselben klinischen Augen mit denen etwa ein Automechaniker ein defektes Fahrzeug repariert? Wie weit trägt die Bezeichnung 'Werkzeug' (organon) im Falle des Leibes eines Lebewesens, zumal des Menschen und seines Offenständigseins in der Welt? Bei Kant heißt es: "[...] den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln." (Kant 1976, A 494) Die menschlichen Sinnesorgane zeitweilig als Werkzeuge zu verstehen, ist wohl legitim ― so viel können wir Theiatetos, Descartes und ihren heutigen digitalen Nachfahrern konzedieren ― zumal wenn die Organe versagen und der klinische Blick sich auf sie fokusieren muss, damit sie wieder, so gut es geht, in Ordnung gebracht werden. Zugleich ist aber dieser eingeengte Blick kein heilender, wenn er den Zusammenhang eines Wahrnehmungsorgans mit dem ganzen Organismus und dem "Dasein" des Patienten völlig außer Acht lässt. Wäre der menschliche Leib nur ein cartesischer, d.h. ein mechanischer oder ein heutiger digitaler Roboter, könnte auch der Arzt durch einen Roboter ersetzt werden, wie es in der Chirurgie mit ambivalentem Erfolg ausprobiert wird, anders als in der Industrie, wo aber die daraus entstehenden sozialen Fragen weitgehend unbeantwortet sind. Es spricht Einiges dafür, dass wir ― aber wer ist mit diesem 'wir' eigentlich gemeint? ― uns im digitalen Zeitalter als einzelne Menschen und als Gesellschaft in diese Richtung bewegen. Dies ist nicht moralisch verwerflich, zumindest wenn man bereit ist, theoretisch und praktisch zuzugeben, dass es sich um eine mögliche Sichtweise handelt, die aber die Tendenz in sich birgt, sich absolut zu setzen oder als absolut gesetzt zu werden. Im politischen Bereich nennt man dies eine Ideologie. In den Wissenschaften eine dogmatische Haltung, die keine kritische Prüfung außerhalb der zuvor abgesteckten Voraussetzungen zulässt. In der klinischen Praxis bedeutet diese Einschränkung, die sich nicht als eine solche erkennt, die Unfähigkeit oder gar Unwilligkeit, den Patienten und sich selbst als die Menschen, die sie nun einmal sind, als solche zu begreifen und die jeweilige und gemeinsame Weltoffenheit nicht aus den klinischen Augen zu verlieren, und sie gegebenenfalls im Gespräch mit den Patienten zu thematisieren.

Ein daseinsanalytisch geschulter Arzt, so wie im Falle der von Medard Boss und seinen Kollegen ausgebildeten Ärzten und Psychotherapeuten, wäre in der Lage leiblich-seelische Krankheiten anders zu sehen und mit den leidenden Menschen anders umzugehen als wenn man diesen Offenheitsblick nicht erkennt und sich angeeignet hat, obwohl es der Fall sein kann, dass Ärzte diesen Blick haben, ohne geschult worden zu sein. Es ist aber sicherlich von Vorteil, wenn man sich bei der Arztfortbildung ausdrücklich damit auseinandersetzt, nicht nur um sich des eigenen Selbstverständnisses als Mensch und Arzt im Gespräch mit anderen zu vergewissern, sondern auch, weil ein geschulter Blick auch den Sinn dafür bei den Patienten öffnen kann.

Das gilt vor allem im digitalen Zeitalter wo wir, Ärzte und Patienten, die Fähigkeit zum wahrnehmenden Nahsehen, Nahhören, Nahriechen, Nahschmecken und Nahtasten wieder lernen müssen. Dabei gilt es zu beachten, dass alles was wir an Ein- und Durchblicken im Medium des Digitalen erfahren, keineswegs das Gegenteil ist oder sogar im Widerspruch zu dem steht, was wir durch unsere Sinnesorgane wahrnehmen, sondern dass es sich um eine unter Umständen tief greifende Modifikation derselben handeln kann. Wir können aber solche künstliche Möglichkeiten des Wahrnehmens nicht erfinden und sie uns aneignen, wenn wir nicht selbst zuvor in der Weise des Nah- und Fernseins in der gemeinsamen Weltoffenheit immer schon wären. Die Einsicht in dieser Seinsweise des Menschen, die uns eine Distanz zu dem, was heute als Verstehen- und Handlungshorizont vorherrschend ist, ermöglicht, ist aber schwer zu vollziehen, da die digitale Perspektive wie schon vorher etwa die maschinelle Perspektive, alles zu überlagern scheint, so dass es ein Leben jenseits des Digitalen sinnlos erscheinen mag. In Wahrheit aber ist es umgekehrt. Das Digitale kann erst einen Sinn in unserem alltäglichen und professionellen Leben machen, wenn wir zuvor die raum-zeitliche Offenheit des In-der-Welt-seins wahrzunehmen lernen, um so Möglichkeiten als Möglichkeiten zu verstehen und individuell und sozial Freiheit gewinnen, um für die digitale Gestaltung unseres Lebens in unterschiedlichen selbst bestimmten Weisen Verantwortung zu tragen. HNO-Arzt-sein im digitalen Zeitalter bedeutet, die digitalen Modifikationen des sinnlichen Wahrnehmens sowohl in ihren gelungenen als auch in ihren Verfallsformen zu erkennen und Wege der Heilung, vor allem für die Schwächsten, zu öffnen.

 

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Letztes update: 13. März  2019

 
 
     

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