WAHLPFLICHTBEREICH
INFORMATIONSETHIK
 
 
 
 
 
Wintersemester 2003/2004
3./7. Semester
 
Prof. Dr. Rafael Capurro
 
Dienstags
11:45 - 13:15 (Raum W 316)
14:15 - 15:45 (Raum N 403)
 

Projektseminar:  International ICIE Congress (63271)

 
 
 
 

Teilnehmer

Stefan Knöpfle, Stephen Loughran, Stefanie Jetter, Reinhard Müller, Oliver Klopfer,
Jakob Böhringer, Siegmar Schäfer, Jan Koch, Marcel Ochmann, Sven Kahle, Marcus Apel

Ziel des Seminars

Das Seminar befaßt sich mit dem Thema des vom ICIE (International Center for Information Ethics) organisierten internationalen Kongresses: 
"Localizing the Internet - Ethical Issues in Intercultural Perspective" 

der am 4.-6. Oktober 2004 stattfinden soll und gemeinsam mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) und dem Karlsruher Forum für Ethik in Recht und Technik e.V. veranstaltet wird. Die Studierenden sollen sich mit dem Thema des Kongresses sowie mit ausgewählten Beiträgen zum World Summit on the Information Society befassen.

Aktualität und Brisanz des Themas

Mehr als zehn Jahre nach der Entstehung des Internet stehen wir vor einer paradoxen Situation: Je mehr der anfängliche Mythos einer von der realen Welt sich unterscheidenden Cyberwelt verblaßt und das Internet zum Alltag von Millionen von Menschen gehört, um so mehr wachsen die Erwartungen, dieses Medium werde uns, in einer anderen Weise als dies die Individual- und Massenmedien des 20. Jahrhunderts zu tun vermochten, einander näher bringen, womit das kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben der Menschen in einer gemeinsamen Welt gemeint ist.

Die Gesellschaft der netizens, die sich zunächst als eine von der realen Welt abgehobene Sphäre wähnte und zuweilen noch zu cybergnostischen Vorstellungen neigt, erlebt zur Zeit eine massive Ökonomisierung des Netzes. Als eine von der physischen Realität getrennte Sphäre gehört das Internet zur Geschichte jenes Irrtums von der "wahren Welt", wovon Nietzsche erzählt, dass sie zur Fabel wurde. Oder vielleicht noch nicht ganz? Denn die Fabel über die Cyberwelt scheint gerade von jenen ökonomischen und politischen Interessen missbraucht zu werden, die sich den lokalen, vor allem rechtlichen und moralischen Regulierungen zu entziehen versuchen, um somit ihre Ziele aufgrund eigener Regeln besser erreichen zu können. Das deutet zugleich darauf hin, dass der bisherige Sinn der Unterscheidung lokal/global, so wie er in Zusammenhang mit der terrestrischen Globalisierung in der Neuzeit geprägt wurde, sich verändert. Was ist aber das Besondere an der digitalen Globalisierung und an ihrem Verhältnis zum Lokalen?

Ulrich Beck hat in Anschluß an Roland Robertson diese durch die digitale Vernetzung bewirkte Veränderung des Lokalen durch die (digitale) Globalilisierung "Glokalität" genannt (U. Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt 1997). Die Differenz global/lokal hat in bezug auf die digitale Vernetzung zwei unterschiedliche Bedeutungen. Sie kann sich, zum einen, auf die Differenz zwischen der Globalität der elektromagnetischen Weltvernetzung und der Lokalität einer Adresse (eines Servers oder einer Website) innerhalb des Netzes beziehen oder sie kann, zum anderen, das Lokale als das auffassen, was außerhalb des Netzes, in der physischen raum-zeitlichen Welt also, vorkommt. Von hier aus gesehen ist das Internet eine besondere Sphäre, die lokalisiert oder inkulturiert werden muß. Die Welt des raum-zeitlichen leibhaftigen Lebens ist die Welt der Kultur, der Politik und der Ökonomie mit ihren jeweiligen konkreten Interessen.

Was bringt die digitale Globalisierung für diese oder jene Gesellschaft oder Gruppe innerhalb dieser oder jener Kultur unter diesen oder jenen wirtschaftlichen Verhältnissen konkret an Veränderungen der Lebensbedingungen? Bedeutet sie zum Beispiel, dass eine privilegierte Minderheit von der digitalen Weltvernetzung profitiert und dadurch die schon vorhandene Kluft zwischen Armen und Reichen noch tiefer wird? Steigen die Chancen für eine bessere Ausbildung? Können sich die bisher unterdrückte Stimmen im politischen oder kulturellen Umfeld besser Gehör verschaffen? Steigen die Chancen für eine fortschreitende Demokratisierung? Eröffnen sich neue Betätigungsfelder, so dass die lokale Wirtschaft neue Impulse, sprich: neue Arbeitsplätze, schafft? Kann sich die kulturelle Vielfalt im Medium der digitalen Globalisierung so artikulieren, dass ihre Aneignung auf der Basis und in Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte, den Traditionen und Metaphern und in der eigenen Sprache stattfindet?

Der bloße technische Anschluß (access) der sog. Dritten Welt an die digitale Infrastruktur des World Wide Web löst per se keine sozialen Fragen. Im Mittelpunkt einer auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen sich ausrichtenden digitalen Kultur muß, paradox ausgedrückt, die Leiblichkeit stehen. Die Spannung zwischen dem Digitalen und der physischen Existenz bildet die eigentliche Antriebskraft für die Fragen einer Informationsethik im 21. Jahrhundert. Zugleich ist hervorzuheben, dass die vielfältigen Formen menschlicher Kommunikation, die die Weltvernetzung bietet, zu neuen Formen von Gemeinschaften führen, die quer zu den bisherigen geographisch und kulturell bedingten Lokalitäten stehen, so dass Netz-Gemeinschaften sich vielfältig mit physischen Lokalitäten überschneiden, d.h. zur Erweiterung und Bereicherung des lebensweltlichen Horizontes, aber auch zur Austragung neuer und alter Konflikte führen können.

Man kann vermuten, dass der Einbruch der globalen und interaktiven Weltvernetzung in die Lokalität sich zwar anders, aber auch nicht weniger traumatisch auswirkt, als dies bei den Massenmedien des 20. Jahrhunderts der Fall war. In diesem Sinne ist die Cybergnosis ein Symptom unseres metaphysischen Begehrens, uns jenseits von Raum und Zeit, d.h. jenseits der Leiblichkeit zu konstitutieren. Die Kehrseite dieses Begehrens besteht dann nicht nur im vermeintlichen Ausschluß der Lebenswelt aus dem cyberspace, sondern im zynischen Gebrauch dieses Ausschlusses, um auf Kosten anderer zu leben. Insofern ist der mögliche Sinn der Frage nach der Lokalisierung des Internet ein Aufruf zur Aufdeckung dessen, was im digitalen Diskurs verworfen wird.

Wie ist aber unter den Bedingungen von Pluralität und Multikulturalität ein Zusammenleben im Horizont der Weltvernetzung denkbar, das die Welt weder in ein globales Kasino noch in ein digitales Tollhaus verwandelt? Die Diskussion um die minima moralia zu diesen Fragen hat erst begonnen und sie besitzt eine Brisanz, vergleichbar mit den ihr verwandten weil sich immer stärker im Kontext der Weltvernetzung und der Digitalisierung stellenden bioethischen Fragen. Die politische Aktualität und Dringlichkeit dieser Probleme zeigt die im Dezember 2003 im Auftrag der Vereinten Nationen veranstalteten „World Summit on the Information Society“ (WSIS) (www.itu.int/wsis). Das ICIE Symposium versteht sich als einen Beitrag zur ethischen Diskussion dieser Probleme. Eine Herausforderung der aufkommenden glokalen Weltgesellschaft besteht darin, vor- und nachzudenken wie die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens, wie sie zum Beispiel in der "Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte" zum Ausdruck kommen, im Kontext der digitalen Weltvernetzung auszulegen sind, so dass anstelle des beschworenen "Kampf der Kulturen" ein Dialog zwischen den Kulturen möglich wird, der zugleich zum Erhalt ihrer Vielfalt beiträgt ohne die bislang vorwiegend technisch aufgefaßte Dimension ihrer Einheit aufzugeben.


ICIE 2004: Call for Papers
 

"The ongoing debate on the impact of the Internet at a global and local levels is at the core of today's and tomorrow's political decision-making, particularly in a world that turns more and more unified – and divided. It is also at the core of academic research on what has been called Information Ethics. The leading ethical question is how embodied human life is possible within local cultural traditions and the horizon of a global digital environment. The first International Congress of the International Center for Information Ethics (ICIE) will deal with this question from three perspectives: 

- Internet for Social and Political Development: Community Building 
- Internet for Cultural Development: Restructuring the Media 
- Internet for Economic Development: Empowering the People 

The ethical perspective on intercultural aspects of the global digital network is a normative as well as a formative one. The Congress addresses the question of how people with different cultural backgrounds integrate the Internet in their lives. This concerns in the first place community building. How far does the Internet affect, for better or worse, local community building? How far does it allow democratic consultation? How do people construct their lives within this medium? How does it affect their customs, languages, and everyday problems? The question about information justice is thus not just an issue of giving everybody access to the global network (a utopian goal?), but rather an issue on how the digital network helps people to better manage their lives while avoiding the dangers of exploitation and discrimination. 

It deals, secondly, with the changes produced by the Internet on traditional media, such as oral and written customs, newspapers, radio and TV, the merger of mass media, the telephone and the internet, and the impact of the Internet on literary culture. The Congress also reflects on the next generation of information and communication technologies such as ubiquitous computing and on what might be called the post-internet era. This aspect of the ethical question focuses on new methods of manipulation and control made possible or aggravated by the Internet. 

Finally, it deals with the economic impact of the Net. Is it a medium that helps people to better opportunities for economic development? Or is it an instrument of oppression and colonialism? What is the impact of this technology on the environment? How does it affect what has been called cultural memory or cultural sustainability? 

The Congress offers a platform for an academic exchange on these issues, to be addressed by keynote speakers and discussed in working groups focused on Asia, Africa, Latin America/Caribbean, and USA/Europe. Group discussions will aim at addressing problems as well as best-practice experiences. Although the organisers will do their best for providing necessary conditions for relaxed yet engaged dialogue, the success of the Congress will reflect the contributions and enthusiasm of the participants to make it work. 

The Congress is a contribution to the international debate on the information society at the World Summit on the Information Society (WSIS) being held in Geneva (2003) and Tunis (2005)."
 

Methodik

Auf der Basis von case studies sollen ethische Fragen der Informationsgesellschaft aus interkultureller Perspektive erörtert werden. Dabei sollen sich die Studierenden auch mit einzelnen Stellungnahmen, die als Vorbereitung für das World Summit of the Information Society (WSIS) (Genf 2003) vorgelegt wurden, befassen:
  • Towards a "Charter of Human Rights for Sustainable Knowledge Societes" Heinrich Böll Foundation (WSIS/PC-2/CONTR/65E)
  • The World Summit on the Information Society: An Asian Response. Collective contribution from several Asian NGOs (WSIS/PC-2/CONTR/25-E)
  • Report of the Latin America and Caribbean Regional Conference for WSIS (WSIS/PC-2/DOC/7-E
  • Report of the African Regional Conference for WSIS (WSIS/PC-2/DOC/4-E)
  • Report of the Asia-Pacific Regional Conference for WSIS (WSIS/PC-2/DOC/6-E)
  • Report of the Pan-European Regional Conference for WSIS (WSIS/PC-2/DOC/5-E)
  • Roles and needs of creators, publishers and producers of content in the information society (WSIS/PC-2/CONTR/77-E)
  • Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft (pdf)
  • WSIS: Draft Declaration of Principles (Stand: 18 July 2003)
Siehe auch
- die Dokumente in der Civil Society Platform

- Rainer Kuhlen: Interessenverflechtungen - auf dem Weg zum UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft. In: Information - Wissenschaft & Praxis 54 (2003) 137-148.

Die Besprechung der case studies soll in Form einer Kompaktveranstaltung stattfinden.
 

Weiterführende Literatur

Bauman, Zygmunt: Globalization. The Human Consequences. Polity Press 1998 (dt. Der Mensch im Globalisierungskäfig. Frankfurt a.M. 2003). 

Capurro, Rafael: Die Rückkehr des Lokalen (2003) 

Capurro, Rafael: Digital Divide oder Informationsgerechtigkeit? (2002) (PowerPoint) 

Capurro, Rafael: Informationsgerechtigkeit. Ein Nachtrag 

Kaul, Inge; Conceiçâo, Pedro; Le Goulven, Katell; Mendoza, Ronald, U. Eds.: Providing Global Public Goods. New York/Oxford Univ. Press, United Nations Development Programme 2003. 

Menou, Michel: An Overview of ICToMETERS (2002) 

Working the Internet with a Social vision (Final Document, Mistica, 2002)    

Website zum Kompaktseminar

http://www.eccentrix.com/members/icie/

Themen und Termine

    1) 7. Oktober: Einführung

    2) 14. Oktober: Stellungnahmen zum WSIS


    3) 21. Oktober: Termin wird auf den 25.-26. November verschoben


    4) 28. Oktober:

    - Stellungnahmen zum WSIS
    - Rainer Kuhlen: Interessenverflechtungen - auf dem Weg zum UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft. In: Information - Wissenschaft & Praxis 54 (2003) 137-148-
    - W. Fang: Clash im Internet? telepolis 17.10.2003


    5) 4. November: Stellungnahmen zum WSIS; Internet in den arabischen Ländern

    6) 18. November:
    - Stellungnahmen zum WSIS
    - Internet in Brasilien: Bericht über die Teilnahme am
V Encontro Nacional de Pesquisa em Ciência da Informação, Belo Horizonte, Minas Gerais. Vortrag (keynote speaker): Epistemología y Ciencia de la Información, 10.-14. November 2003
    7) 25.-26. November: Teilnahme am III. HdM-Symposium zur Medienethik:
    Wir sind on. Cool, connected and charming - Tugenden der Medienkultur?

    8) 2. Dezember: Vorbereitung des Kompaktseminars

    9) 6.-7. Dezember: Kompaktseminar


    Referenten und Themen (Arbeitstitel):
    Sigmar Schäfer: Medizin im Internet (Europa/USA)
    Stephen Loughran: Das Internet in Irland
    Stefanie Jetter: Das Internet in Saudiarabien
    Jan Koch: Das Internet in Polen
    Reinhard Müller: Das Internet in Äthiopien
    Marcel Ochman: Das Internet in Australien
    Marcus Apel: Das Internet in den islamischen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens
    Oliver Klopfer: Das Internet in China
    Sven Kahle: Deutsche Kinder im Internet
    Stefan Knöpfle: Auswirkungen des Internet auf die afrikanische Kultur/Wirtschaft
    Jakob Böhringer: Das Internet in Vannaeu

ICIE-Symposien zur Informationsethik

  • II. ICIE-Symposium zur Informationsethik (2002)

  • Digital Divide aus ethischer Sicht 
    Veranstalter: International Center for Information Ethics, Professur für Christliche Sozialethik an der Universität Augsburg (Prof. Dr. Thomas Hausmanninger), mit Unterstützung der VolkswagenStiftung. Proceedings i.Dr.
     
  • I. ICIE-Symposium zur Informationsethik (2001)

  • Konzepte der Informationsethik 
    Veranstalter: International Center for Information Ethics, Professur für Christliche Sozialethik an der Universität Augsburg (Prof. Dr. Thomas Hausmanninger) mit Unterstützung der Volkswagenstiftung. Proceedings: Th. Hausmanninger, R. Capurro Hrsg.: Netzethik. Grundlegungsfragen der Internetethik. Schriftenreihe des ICIE, Band 1, München: Fink Verlag 2002. Thomas Hausmanninger Hrsg.: Handeln im Netz. Bereichsethiken und Jugendschutz in Internet. Schriftenreihe des ICIE, Band 2, München: Fink Verlag 2003.

    Links

    World Summit on the Information Society (WSIS) (Genf 10.-12. Dezember 2003)
     

     
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