INFORMATIONSTECHNOLOGIEN UND  TECHNOLOGIEN DES SELBST:

EIN WIDERSTREIT 

Rafael Capurro
  
 
 
 
Zuerst erschienen in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40, 1992, 3, S. 293-304. Wiederabgedruckt in R. Capurro: Leben im Informationszeitalter. Berlin: Akademieverlag 1995, S. 37-50.

 

 

DER DIALEKTISCHE SCHEIN DER INFORMATIONSGESELLSCHAFT


Eine philosophische Bewertung der Informationsgesellschaft scheint zunächst deshalb noch nicht möglich, weil die "Eule der Minerva" erst mit der einbrechenden Dämmerung, "nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat", ihren Flug beginnt. Denn "wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht mehr verjüngen, sondern nur erkennen." wie Hegel am Ende der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts ausführt (Hegel 1976: 28). Nun ist die Informationsgesellschaft alles andere als eine vollendete Gestalt des Lebens. Ich behaupte demgegenüber, daß so etwas wie eine vollendete Gestalt des Lebens für unsere endliche Vernunft nicht erkennbar ist. Wir haben immer nur mit unvollendeten Gestalten zu tun, die nichts anderes sind als vergangene Lebensentwürfe. Was aber als ein Mangel erscheinen könnte, ist in Wahrheit unsere Chance, aus den offenen Möglichkeiten unseres Lebens zum unvollendeten Vergangenen zurückzublicken, um es im Rahmen eines neuen Lebensentwurfes zu verwandeln. Die Kunst, uns vor- und rückwärts zu gestalten, nenne ich Lebenskunst.

Um es vorweg zu sagen: Die Informationstechnologien sind neutral. Damit meine ich nicht, daß sie wertneutral sind, denn jede Technologie, sofern sie unser Weltverhältnis verändert und neue Möglichkeiten eröffnet, ist eben nicht neutral. Sie sind aber ein Neutrum, weil ihnen keine eigenen offenen Verhältnisse aufgegeben, daß sie zu gestalten hätten. Insofern befinden sie sich, wenn dieser Unterschied erst wahrgenommen wird, nicht im Widerspruch, sondern im Widerstreit mit den "Technologien des Selbst".

In seinem Buch Das postmoderne Wissen beschreibt Jean-François Lyotard, die Informationsgesellschaft als eine Zersplitterung jener Einheit des Wissens, die in der Neuzeit auf philosophischer und politischer Ebene angestrebt wurde. Mit den Informationstechnologien geht ein Teil des Wissensmonopols verloren, das bisher den Universitäten und dem Staat vorbehalten war. Das Ergebnis ist eine Abschwächung und Pluralisierung des modernen Subjekts, das sich im Labyrinth der Sprachspiele und der informationstechnischen Vernetzung verliert, sich als von ihnen mitbestimmt oder unter-worfen (sub-jectum) versteht. Die zentrale Frage ist dabei für Lyotard nicht die, ob etwa Datenbanken an sich eine uniformierende Wirkung auf den Menschen haben, sondern: "Wer wird die verbotenen Daten und Kanäle definieren? Wird es der Staat sein, oder wird dieser nicht vielmehr ein Benutzer unter anderen sein? Auf diese Weise werden neue Rechtsprobleme gestellt und durch sie die Frage: wer wird wissen?" (Lyotard 1986: 28).

Entscheidend ist die Frage nach dem öffentlichen Zugang zum elektronisch gespeicherten Wissen. Demgegenüber Betont Wolfgang Welsch in einer, wie ich glaube, einseitigen Interpretation von Lyotard: In Das postmoderne Wissen geht Lyotard davon aus, daß die neuen Kommunikationstechnologien uniformierend sind. Die Hegemonie der Informatik bewirkt, daß als Erkenntnis zunehmend nur noch akzeptabel sein wird, was in Informationsquanten übertragen werden kann (Welsch 1987: 219).

Es gilt gegen den Ausschließlichkeitsanspruch des technologischen Zeitalters Widerstand zu leisten. Ist die Informationsgesellschaft eine per se uniformierende Gesellschaft oder birgt sie die Möglichkeit der Pluralität?

Die von den Informationstechnologien geprägte Gesellschaft stellt eine chaotische aus den Fugen geratene Welt dar. Diese Einsicht ist im Falle der Massenmedien evident. Denn diese verbreiten beliebige Inhalte in ununterbrochenen Sequenzen: Kriege und Krimis, Dallas und Bonn-direkt, die Hitparade und die Tagesthemen. Dingsda und Softpornos. Für Peter Sloterdijk stellt dieser additive Stil der Massenmedien die Grundlage für ihren Zynismus dar. Er schreibt:

"Nur weil sie sich auf dem Nullpunkt gedanklicher Durchdringung festgesetzt haben, können sie alles geben und alles sagen, und dies wiederum alles auf einmal. Sie haben ein einziges intelligibles Element: das 'Und'. Mit diesem 'Und' läßt sich buchstäblich alles zu Nachbarn machen. [...] In dieser Gleichgültigkeit des 'Und' gegenüber den Dingen, die es nebeneinanderstellt, liegt der Sproß zu einer zynischen Entwicklung. Denn es erzeugt durch die bloße Aneinanderreihung und die äußerliche syntagmatische Beziehung zwischen allem eine Einerleiheit, die den aneinandergereihten Dingen Unrecht tut. [...] Aus der Gleichförmigkeit der 'Und'-Reihe wird schleichend eine sachliche Gleichwertigkeit und eine subjektive Gleichgültigkeit." (Sloterdijk 1983: 571-573)

Das Ergbenis ist der Verlust der Kritikfähigkeit. Aufgrund der informationellen Überforderung wird einem alles egal.

Die Informationstechnologien erzeugen ferner ein geopolitisches Chaos. Der in Echtzeit erzeugte Medienraum sprengt alle Grenzen, so daß, wie Paul Virilio betont, die mediatisierte Stadt (télécité) alle bisherigen urbanistischen Vorstellungen fragwürdig macht. Das führt schließlich zu einem totalen Identitätsverlust, denn durch die Informationstechnologien wird nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum vernichtet. Der Mensch verliert den Sinn für Lebensrythmen und Orientierung (vgl. Virilio 1989). Alles gerät zu einer Inszenierung, oder, in den Worten des Medienökologen Neil Postman, "wir amüsieren uns zu Tode" (Postman 1985). Wir leben in einer Welt der "Simulakren" (Jean Baudrillard 1989) oder der totalen Simulation, in der es nicht mehr möglich ist, zwischen Realität und Inszenierung zu unterscheiden. Die Echtzeitbilder geben stets vor, die Wirklichkeit, so wie sie ist, zu vermitteln, aber der Zuschauer hat keine Chance und keine Zeit, die so als die Wirklichkeit übertragene Sequenz zu überprüfen. Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit hat genauso fatale Konsequenzen für ein kritisches Bewußtsein wie der totale Glaube an die Medienwelt für ein unkritisches Bewußtsein. Anstelle des Sinns wird durch das Überwuchern der Information eine Schwelle überschritten, wodurch sich die gesellschaftlichen Gruppen zu einer Masse verwandeln, um schließlich durch eine solche fatale Strategie zu verschwinden (Baudrillard 1987: 68-69).

Demgegenüber stellt sich jene These dar, die in den Informationstechnologien zumindest eine Chance für eine demokratischere und rationalere Gesellschaft sieht. So unterscheidet Jürgen Habermas zwischen Steuerungsmedien wie Geld oder Macht, die unabhängig vom Kontext gelten, und den sprachabhängigen Medien, wozu die Massenmedien gehören. Letztere, so Habermas,

"lösen Kommunikationsvorgänge aus der Provinzialität raumzeitlich beschränkter Kontexte und lassen Öffentlichkeiten entstehen, indem sie die abstrakte Gleichzeitigkeit eines virtuell präsent gehaltenen Netzes von räumlich und zeitlich weit entfernten Kommunikationsinhalten herstellen und Botschaften für vervielfältigte Kontexte verfügbar machen." (Habermas 1988: Bd. 2: 573)

Massenmedien haben nicht nur ein autoritäres, sondern auch ein emanzipatorisches Potential. Sie wirken im Hinblick auf die Konsensbildung entlastend oder vereinfachend, und sie bleiben gegenüber der möglichen Kritik der Aktoren transparent. Die Informationsgesellschaft ist, zumindest de jure, eine durchsichtige(re) Gesellschaft. Man könnte folgende Gleichung aufstellen: Demokratie + Informationstechnologien = Informationsgesellschaft. Ist die Informationsgesellschaft eine per se chaotische Gesellschaft oder birgt sie die Möglichkeit der Rationalität?

Sind die Informations- und Kommunikationstechnologien die Hardware, wozu wir die (nicht ganz passende) Software sind? Ist die Informationsgesellschaft lediglich ein Vorstadium zu einer einzigen society of minds, einer Mentopolis (Marvin Minsky 1990), die sich um uns, wie um einen einzigen Leib netzwerkartig herum konstruiert? Bei Minsky liest man:

Maschinen und Gehirne brauchen gewöhnliche Energie, um ihre Arbeit zu tun; und sie benötigen keine anderen, mentalen Energiearten. Kausalität reicht völlig aus, sie auf ihre Ziele hinarbeiten zu lassen. (Minsky 1990: 283)

Anstelle der verschiedenen Illusionen über mentale Kräfte wird der Geist als ein komplexes System von "mentalen Agenturen", welche auf verschiedene Weisen ihre Transaktionen" regeln, verstanden.

Der menschliche Mikrokosmos ist dann nicht bloß der Schlüssel zum Makrokosmos, sondern er liefert Minsky das Modell für einen künstlich zu schaffenden überindividuellen Geist. Denn, wenn die Analogie zwischen Gehirn und Maschine zu einer Isomorphie wird, dann besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß die Emergenz eines individuellen Geistes nur die Vorstufe für eine neue Emergenz ist. Diese konnte bisher lediglich aus Mangel an Verbindungen zwischen den Agenturen nicht entstehen. Für diese technokratische Vorstellung stellt die Informationsgesellschaft eine Überbietung der modernen Subjektivität dar.

Eine negative Variante dieser technokratischen Vorstellung ist die Auffassung, daß die Informationstechnologien unlösbar mit der kriegerischen Geschichte verbunden sind. Was sie senden, sind "tödliche Signale" (Claus Eurich). Informationstechnologien sind Rüstungstechnologien. Die Informationsgesellschaft ist eine Zwischenstation, denn: "Die Endstation des Zuges, auf dem wir im Moment noch sitzen und für den es weder Fahrplan noch Weichen, noch Haltesignale zu geben scheint, heißt Krieg" (Eurich 1991: 203). Wie im Falle der Zerstörung der Natur lautet eine Antwort auf diese Bedrohung Informations- und Kommunikationsökologie. (1) Eine durch die Informationstechnologien geprägte Gesellschaft ist eine höchst verletzliche Gesellschaft. Ihr Schadenspotential steht nicht im Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen. Sie sit also nicht zu verantworten (vgl. Roßnagel et al. 1989).

Von diesen Positionen unterscheidet sich jene postmoderne These, die in den Informationstechnologien eine Chance für die Abschwächung der modernen Subjektivität sieht. Für Vattimo haben die Massenmedien vor allem eine ästhetisch-rhetorische Wirkung. Sie künden das Ende eines individuell oder sozial sich in revolutionären Prozessen begründenden Subjektes an. Anstelle der befürchteten Herrschaft der Technik löst sich das neuzeitliche Subjekt gerade in und durch die Informationstechnologien auf, um einer allgemeinen Ästhetisierung des Sozialen Platz zu machen. Dabei findet keine Totalisierung oder gar Uniformierung der Gesellschaft, sondern eine Kontaminierung der unterschiedlichen Sprachen und Kulturen statt. Die Einheit der Informationsgesellschaft ist eine von der Vielfalt der Dimensionen stets gebrochenen Einheit. Vattimo schreibt:

"Indem der Mensch und das Sein diese [metaphysischen] Bestimmungen verlieren, treten sie in einen schwingenden Bereich ein, den man sich meines Erachtens wie die Welt einer 'erleichterten' Wirklichkeit vorstellen muß – erleichtert, weil hier die Trennung zwischen dem Wahren und der Fiktion, der Information, dem Bild weniger scharf geworden ist: es handelt sich um die Welt der totalen Medialisierung unserer Erfahrung, in der wir uns schon weitgehend befinden." (Vattimo 1990: 197) (2)

In vielen Ländern der Erde werden aber die Informationstechnologien durch die Staatsmacht dazu mißbraucht, das Heranwachsen individueller Subjektivitäten zu verhindern. Es wäre dann fatal, wenn die Informationstechnologien diese bereits schwachen Subjektivitäten noch schwächer machen würden (Capurro 1991e: 11-38). Ist die Informationsgesellschaft eine per se technokratische Gesellschaft oder birgt sie die Möglichkeit einer Umwandlung der Modernität?

Die Praktiken der Selbstformung haben nicht die Aufgabe, der Informationsgesellschaft Soll-Sätze vorzuschreiben, sondern sie anvisieren die offenen Verhältnisse menschlichen Seins in ihrem Widerstreit mit dieser von der Informationstechnik geprägten Gesellschaft. Foucault stellt den Technologien des Selbst die "Technik der Biomacht" gegenüber, je nachdem, ob das Subjekt sich selbst gestaltet oder Gegenstand einer fremden Normierung wird. Er nimmt dabei Bezug auf den antiken Kynismus, für den das Verhältnis von Leben und Wahrheit – die Redefreiheit (parrhesia) im Mittelpunkt stand. Die thomistische, auf Aristoteles zurückgehende Definition von Wahrheit als Übereinstimmung des urteilenden Verstandes und der Sache (adaequatio intellectus et rei) muß dementsprechend im Sinne eines Versuches, dem Leben in ihren offenen Dimensionen zu entsprechen, anstatt sich tradierten Lebensregeln zu unterwerfen, verstanden werden. Existentielle Wahrheit ist die Übereinstimmung des urteilenden Verstandes mit dem Leben (adaequatio intellectus ad vitam). Sofern aber jede existentielle Übereinstimmung durch verborgene Seinsmöglichkeiten immer übertroffen wird, ist existentielle Wahrheit grundsätzlicher als "Un-Verborgenheit" (Heidegger) zu denken, das heißt als durch jene unverfügbare Kleinigkeit bestimmt, die den mannigfaltigen Weisen von (Nicht-)Übereinstimmung einen je eigenen Versuchscharakter einprägt.

Die Praktiken der Selbstformung sind alles andere als ein Ästhetizismus der Selbstgenügsamkeit, sowenig wie sie in einem leeren kulturkritischen Widerspruch zu den Informationstechnologien stehen. Die neuen Medien stellen für Foucault, wenn sie aus der offenen Perspektive der Lebenskunst betrachtet werden, eine Quelle der Wißbegierde und somit der Selbstveränderung dar:

"Das Problem besteht darin, die Informationskanäle, -brücken, -mittel, die Radio- und Fernsehnetze, die Zeitungen zu vervielfältigen. Die Wißbegierde ist ein Laster, das nach und nach vom Christentum, von der Philosophie und sogar von einer bestimmten Wissenschaftskonzeption stigmatisiert worden ist. Wißbegierde, Nichtigkeit. Dennoch gefällt mir das Wort; es suggeriert mir etwas anderes: es evoziert die 'Sorge'; es evoziert, daß man sich um das was existiert und was existieren könnte bemüht." (Foucault o.D.: 17).

Foucault stellt diese Perspektive sowohl der Möglichkeit einer Monopolisierung der Informationstechnologien von oben als auch einer Nivellierung von unten entgegen. Er sieht, mit anderen Worten, die Möglichkeit eines Widerstreits anstatt eines Widerspruchs zwischen den Technologien des Selbst und der von den Informationstechnologien bestimmten Gesellschaft.


ZYNISCHE ODER KYNISCHE VERNUNFT?

Die Informationsgesellschaft wird maßgeblich von den Massenmedien geprägt. Der durch sie gestaltete Offenheitsbereich ist, Sloterdijk zufolge, durch die Stimmung des Zynismus geprägt. Die offene und freie Mitte menschlichen Existierens wird durch einen Götzendienst der Mittel ausgefüllt. An die freie Haltung des antiken Kynismus anknüpfend, plädiert Sloterdijk für einen "Kynismus der Zwecke", bei dem das menschliche Leben sich dem "Nichts" in ihrer Mitte zukehrt (Sloterdijk 1983: 559-575; 876-897) (3). Sloterdijk und Foucault folgend, können wir dem offenen kynischen Verhältnis des Menschen zu seinem "In-der-Welt-sein" den Zynismus der durch die Massenmedien bestimmten Informations- gesellschaft entgegenstellen.

Man könnte einwenden, daß eine Gleichstellung von Massenmedien und Informationstechnologien unzulässig ist und daß dementsprechend die These vom Zynismus der Informationsgesellschaft zu relativieren ist. Dem ist zuzustimmen, sofern man einen strengen dichotomischen Unterschied zwischen Massenmedien und Individualmedien man denke an das Telefon oder an den Personalcomputer – macht. Ich meine aber, daß eine Dichotomie zwischen Massenmedien und Individualmedien letztlich unhaltbar ist, da die Informationsgesellschaft sich gerade durch die vielfältige Durchdringung aller Informationstechnologien auszeichnet. Ferner ist zu bedenken, daß die Informationsgesellschaft zwar durch die Massenmedien, allen voran durch das Fernsehen, geprägt ist, daß sich aber in ihr Sinn nicht in der Teleunterhaltung erschöpft, sondern daß sie primär auf das durch die Informationstechnologien geprägte wirtschaftliche Handeln ausgerichtet ist. Man spricht nicht umsonst von einem Informationsmarkt oder von der Umwandlung des Wissens in eine Ware.

Die Informationsgesellschaft stellt sich als eine durch zwei Extreme zerrissene Gesellschaft dar. Auf der einen Seite ist sie auf Unterhaltung, auf der andern auf Wirtschaft gerichtet. Im Reich der Bilder gibt sie die Urteilskraft auf, im Reich der auf Nutzen verwendeten Zeichen verliert sie die Muße und wird zum negotium. In der Mitte liegt aber die Sprache als Medium der Lebenskunst, sowohl in ihren alltäglichen als auch in ihren festlichen Formen. Mit Bezug auf Jürgen Trabant schreibt Tilman Borsche über den Verlust der sprachlichen Mitte unserer Kultur folgendes:

"Zwischen dem phantastischen Reich der Bilder (der Fiktion von Realität in Film und Fernsehen), in dem nichts uns wirklich angeht und dem technisch-praktischen Reich der Zeichen, in dem es auf die präzise Erfüllung von Anweisungen ankommt und jeder von uns austauschbar ist, drohen die Sprache des 'Lebens in seinen natürlichen Verhältnissen'  der Alltag unserer Sprache einerseits und andererseits 'Poesie, Philosophie und Geschichte' der Festtag unserer Sprache (vgl. GS IV 29f.), mithin alle menschliche Erkenntnis, die 'auf dem Zusammenspiel von Verstand und Sinnlichkeit aufbaut', unterzugehen (97f.)" (Borsche 1988: 300-301) (4)

Der Zynismus der Massenmedien kommt in bezug auf die drei Dimensionen, Wahrheit, Macht und Begehren deutlich zum Vorschein. Um ein mögliches Mißverständnis auszuräumen, möchte ich aber betonen, daß der Zynismus der Informationsgesellschaft nicht moralisch zu verurteilen, sondern als Zynismus zu erkennen ist. Nur dann kann er, im Widerstreit mit den Technologien des Selbst, zu einer Chance für ein freies, kynisches Verhältnis werden.

Die Informationsgesellschaft stellt, erstens, auf zynische Weise die Frage nach der Wahrheit, indem sie das Wissen in Form von Nachrichten oder Sendungen auflöst, die dann ständig, im gleichgültigen additiven Stil und überall sich an einen universellen Empfänger richten. Dies ist aber eine Fiktion, denn weder sind die Empfänger universell und bloße Empfänger, die sich dann in Abhängigkeit des Senders, als eine Art Freudschen "Über-Ich", befinden würden, noch sind die Botschaften Spiegelungen, sondern Inszenierungen von Realität, welche die Wahrheitsfrage nur scheinbar, also zynischen, zu lösen vermögen (Haller 1991). Die Vorstellung, daß die Massenmedien das soziale Bindemittel wären, ist, wie Dieter Roß (1990) richtig bemerkt, ein überholter Mythos. Man kann daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß die Massenmedien paradoxerweise zu Medien der Selbstgestaltung werden können. Die Fragen, die sich dann das Selbst angesichts des Medienzynismus stellt oder stellen kann, sind: Bin in der Adressat der Sendung? Aber, wer bin ich? Was für Lebensgeschichten werden mir da erzählt? Gehen sie mich persönlich an? Wie ist die Beziehung meines Lebens zum Leben der anderen? Wer sind die anderen? usw. Solche Fragen gehören zu den Technologien des Selbst, sind kynische Fragen, die aus der Sorge um sich entspringen und die Gestaltung des Selbst zum Zweck haben. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich genau bei diesem Widerstand und im Widerstreit zum dialektischen Schein der Informationsgesellschaft aus der kritischen, wertenden Perspektive des Selbst.

Zweitens stellt die Informationsgesellschaft die Machtfrage als eine zynische Frage. Denn solange die Sendungen nicht von der politischen Macht zensiert werden, löst sich der hierarchische Logos in der Vielfalt der Kanäle auf und wird plural. Wenn alles gleichgültig wird, steht die politische Macht in Konkurrenz zu anderen. Sie hat ihre Aura verloren und kann sie nur medial, in der Pluralität mit anderen Mächten, wiedergewinnen. Dann bleibt aber die Frage nach der Macht aus der Perspektive des einzelnen, der die Faktizität der Macht hinterfragt, offen: Wie steht es mit der Begründung der Macht? Welche Möglichkeiten habe ich, um den Logos der Macht aus meiner Perspektive zu verändern? Wer hat die Macht über wen? Was kann ich davon wissen? Dem medialen Zynismus der politischen Macht wird vom Lebensentwurf her Widerstand geleistet. Somit öffnet sich eine Möglichkeit für die formale staatliche Macht  poli-ethisch  anstatt bloß politisch zu werden.

Schließlich und drittens stellt die Informationsgesellschaft die Frage nach dem Begehren ebenfalls auf zynische Weise. Denn die Informationsgesellschaft ist, wie schon angedeutet, zugleich eine auf entertainment und Profit gerichtete Gesellschaft. Alles wird zum Spaß. Der mediale Spaß kenn keine Grenzen. Die Informationstechnologien sind dann Technologien des Begehrens, die, sofern, ihnen von der Perspektive der Lebenskunst Widerstand geleistet wird, die Fragen des Begehrens des einzelnen offenlassen: Ist es mein Begehren? Was begehrt der andere? Wie steht es mit der tatsächlichen Erfüllen dessen, was der andere begehrt? usw. Solche hypothetische-asketischen Fragen treten dann anstelle des kategorischen Imperativs der Informationsgesellschaft, der da lautet: Du sollst medial genießen.

Um die durch die Informationstechnologien geprägte Gesellschaft im Widerstreit mit den Technologien des Selbst zum Vorschein zu bringen, müssen wir den Ort der Selbstgestaltung als einen durch Möglichkeiten entgrenzten, im Gegensatz zum durch Wirkliches ausfüllbaren und stets ausgefüllten Bildschirm der Informationsgesellschaft, wahrnehmen. Mit anderen Worten, wir müssen lernen, die Informationsgesellschaft zu erörtern, ihr einen Ort innerhalb eines selbstbestimmten und offenbleibenden Lebensrahmen zu geben. Eine solche Erörterung kann in Erfahrungen von Einsamkeit, von echtem Dialog, von bildloser Kontemplation, von Schweigen und Nachdenken, von selbstloser Hingabe, geübt und vollzogen werden. Wenn das individuelle oder kollektive Selbst sich durch die technologische Mediatisierung bestimmten läßt, gerät es in die rastlose Kommunikation, es verliert das Maß gegenüber den es überwuchernden Informationen, anstatt Erfahrungen der Selbstgestaltung zu gewähren, werden wir medial selbstentfremdet und voneinander abgeschottet. In Wahrheit aber sind wir in unserer Existenz, in der Spanne zwischen Geburt und Tod, einem Ort ausgesetzt, den wir nicht nur mit den anderen, sondern auch für sie zu gestalten  nicht selten auch zu zerstören vermögen. Erst aus der Perspektive der ethischen Selbstformung vermögen wir dem Zynismus der Informationsgesellschaft, der Obsession ihrer Bilder und der Hysterie ihrer Anforderungen, Widerstand zu leisten.

Eine solche Lebenskunst (ars vitae) steht vor der Aufgabe der Lebensbewältigung, das heißt vor der Aufgabe, zwischen verschiedenen Gütern zu wählen um Mangelzustände zu überwinden. Lebenskunst bedeutet in diesem Sinne die Kunst oder die Übung der Genügsamkeit (Askese) zu lernen. Eine aktuelle Form dieser Lebenskunst ist, so Hans Krämer, "angesichts eines verwirrenden Überangebotes von Lebensmöglichkeiten, mit den Risiken der Zersplitterung, Oberflächlichkeit oder Übersättigung... sinnvoll mit Vielen und Allzuvielen umzugehen und daran seine Selektionskraft zu bewähren" (Krämer 1988: 6). Eine so erstandene Lebenskunst läßt sich auf überindividuelle Gebilde beziehen, im Sinne einer ökologischen und friedenssichernden Überlebenskunst, die nicht primär allgemeine und zeitlose Sollenssätze, sondern den Blick für die Situation schärft, sich um das Nächstliegende kümmert und jene offene Haltung pflegt, aus der heraus eine "Empörung über das Intolerable" (Foucault) entstehen kann.

Einen möglichen praktischen Leitfaden für die Auseinandersetzung des Menschen mit deinen Götzen bietet die chinesische Parabel vom Ochsen und seinem Hirten, die vom Chan-Meister Guo'an Shiyuan (um 1150) in einem berühmten Bildzyklus illustriert und zu einer klassischen japanischen Zen-Parabel wurde. Im vorwort zum achten Abschnitt heißt es:

"Die vollkommene Vergessenheit von Ochs und Hirte. Alle weltlichen Begierden sind abgefallen, und zugleich hat sich auch der Sinn der Heiligkeit spurlos geleert. Verweile nicht vergnügt am Ort, in dem Buddha wohnt. Gehe rasch vorüber am Ort, in dem kein Buddha wohnt. Wenn einer an keinem von Beiden hägen bleibt, kann sein Innerstes niemals durchblickt werden, auch nicht vom Tausendäugigen. Die Heiligkeit, der Vögel Blumen weihen, ist nur eine Schande." (Ohtsu 1981: 41) (5)


BENNYS VIDEO


Benny, ein zwölfjähriger Junge, filmt im Bauernhof eines Verwandten die Tötung eines Schweins mit Hilfe einer Spezialpistole, die wie ein vier Zentimeter dickes und zwanzig Zentimeter langes Rohr aussieht. Kurz vor dem Abfeuern sieht man auf Bennys Video den Todeskampf des Tiers mit seinen Schlächtern, und man hört seine entsetzlichen Schreie. Szenenwechsel: Bennys Zimmer im Appartement seiner gutsituierten Eltern. Das Zimmer ist vollgepackt mit Elektronik. Anstelle des freien Blicks aus dem Fenster bietet ein Monitor eine Wiedergabe des Straßengeschehens. Nach dem Besuch in der Videothek trifft Benny ein junges Mädchen, das er kaum kennt, und lädt sie in sein Zimmer ein. Nach kurzer Zeit langweilt sich das Mädchen in Bennys elektronischer Wunderwelt und will gehen. Benny zeigt ihr die Pistole, die er aus dem Bauernhof entwendet hat, und fordert sie spielerisch auf abzudrücken. während er sie gegen seinen Bauch hält. Das Mädchen drückt nicht ab und wird deshalb von Benny als feige apostrophiert. Als das Spiel umgedreht wird und das Mädchen Benny ebenfals als feige bezeichnet, drückt Benny ab. Das zu Boden gefallene Mädchen schreit vor unvorstellbaren Schmerzen. Erst als Benny mehrmals, zuletzt auf den Kopf, schießt, hören die Schreie auf. Benny versteckt die blutüberströmte Leiche.

Als die Eltern abends nach Hause kommen und in Bennys Zimmer hineinschauen, läuft auf Bennys Monitor der Videofilm über den Unfall ab. Die Besprechung der Lage wird vom Vater mit "klarem Denken" geführt: Er schlägt vor, die Leiche in kleine Stücke zu zerteilen, damit man sie besser herunterspülen kann. Am nächsten Tag geht Benny zum Friseur und läßt sich die Haare abrasieren. Als er zum Frühstück erscheint, bemerkt der Vater, er hätte einen "KZ-Look". Während Mutter und Sohn Urlaub in Ägypten machen, erledigt der Vater die Beseitigung der Leiche. Schlußszene: Benny geht zur Polizei und stellt sich. Die Eltern werden verhaftet.

Der Film gibt eine pointierte Darstellung der real-imaginären technischen Welt, in der wir uns alltäglich befinden, wieder (6). Zweifellos steht die Frage nach der Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens, wobei die Fiktion nicht nur die techno-imaginäre Welt betrifft, in der Benny lebt, sondern ebenso sehr die von den Eltern aufrechterhaltene Fassade einer intakten Familie. Zu dieser Fassade gehört auch die konventionelle Kunst. Die Wände des Eßzimmers sind mit modernen Bildern buchstäblich tapeziert. Die scheinbar spielerische Harmlosigkeit des Techno-Imaginären führt in eine ethische Katastrophe. Wir stehen also nicht nur vor der Frage nach einer theoretischen Bestimmung des Techno-Imaginären (7), sondern diese Frage schließt, wie im Film eindrucksvoll dargestellt wird, eine ethische Dimension ein. So gesehen, verweist die Frage nach dem Techno-Imaginären auf die Frage nach der Gestaltung menschlichen Existierens in einer von digitalen Medien mitbestimmten Welt.

Platon Höhlengleichnis (Politeia 515 a ff) läßt sich auch als eine Grundmetapher des elektronischen Zeitalters deuten, im Sinne einer ethischen Um- und Abkehr gegenüber dem Techno-Imaginären. Die in der Höhle an Schenkeln und Hals gefesselten Menschen schauen geradeaus auf die Schatten der hinter ihren Rücken vorbeigeführten künstlichen Bildwerke. Der Weg der paideia ist eine dynamische Umkehrung (periagoge) von den schattenhaften Erscheinungen zu einem jeweils Wahreren oder Wirklicheren, vn wo aus das Vorherige als schattenhaftes Abbild (phanstasmata, eidola) erkannt wird. Platons Darstellung endet aber nicht mit dem Anblick der Sonne als Metapher des wahrhaft Seienden, sondern mit der Notwendigkeit der Rückkehr in die Höhle, also mit einer abermaligen Umwendung. Es ist die Spannung zwischen dem gewöhnlichen Leben in der Höhle der Imagination und der Möglichkeit einr Umwendung, die das menschliche Leben bestimmt.

Diese Erörterung des Imaginären als des Schattenhaften mit dem entsprechenden Bezug zu den herstellenden Künsten bleibt ausschlaggebend bis zur Neuzeit. Nietzsche bringt die neuzeitliche Umkehrung der Verhältnisse zwischen dem Realen und dem Imaginären in seiner berühmten Geschichte "Wie die 'wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" zum Ausdruck (8). Ausgehend von der Verfestigung der hierarchischen Verhältnisse zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen ("Platonismus"), führt der Weg der Derealisierung des Idealen zunächst über das Christentum mit seiner Verschiebung der Erreichbarkeit der "wahren Welt" auf das Jenseits.

Im von Thomas Le Myésier (
1336) kompilierten Lehren des katalanischen Philosophen Ramon Llull (1232-1315) findet man eine Veranschaulichung der hierarchischen Unterordnung von Sinnlichkeit und Phantasie gegenüber dem geistigen Vermögen des Übersinnlichen (vgl. Römer/Stamm 1988). Ramon Llulls Lehre richtet sich gegen den Turm der Unwahrheit, das heißt gegen die Ungläubigen.

Lull
Quelle: http://www.leo-bw.de/highlights/das-breviculum-des-raimundus-lullus

Aristoteles, Averroes und Llull personifizieren die drei Stufen der menschlichen Erkenntnis: Averroes, die Stufe der Sinne und der Einbildung, reitet auf dem Pferd der imaginatio, Aristoteles, die Stufe des Verstandes, reitet auf dem Pferd ratiocinatio und schließlich Llull selbst, die Stufe des Glaubens, der auf dem Pferd der guten Absicht (recta intentio) reitet. Rechts von der Lanze des Averroes liest man die Aufschrift: Wer erkennen will, muß Erscheinungen betrachten (intelligentem oportet phantasmata speculari). Die Bedeutung der Einordnung von Sinnlichkeit und Phantasie unter oder zwischen dem Verstand und dem Glauben wird nicht nur dadurch unterstrichen, daß ein Kardinal im Streitwagen die Zügel der imaginatio hält, sondern auch dadurch, daß er Averroes in dem darunterstehenden Text in folgender Weise belehrt:

"Die Einbildungskraft überschreitet die körperliche Natur nicht. Du aber, der du deine Erkennntis weder von den Sinneseindrücken trennen noch deine Erkenntnis intensiv ergründen willst [...] Du hast die Erhabenheit des Übernatürlichen vergessen, wirst abtrünnig und sündigst, weil Du zuläßt, daß der Intellekt von der Einbildungskraft übertroffen wird" (Römer/Stamm 1988: 128).

In seinem Buch Von der natürlichen Weise des Erkennens hebt Llull zwar die Nähe der imaginatio zum Intellekt hervor, da sie mit Hilfe des Intellekts etwas vorzustellen vermag, was sinnlich nicht vorfindbar ist
zum Beispiel eine Chimäre oder ein goldener Berg  –, dazu aber stets der Abbilder der sinnlichen Wahrnehmung bedarf. Geistige Objekte – zum Beispiel die Seele, einen Engel oder Gott – kann der Intellekt mit Hilfe eines auf die Wahrnehmung bezogenen Vermögens nicht erreichen (9).

In Nietzsches Geschichte des Platonismus wird die noch im deutschen Idealismus verschleierte "wahre Welt" durch die positivistische Bejahung des Sinnlichen umgedreht, ohne daß aber durch diese Umdrehung das hierarchische Schema selbst abgeschafft wird. Mit anderen Worten, der Positivismus hält, für Nietzsche, so wie der idealistische Platonismus, an der Herrschaft einer Perspektive fest. Nietzsches letzte Stufe seiner "Herausdrehung aus dem Platonismus" (Heidegger) bedeutet die Infragestellung dieses Festmachens, wobei problematisch bleibt, inwieweit die "ewige Wiederkehr" selbst einen erneuten metaphysischen Grund darstellt. (10)

Kehren wir zu Bennys Video zurück. Benny lebt in der technischen Phantasie der Video-Welt, die er nicht nur anhand von fertigen Produkten anschaut und manipuliert, sondern auch selbst herstellt, ja er nimmt buchstäblich die Welt, den Straßenblick aus dem Fenster nur am Monitor wahr. Die so technisch wahrgenommene Welt ist der schwächere Abglanz des Techno-Imaginären, so wie für den Platonismus die sinnlich wahrgenommene Welt den Schatten des Übersinnlichen darstellte. In einem radikaleren Sinne kann man aber auch sagen, daß für Benny die sinnlich wahrnehmbare Welt das Material ist, woraus durch den technischen Vorgang die Realität hergestellt wird. Der ontologische Status dieses imaginären Techno-Realen ist der einer imaginären Wirklichkeit oder einer virtuellen Realität. Dieses Oxymoron bringt die eigentümliche Verschmelzung zwischen dem Imaginären und dem Fiktionalen zur Sprache. Die technische Fiktion ist das Wahre.

Die an Gianbattista Vico erinnernde Identifikation des Wahren mit dem Fiktionalen (11) gewinnt jetzt eine neue Dimension, indem die technisch operierende Analysis genau jene ungeheure  Menge von Figuren hervorzubringen vermag und synthetisch zusammenfügt, die Vico auf die Seite der Geometrie stellte (vgl. Vico 1947). Die technische Phantasie ist ein Vorgang, wodurch nicht nur die Vorstellungen der Dinge, sondern die Dinge selbst als technische Vorstellungen konstruiert werden, und zwar aufgrund ihrer analytischen Auflösung im digitalen Code. Für Vico erkennt der Mensch die Dinge, indem er ihre Vorstellungen generiert, in Analogie zu Gott, der mit seinem Intellekt die Dinge selbst produziert. Die Phantasie besteht in der Fähigkeit, Elemente der Vorstellungen der sinnlich wahrgenommenen Dinge, sofern wir sie im Gedächtnis aufbewahren, miteinander zu verknüpfen. Deshalb sind für die Griechen die Musen die Töchter der Erinnerung. Der Mensch ist ein göttlicher Konstrukteur des Künstlichen so wie Gott Konstrukteur des Natürlichen ist. (12)

Genau die Unterscheidung zwischen Hervorbringung des Mechanischen und der Schaffung der Bilder in der Phantasie kommt sozusagen zu einer Verschmelzung im Bereich des Techno-Imaginären, denn die technischen Bilder sind die Sachen selbst. Die aktualisierten Bilder sind das reale Denotat des technisch Virtuellen. Ihr Status ist der der virtuellen Realität, von der aus nicht nur die Realität des natürlich Imaginierten und des künstlich Produzierten, sondern auch die Realität des natürlich von Gott Produzierten einen abgeleiteten Rang erhalten, ja sie sind letztlich im Techno-Imaginären virtuell aufgehoben. Die virtuelle Realität, in der Benny lebt, nimmt ihren Ausgang in ihrer Digitalisierbarkeit und Manipulierbarkeit und kehrt auf sie zurück. Sie ist, indem sie virtuell ist. Diese Virtualität impliziert nicht nur ein Verschwinden des Repräsentierten als des Eigenständigen, sondern auch eine ständige Aktualisierbarkeit des Fiktiven. Die Welt ist ein Techno-Traum, in der die Zeit in einer virtuellen Gegenwart zum Stillstand gekommen ist. Gewesen-sein und Zukünftig-sein implodieren in der Beliebigkeit des herstellbaren Jetzt.

Im Falle von Bennys Traumwelt wird aber der Techno-Traum zum Alptraum. Damit enthüllt sich eine andere Dimension in Bennys Leben, die existentielle. Die Videoaufzeichnung des mörderischen Spiels hat dann für Benny nicht mehr einen nur techno-imaginären Charakter, sondern verweist auf eine jenseits des virtuellen jetzt stattgefundene Handlung, die er nicht mir der Kamera, sondern mit der Pistole vollzogen hat. Die technisch implodierte Zeit explodiert buchstäblich in Bennys Existenz, deren Faktizität nur scheinbar in die technische Virtualität transformiert und durch sie hergestellt wird. Bennys Rückkehr in seine Video-Höhle ist durch die Spannung zwischen existentieller Faktizität und technischer Virtualität gekennzeichnet. Seine Versuche, sie zu beseitigen, schlagen fehl. Es sind paradoxerweise die Eltern, die den Einbruch des Existentiellen wiederum durch eine imaginäre Fassade verdecken wollen. Dieser Einbruch des Existentiellen in die Abgeschlossenheit des Techno-Imaginären führt schließlich zu Bennys Geständnis der Differenz zwischen existentieller Faktizität und technischer Virtualität.

Die Konstruktion der virtuellen Realität ist nicht nur ein techno-ästhetischer Vorgang zur Herstellung und Manipulation von bestimmten Produkten, sondern sie ist primär eine bestimmte Weise der Gestaltung unseres "In-der-Welt-seins". Die Verabsolutierung des Techno-Imaginären gibt vor, sich in einem Spiel zu befinden, in dem es nicht zugleich um den Spieler selbst geht. Was in Bennys Videowelt einbricht, ist die Faktizität des Existierens gegenüber dem höhlenartigen selbstreferentiellen Verschluß in der techno-imaginären Bilderwelt.

Sollen die Informationstechnologien in einem offenen existentiellen Zusammenhang eingebettet und vorn diesem gestaltet werden, müssen sie im Widerstreit mit jenen Technologien, mit denen wir uns selbst gestalten, gesehen werden. Die geistigen und leiblichen Zeichen, wodurch wir unsere Existenz zum Ausdruck bringen, sind "Gesten" (Foucault). (13) Diese sind sowohl Akte individueller Existenz als auch Formen, wodurch sich eine Gesellschaft oder eine ganze Epoche auszeichnet. Durch eine Kultur der Geste kann ein Individuum stillschweigend kollektive Machtverhältnisse umkehren, indem es die herrschenden Haltungen und Verhaltensformen zu eigenen Gesten umformt und so seiner Existenz einen Stil verleiht. Die Informationstechnologien sind Ausdrucksformen sozialer Machtverhältnisse und stehen somit in Widerstreit zu einer existentiellen Kultur der Geste, wodurch sie in Berührung mit der Offenheit menschlichen Existierens kommen.

Vilén Flusser (1993a: 193-198/ faßt solche Tätigkeiten wie Schreiben, Sprechen, Machen, Lieben, Zerstören, Malen, Fotografieren, Filmen, Maskenwenden, Pflanzen, Rasieren, Musikhören, Pfeiferauchen, Telefonieren, Video und Suche als Gesten auf. Gesten drücken Stimmungen aus. Durch Gesten manifestieren wir unterschiedliche Weisen unseres "In-der-Welt-seins". Wenn das Video, wie Flusser es deutet, eine solche Geste ist, wodurch wir auf Geschichte einwirken können, indem wir unterschiedliche Ereignisse nicht nur besingen, sondern auch komponieren, dann ist gerade die Eigenart dieser Geste, daß wir geschichtliche Faktizität als Feld möglicher Transformationen betrachten und somit in Virtualität umwandeln. Der Videonutzer kann aber, so Flusser, in die Macht des Videofilmers geraten, wenn er sich die dialogische Struktur dieser Technik nicht aneignet, sondern sich einem Programm unterwirft (Flusser 1993a: 198).

Diese Aneignung ist aber, wie am Beispiel von Benny ersichtlich, nicht genug, sondern es müßte dabei zu einer Kultur der Geste in der Weise kommen, daß die Differenz zwischen Faktizität und Virtualität nicht aufgehoben wird. Eine solche Differenz kann wiederum in einer video-künstlerischen Form ausgedrückt werden. Das zeigen die Video-Installationen des amerikanischen Künstlers Bill Viola. (14) Eine entscheidende Vorbereitung für einen existentiell gelingenden Umgang mit unserer von technischen Bildern überfluteten Gesellschaft sieht Viola in der Kunst, wobei er als "das Wesentliche der künstlerischen Vision die Verbindung zu den tieferen Schichten des menschlichen Lebens" bezeichnet. Zu diesen tieferen Schichten gehören Geburt und Tod, die Naturgewalten und die dunkle Nacht der Seele (noche oscura, Johannes von Kreuz) (15).


ANMERKUNGEN


(1) Vgl. die Aktivitäten des Instituts für Informations- und Kommunikationsökologie (IKÖ, Dortmund) sowie Capurro (1990: 573-593).

(2) Vattimo kritisiert Habermas' Utopie einer "durchsichtigen" Gesellschaft (vgl. Vattimo 1989).

(3) Zum Zusammenhang zwischen Zynismus und Massenmedien vgl. demnächst die Dissertation von V. Friedrich: "Aspekte philosophischer Anthropologie im Zeitalter der Massenmedien" (Univ. Stuttgart).

(4) Vgl. die Humboldt-Interpretation von Trabant (1986).

(5) Vgl. auch Brinker/Kanazawa (1993: 228-230, 278-279) und Capurro (1994a).

(6) Benny's Video ist ein österreichischer Film von Michael Haneke aus dem Jahre 1992. Darsteller sind Arno Frisch (Benny) sowie Angela Winkler und Ulrich Mühe (die Eltern).

(7) Zum Begriff des Techno-Imaginären vgl. Rötzer (1991: 9-78).

(8) Nietzsche (1976, Bd. 3: 963). Vgl. dazu Capurro (1994c).

(9) Vgl. Flasch (1982, Bd. 2: 377-378). Um die Ewigkeit der Welt gegenüber den Einwänden des Al-Gazali zu behaupten, hielt Averroes an der Andersartigkeit himmlischer Körper fest, die so in der sichtbaren Welt Garant für eine bleibende Rationalität und Weltordnung sind (vgl. Flasch 1987: 111).

(10) Zu Heidegger und Nietzsche vgl. Capurro (1994c)

(11) Vgl. Vico (1971: 74 ff).

(12) G. Vico (1971: 117) dazu: "ut Deus sit naturae artifex, homo artificiorum Deus." Vgl. Vikos Definition von Einbildungskraft: "Phantasia certissima facultas est, quia dum ea utimur rerum imagines fingimus" ("Die Einbildungskraft ist ein sehr sicheres Vermögen, da wir, in dem wir davon Gebrauch machen, die Vorstellungen der Dinge schaffen", Übers v. Verf.; Vico 1971: 113).

(13) Zum Folgenden vgl. Schmid (1991: 331-337)

(14) Zum Beispiel "Room for St. John of the Cross", 1983. Video-Ton-Installation (The Museum of Contemporary Art, Los Angeles; The El Paso Natural Gas Company Fund of California Art), gezeigt im Martin-Gropius-Bau, 8. Mai-25. Juli 1993 in Berlin. Vgl. Joachimides/Rosenthal (1993: Bild 241).

(15) Vgl. J. Zutter im Gespräch mit Bill Viola (Zutter 1992: 93-99).


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Letzte Änderung: 20.  März  2018



 
    

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