AUFKLÄRUNG AM ENDE DER MODERNE

 
Rafael Capurro
  
 

   

Beitrag zur Tagung der Freien Akademie: "Aufklärung und Postmoderne. 200 Jahre nach der französischen Revolution das Ende aller Aufklärung?" Wiesbaden 3.-6. November 1988. Erschienen in: Jörg Albertz, Hrsg.: Aufklärung und Postmoderne. Berlin: Freie Akademie, Bd. 11, 1991, 129-138. Auszüge aus diesem Text sind in der Sammlung für den Unterrichtsgebrauch: Thema Deutsch Aufklärung (Leipzig: Klett 2002, ISBN 3-12-347474-7) sowie in: Cornelsen Schulverlage (Hrsg.): Rund um Aufklärung. 2015 (ISBN 978-3-464-61176-0) erschienen.

 
    
 

INHALT

Einleitung 

1. Postmoderne vs. Informationstechnologie 
2. G. Vattimo: Die "Verwindung" der Moderne 
3. Das "Informations-Gestell" als Chance einer "schwachen" Aufklärung 

Anmerkungen 

Literatur 

 

 
 


EINLEITUNG


Als Kant seine berühmte Charakterisierung der Aufklärung als den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" aufstellte, brachte er zugleich jene Bedingung zum Ausdruck, wodurch der Mut sich des eigenen Verstandes zu bedienen erst zur Tat voranschreiten kann, dann und nur dann, wenn die Freiheit "von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen" gewährleistet ist (Kant 1975, Bd. 9, 55). Was heißt "öffentlicher Gebrauch"? Nicht, wie man vielleicht heute meinen könnte, die Möglichkeit sich mündlich vor einem Auditorium zu äußern, sondern gemeint ist damit jener Gebrauch der eigenen Vernunft, "den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht." (a.a.O.) Das Gegenteil davon, nämlich der "Privatgebrauch", ist das, was wir wiederum "öffentlich" zu nennen pflegen, nämlich die Äußerungen, die etwa dieser Gelehrte im Rahmen eines "ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf." (a.a.O.) Im erste Fall handelt es sich um die Freiheit zu "räsonnieren" und zwar "durch Schriften", indem man sich nicht vom politischen oder geistlichen Amte eingeschränkt (als Bürger oder Geistlicher) weiß, sondern eben als Gelehrter, als Glied der "Weltbürgergesellschaft", begreift und die Möglichkeit hat, sich "öffentlich, d.h. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen" (a.a.O. 58) 

Kant verneinte damals die Frage, ob die Menschen in einem "aufgeklärten Zeitalter" lebten, er sah aber Anzeichen dafür, dass der Beginn eines "Zeitalters der Aufklärung", also der freien, öffentlichen, schriftlichen, kritisch-gelehrten Meinungen seinen Ausgang genommen hatte.  

Und heute? Ist nicht dieser Traum der Aufklärung zumindest in den "westlichen Demokratien" (und allmählich, aufgrund der sich durch die "Perestroika" anbahnenden Liberalisierung - auch im Osten) zum großen Teil Wirklichkeit geworden? Und ist die Realisierung dieses Traums von "Öffentlichkeit" im Kantischen Sinne zunächst durch die Gutenberg-Technik, zuletzt aber, in Gestalt der Informationstechnologie in einem früher kaum vorstellbaren Grad von Universalität "möglich" geworden? Läßt sich die Informationstechnologie so, also im Sinne einer gesteigerten Form von Aufklärung durch am Bildschirm flimmernde Mitteilungen deuten? Oder sind vielleicht die Bildschirme die falschen Propheten unseres Jahrhunderts, indem sie den Menschen (in Ost und West, Nord und Süd) den Anschein im "Zeitalter der Aufklärung" zu leben geben, während sie in Wahrheit Kritik und Pluralität ersticken, ja die Freiheit der Kritik unter die Herrschaft nicht mehr (bzw. nicht nur) des Fürsten oder des Geistlichen, sondern eben der Maschine stellen, jenem Menschen, der, wie Kant am Schluß seiner Abhandlung schreibt, "nun mehr als Maschine ist"? 

Wie steht es also, so lautet meine Frage, mit der Aufklärung im Zeitalter der Information? Inwiefern kündigt sich in unseren elektronischen Speichern und Netzwerken das Ende im Sinne von Vervollkommnung und/oder Zerstörung der Aufklärung bzw. ihrer wesentlichen Bedingung der "Öffentlichkeit" kritischer Mitteilungen an? Oder, anders gefragt, inwiefern liegt hier unsere, wie der italienische Philosoph Gianni Vattimo schreibt, einzige "Chance", vorausgesetzt, wir finden die Perspektive, von wo aus wir am "Ende" der Moderne zugleich eine alte Botschaft vernehmen, die uns helfen kann, Herkunft und somit auch Zukunft unseres Zeitalters zu entziffern? (Vattimo 1990, 188) 

Im Folgenden möchte ich einige Thesen Gianni Vattimos zur Diskussion stellen, der, wie mir scheint, für die Beantwortung dieser Frage, also der Frage nach dem Sinn von Aufklärung am Ende der Moderne, einen Weg vorschlägt, welcher fern von jedem kabarettistischen Effekt mancher "postmoderner" Autoren, zu einer Chance werden kann, um ein zumindest schwaches Licht auf unser Jahrhundert zu werfen. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, scheint mir zunächst nützlich, auf eine Gegenposition, die Wolfgang Welsch in seinem Buch "Unsere postmoderne Moderne" einnimmt, hinzuweisen (Welsch 1987).

1. POSTMODERNE VS. INFORMATIONSTECHNOLOGIE

Eine Kernthese Welschs ist die Aussage, dass der postmoderne Pluralismus "als Möglichkeit sogar schon vor der Moderne entdeckt" wurde, aber "nicht zum Tragen" kam (Welsch 1987, 83). Die Moderne verwirklichte sich von den "Einheitsprogrammen des Idealismus", über den Szientismus bis hin, und darauf kommt es meiner Meinung nach heute an, zu den "neuen Kommunikations-Technologien", im Sinne einer "Weltuniformierung", d.h. also eines einebnenden den Pluralismus verneinenden Denkens und Tuns (Welsch 1987, 84). Die Postmoderne rettet sozusagen diesen ursprünglichen Zug der Moderne, sie ist deshalb "unsere postmoderne Moderne". Welsch spricht von "transversaler Vernunft", um die postmoderne Vernunftform im Sinne eines "interrationalen Vermögens" zu bestimmen: Sie bewegt sich zwischen verschiedenen Rationalitäten, ohne sich aber auf einen "höheren Verstand" berufen zu können. Dennoch ist sie nicht einer absoluten Heterogenität der Perspektiven, so Welsch gegen Lyotard, unterworfen, sondern sie kann stets "ästhetisch", etwa mit Hilfe von Analogien, auf eine Verbindung der Diskurse hinarbeiten, ohne sie in einer Totalität aufheben zu wollen bzw. können (Welsch 1987, 304-318). 

Die so verstandene Postmoderne stellt Welsch dem "technologischen Zeitalter" gegenüber, und beruft sich dabei auf Lyotards "Das postmoderne Wissen" (1986). Welsch wörtlich:  

"Die Informatik filtert nach den ihr eigenen Kriterien und macht diese so zu den effektiven Wahrheitskriterien der Gesellschaft. Nuancen werden hinfällig, Wortspiele sinnlos, Dunkelheiten inexistent. Widersprechendes braucht nicht erst widerlegt zu werden. Es hebt sich schon von selbst auf, indem es eigentlich sagbar nicht mehr ist: Was nicht programmierbar ist, darüber muß man schweigen. So wirken die neuen Technologien indem sie "postindustriell" zu Steuerungszwecken und zur Leistungssteigerung des Systems eingesetzt werden als Medien der Uniformierung." (Welsch 1987, 219)
Dabei steht bei Lyotard die Sache viel nuancierter. Am Schluß seines "Berichts" schreibt er, dass die "Informatisierung der Gesellschaft" sich auf "das 'erträumte' Kontroll- und Regulierungsinstrument des Systems des Marktes" hin entwickeln kann, dass sie aber auch den "diskutierenden Gruppen" dazu dienen kann, ihnen die Informationen zu geben, die sie für ihre Entscheidungen benötigen. Worauf kommt es dabei an? Lyotards Antwort ist denkbar einfach:  
"Die Öffentlichkeit müßte freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten." (Lyotard 1986, 192)
Mir scheint, dass Welschs scharfe Trennung von Pluralität auf der einen und einebnender Sprachuniformierung durch die Informationstechnologie auf der anderen Seite, schief ist. Ich glaube allerdings nicht, dass bloß mit dem von Lyotard geforderten öffentlichen Zugang zu Datenbanken die Ziele der Aufklärung im Sinne eines pluralistischen Denkens gefährdet werden können. Um es deutlicher zu sagen: Als zu Beginn der Moderne durch die Möglichkeit des Buchdrucks die Ideen bzw. Ideale der Aufklärung ihren eigentlichen öffentlichen Weg einschlagen konnten, dann kam es nicht nur darauf an, das gedruckte Wissen etwa durch die Schaffung von Bibliotheken, Lesezirkeln usw. verfügbar zu machen. Es musste zugleich eine gewaltige erzieherische Arbeit geleistet werden, um "den Leuten" "das Lesen" beizubringen.

Die Alphabetisierung bestand ihrerseits nicht nur darin, die Schriftzeichen zu lernen, sondern das Gedruckte mit kritischem Blick zu sehen. Es musste, mit anderen Worten, jedem klar gemacht werden, dass etwas nicht deshalb wahr ist, weil es gedruckt steht. Dementsprechend müsste es jetzt heißen: dass etwas nicht deshalb wahr ist, weil es programmiert wurde. Da der Mensch u.a. ein lügendes Tier ist, wäre es sinnvoll, den Unterschied von "mündlich lügen", "schriftlich lügen" und "programmiert lügen" in seinen sozialen Auswirkungen zu verfolgen. Wir brauchen, mit anderen Worten, eine Hermeneutik der Informationstechnologie, d.h. eine kritische Reflexion über die Bedingungen und Auswirkungen der Einprogrammierung von "Vorverständnissen", d.h. von sozialen Wissensstrukturen und -inhalten, die dann und nur dann sich als "postmoderner" Kern jener von Welsch angesprochenen Pluralität erweisen kann, wenn wir ihr die "starken" (oder "metaphysischen" Seins-) Charaktere
"Wahrheit" bzw. Allgemeingültigkeit für "alle" und für "immer", "Grund" etwa des gesellschaftlichen Seins, neue Stufe des "Fortschritts" usw. weder in der Theorie noch in der Praxis zuschreiben.

Das setzt wiederum voraus, dass wir den metaphysischen Weg der Moderne zu Ende denken. Erst dann ist m.E. der Blick frei, um aus der Sackgasse der von Welsch aufgestellten Alternative aut Pluralismus aut Informationstechnologie zurück zu einem möglichen Ausweg aus der Krise der Moderne zu finden.   


2. VATTIMO: DIE "VERWINDUNG" DER MODERNE

An dieser Stelle möchte ich die anfangs angekündigten Thesen des italienischen Philosophen Gianni Vattimo zur Postmoderne erläutern. Es geht Vattimo nämlich u.a. darum zu zeigen, dass das Denken der Moderne (genitivus subjectivus) ein im Heideggerschen Sinne metaphysisches Denken ist, d.h. dieses Denken sucht auf dem Weg fortschreitender Aufklärung nach einem Grund. Dementsprechend ist die Moderne vor allem durch den Begriff des geschichtlichen Fortschritts gekennzeichnet, sei es im Hegelschen Sinne eines Gangs des Bewußtseins bis hin zum "absoluten Wissen", sei es im Marxschen Sinne der Aufhebung gesellschaftlich-ökonomischer Widersprüche, bis zur "klassenlosen Gesellschaft".  

Das, also, was die Philosophie der Moderne kennzeichnet, ist vor allem der Gedanke eines fortschreitenden Prozesses, etwa als "Aufhebung" bzw. "Überwindung". Es ist gerade an diesem Gedanken, wo sich die "Post-moderne", will sie einen philosophisch ernsten Status gewinnen, über sich selbst im klaren werden muß. Mit der Deutung des "Post-" steht, so können wir verkürzt sagen, nicht mehr und nicht weniger als der Bezug zur Vergangenheit und mit ihm auch zur Gegenwart und Zukunft auf dem Spiel. Vattimo untersucht u.a. die von Nietzsche und Heidegger beschrittenen Wege zur Deutung dieses "Post".  

Während Nietzsche in der zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung" in den "überhistorischen" Mächten Kunst und Religion einen Ausweg aus der historischen Krankheit der Moderne suchte, führte ihn seine spätere Kritik der Religion und der Moral nicht zu einer von "ressentiment" geladenen Verwerfung bzw. "Überwindung", sondern zur "Genesung" von den metaphysischen Ideen (Wahrheit, Sein, Grund, das Neue usw.) und zwar aufgrund einer Änderung des Blickwinkels. Er nannte diese Einstellung die des "buon temperamento". Demnach hatte das Denken der "Morgenröte" nicht etwa ganz neue Inhalte gegenüber denen der Metaphysik, sondern es waren diese selbst, aber - sie sahen ganz anders aus! 

Um diese Einstellung zu beschreiben, greift Vattimo auf Heideggers Begriff der "Verwindung" zurück, den Heidegger in seinen späten Schriften in Zusammenhang mit der gegenseitige Herausforderung von Mensch und Sein in der Gestalt der modernen Technik gebraucht. Heideggers terminus technicus für die metaphysische Konstellation unseres (spätmodernen) Zeitalters lautet "Ge-Stell". Es geht für Heidegger nicht darum, das "Ge-Stell" als Teil eben unserer metaphysischen Tradition zu "überwinden", indem wir es etwa "hinter uns bringen", oder indem wir aus ihm wie aus einem fahrenden Zug aussteigen, oder indem wir uns einer geistigeren Form menschlichen Tuns widmen usw.; und es geht auch nicht darum, uns in dieses "Ge-Stell" schicksalhaft zu ergeben. Sondern es geht statt dessen um die Möglichkeit seiner "Verwindung".  

Was heißt das? Es heißt zunächst, dass wir unsere Vergangenheit, in diesem Fall also die Metaphysik, die sich in der Gegenwart überspitzt und zu dem wird, was Heidegger das "Ge-Stell" nennt, nicht "einfach" ablegen, sondern, dass wir es, wie bei einer Krankheit oder bei einem Schmerz - und wer wäre so vermessen zu sagen, dass die moderne Technik uns nicht, gelinde gesagt, täglich "Schmerzen" bereitet? -  nicht "überwinden", sondern eben "verwinden" können. Wir verwinden etwas, indem wir uns einfügen, die Krankheit etwa als Möglichkeit für eine Änderung unseres bisherigen Verhaltens hinnehmen. Wir stellen uns also nicht gegen sie, sondern wir nutzen ihre Kraft, wie etwa beim japanischen Aikido, um ihre Bewegung in eine für uns günstige Wende bzw. "Windung" zu nutzen. Vielleicht ist diese Nebenbedeutung von "Verwindung" im Sinne von "Verdrehen", auf die Vattimo hinweist, nicht nur eine etymologische Spielerei. So schreibt zum Beispiel Hegel in bezug auf die Philosophie Platos, dass die in Form von Dialogen dargestellten Ansichten nicht eine eklektische Philosophie zum Ausdruck bringen, sondern "sie bildet vielmehr den Knoten, in dem diese abstrakten einseitigen Prinzipien jetzt auf konkrete Weise wahrhaft vereinigt sind." (1) Die Metapher des Knotens weist auf die Einheit der verschiedenen Linien bzw. Traditionen und das heißt letztlich auf die Vorstellung von der Geschichte der Philosophie als einer "Linie des Fortganges", auf der solche "Knotenpunkte" "eintreten müssen", hin (2). Gegenüber einer solchen festen in einem System (oder "Gewebe") verankerten Verbindung von Traditionen, scheint mir Heideggers bzw. Vattimos Auffassung von "Verwindung" insofern eine freiere Aufnahme der Tradition zu ermöglichen, als das Denken stets vor einer endlichen (d.h. mit einer offenen Vielfalt von "Anfangs"- und "End"-Möglichkeiten) Verknüpfungsaufgabe steht, diese als eine solche annimmt, und dabei erst jene Krankheit verwindet (!), d.h. jenen Irrweg relativiert, wodurch es nach einem wahren Gang - nach einem Anfang und Ende sozusagen - durch die Fäden der Geschichte suchen zu müssen glaubte. Damit ist m.E. zugleich die Nähe und Distanz zwischen der Heideggerschen "Verwindung" und der Hegelschen "Versöhnung" im Sinne der Rückführung vom Sich-Unterscheidenden auf die bestimmte Einheit des Systems - angedeutet. 

Das "Ende der Moderne" - oder vielleicht sollten wir lieber sagen: eine der Möglichkeiten, wie die Moderne ein, nicht "das", Ende findet - kündigt sich genau in der Auflösung des Geschichtsbegriffs im Sinne eines "einheitlichen Gangs, ausgestattet mit Folgerichtigkeit und Rationalität" an, was, Benjamin zufolge, so nur vom Standpunkt der Sieger aus zu erscheinen vermag (Vattimo 1990, 13-14). Der Ausdruck "Postmoderne" wäre also ein Widerspruch, sollte das "Post-" so etwas wie eine Überwindung oder "Fort-schritt" gegenüber einem vorangehenden Stadium bedeuten. Statt dessen geht es um die Auflösung der theologisch-metaphysischen bzw. der säkularisierten modernen Vorstellung eines geschichtlichen Gangs, genauso wie von der Vorstellung der einen leitenden Rationalität (oder "Partei") bzw. des einen Diskurses. 

Was bleibt, ist gerade nicht jene Geschichtslosigkeit, die typisch für die Utopien des 18. Jahrhunderts war, sondern es ist die unpathetische Gebrechlichkeit menschlichen Stiftens. Dieses Stiften besitzt keine stabile Struktur, sondern seine Wahrheit ist ein Ereignis, das nie voll aufgeblendet bzw. aufgeklärt, sondern stets im Halbdunkel der "Lichtung" (Heidegger) bleibt (Vattimo 1990, 83). Aufklärung am Ende der Moderne bedeutet dann Einblick in die Ereignishaftigkeit des Geschichtlichen 

Aus alledem folgt eine Mäßigung der Ansprüche der Metaphysik und zugleich auch des eigenen relativistischen Standpunktes, die Vattimo mit dem Ausdruck "pietas" beschreibt. Das, wie Vattimo es nennt, "schwache Denken", ist jenes Denken, das in der geschichtlichen Erfahrung von Empfang und Antwort keine notwendige fortschreitende Verknotung, d.h. "Aufhebung" der Standpunkte vollbringt, sondern die Tradition je und jäh "verwindet". So hat das Denken weder die Macht die Überlieferung "hinter sich" zu lassen, noch bleibt es ihr "einfach" "ausgeliefert". Vattimo betont deshalb, mit Heidegger, dass "Verwindung" zugleich "An-denken" bedeutet. Und wo wäre ein solches "An-denken" nötiger als bei jener Gestalt der Metaphysik, die sich geschichts- und somit auch bodenlos darstellt, nämlich bei der Informationstechnologie und, so möchte ich hinzufügen, bei ihrem theoretischen Unterbau, der Informatik? Es ist kennzeichnend genug, dass erst in jüngster Zeit Anzeichen dafür gibt, dass die Informatik sich allmählich ihres kaum zu ermessenden Bedarfs an philosophischer Reflexion (an "An-denken" also) bewußt wird. Nur so läßt sich m.E. erklären, dass ethische, epistemologische und sogar ontologische Fragen die Gemüter dieser scheinbar geschichtslosen Wissenschaft (oder eher "Kunst", was aber keineswegs eine Minderung ihres Status bedeutet!) in und außerhalb der "scientific community" erregten (3). 

Vattimo gibt drei Kennzeichen eines "schwachen", d.h. verwindenden Denkens, nämlich ein Denken des "Genusses", der "Kontaminierung" und des "Ge-Stells". Das erste Kennzeichen weist auf eine Ethik der "Güter" und des ästhetischen Wiederelebens gegenüber einer Ethik der Imperative hin. Das zweite bezieht sich auf die Möglichkeiten des hermeneutischen Denkens, das die metaphysischen Letztbegründungsansprüche aufgibt, und sich mit allen Formen des logos vermischt. Das dritte Kennzeichen schließlich, das die anfangs erwähnte starke Gegenüberstellung durch Welsch fragwürdig macht, stellt einen Bezug zwischen moderner Technologie und abendländischer Tradition her, wodurch sowohl die humanistischen als auch die technokratischen Ansprüche zu schwingen beginnen, ihre harten Konturen verlieren und ihren Glanz im chiaroscuro dämpfen. 


3. DAS "INFORMATIONS-GESTELL" ALS CHANCE EINER "SCHWACHEN" AUFKLÄRUNG

Es genügt also nicht das "Zauberwort" "Pluralität" in den Mund zu nehmen, um aus der Postmoderne "unsere postmoderne Moderne" zu machen. Es genügt meines Erachtens auch nicht, wenn die Postmoderne im Sinne eines Beliebigkeits"denkens" in Bausch und Bogen verdammt wird, um sich anschließend auf eine noch unvollendete Aufklärung zu berufen. Natürlich ist die Aufklärung unvollendet. Und sie wird es auch immer bleiben! Darüber sollte sie sich ruhig aufklären lassen. Ihre Ansprüche, zuvor und vor allem die der europäischen Aufklärung, gehen, nach vielen, vor allem für die Opfer, leidvollen Erfahrungen, (hoffentlich bald) zu Ende. Die "reine Vernunft", die vielleicht niemals so "rein" war, ist längst eine Mestizin geworden (Capurro 1989). 

Es ist meines Erachtens aus dem Blickpunkt einer schwachen, d.h. an ihre "Ver-windungen" stets "an-denkende" Vernunft gesehen, wodurch wir ihrer maßlosen Ansprüche gewahr werden, die sich bezeichnenderweise zugleich als Traum und Alptraum ihrer Verwirklichung in einer total informatisierten Gesellschaft ankündigen. Der Ruf nach starken Lösungen, sei es in Münchhausener Manier als Rettung der Technik durch die Technik, sei es als Rückgriff auf eine vermeintlich starke (etwa ethische) Vernunft, bietet hier keine den Prinzipien der Moderne sich entziehende Perspektive. Das "Denken der Kontaminierung" zeigt uns, so Vattimo, dass wir die durch die Informationstechnologie gewonnene Dimensionenvielfalt auf keine starke dogmatische Einheit zurückführen sollten, indem wir ihr jene metaphysischen Züge geben, die dem Denken der Moderne eigen sind. Stattdessen können wir sie im Rahmen einer gewissermaßen "nach vorne" gerichteten Hermeneutik betrachten, (4) als Medium zur Verbreitung oder "Kontaminierung" von Wissenschaft, Technik, Kunst, Nachrichten, Unterhaltung usw., die sie jeweils zu einer "schwachen" Einheit führt (Vattimo 1990, 195). So gewinnt die Hermeneutik in Vattimos "Denken des Ge-Stells" jenen "ver-windenden" Bezug zur Wissenschaft und Technik und verliert zugleich ihre scheinbare reine humanistische Berufung. Natürlich ist der hermeneutische Blick nach vorne, etwa im Sinne der oben angedeuteten Reflexion über die Bedingungen und Auswirkungen (für eine Gesellschaft oder auch für die interkulturelle "Kontaminierung") der Einprogrammierung von Wissensstrukturen, zugleich durch jene klassische nach hinten gerichtete Hermeneutik zu ergänzen, die eine schwache Anknüpfung scheinbarer geschichtsloser Technologien und Fachgebiete an die Tradition bewirkt. Eine solche Reflexion muß sich außerdem der Frage nach der politischen und rechtlichen Kontrolle dieser Technologie öffnen und dort emanzipatorisch wirken, wo sie Macht und Gewalt zu einem starken modernen Mittel umzukehren versuchen. 

So könnten die Massenmedien und die Informationstechnologie mit ihren vielfältigen Kontaminierungsmöglichkeiten zu jener "Verwindung" von Wissenschaft, Technik, Kunst und Gesellschaft beitragen, die nicht die Einheit der modernen philosophischen Vernunft anstrebt, sondern eine Verknüpfung von Sprachen und Kulturen möglich macht, die sich aus ihren jeweiligen Überlieferungen einem gegenseitigen relativierenden, also befreienden Dialog öffnen. Wir haben fortan mit einer gebrochenen oder, wie wir auch sagen könnten, fraktalen Einheit des Wissens zu tun (5). 

Wenn also Welsch den Informationstechnologien tout court "unsere postmoderne Moderne" entgegenstellt, dann übersieht er m.E., dass wir diese Technologien, dem Motto der Aufklärung "sapere aude" (Horaz) folgend, im Sinne einer neuen oder, wie Vattimo sagen würde, schwachen neuen Herausforderung für die Sozialisierung unseres Denkens und Handelns, verwirklichen können. Dieses Motto der Aufklärung steht bei Horaz im folgenden Zusammenhang. Angeregt durch die Lektüre Homers, empfiehlt Horaz seinem jungen Freund Lollius Maximus sich rechtzeitig dem Studium der Weisheit ("sapientia") zu widmen und mahnt ihn: 

"dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude,  
incipe. vivendi qui recte prorogat horam, 
rusticus exspectat, dum defluat amnis; at ille 
labitur et labetur in omne volubilis aevum." 

"Frisch begonnen, ist halb gewonnen: Entschließ dich zur Weisheit! 
Wage den Anfang! Wer ein neues Leben antreten will und den ersten 
Tag  vertagt, der tut wie jener Bauer: er steht und wartet, bis der 
Strom abläuft; der aber fließt und flutet und wird in Ewigkeit fluten." 

(Horaz 1979, Briefe I, 2, 41-43)

Eine postmoderne Übersetzung dieses Spruches könnte lauten: Habe den Mut, gemeinsam mit anderen vor- und nachzudenken! 
 

ANMERKUNGEN

1) G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Platon (1979, 70). In seinen "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" (Hegel 1971, Bd. 18, 77) verwendet Hegel die gleiche Metapher. Dort heißt es in bezug auf das Verhältnis der Philosophie zur "wissenschaftlichen Bildung": "All sein (d.h. des Bewußtseins, RC) Wissen und Vorstellen ist von solcher Metaphysik durchwebt und regiert; sie ist das Netz, in welches all der konkrete Stoff gefaßt ist, der den Menschen in seinem Tun und Treiben beschäftigt. Aber dieses Gewebe und dessen Knoten sind in unserem gewöhnlichen Bewußtsein in den vielschichtigen Stoff versenkt; dieser enthält unsere gewußten Interessen und Gegenstände, die wir von uns haben; jene allgemeinen Fäden werden nicht herausgehoben und für sich zu den Gegenständen unserer Reflexion gemacht." In der "Wissenschaft der Logik" schließlich (Hegel 1971, Bd. 5, 413 sowie 435-442) spricht Hegel von der "Knotenlinie von Maßverhältnissen" und meint damit die qualitativen Veränderungen ("Knoten oder Sprünge") innerhalb einer quantitativen "Skala des Mehr und Weniger" etwa beim Fortgang der Zahlen, Musiktöne, chemischen Verbindungen, Entstehung der Lebewesen bis hin zum Moralischen und zur staatlichen Verfassung. Eine solche Aufgabe stellt sich (Hegel) etwa in bezug auf die "spezifischen Schweren der Körper", wenn man die "Verhältnisexponenten" "als ein System aus einer Regel" erkennen würde, "welche eine bloß arithmetische Vielheit zu einer Reihe harmonischer Knoten (meine Hervorhebung!) spezifizierte." (Hegel 1971, Bd. 5, 434). 

2) Über die Metapher der "Knotenpunkte" vgl. auch K. Marx: Aus den Vorarbeiten zur Dissertation (Marx 1962, 102). Sie bezeichnen die Bildung einer "Totalität", welche mit "geschichtlicher Notwendigkeit" in ein "praktisches Verhältnis" zur Wirklichkeit "umschlägt". Was dabei entsteht, nennt Marx "Fastnacht der Philosophie". 

3) Vgl. die Diskussionen um die Kritik Joseph Weizenbaums sowie um den Ansatz von Winograd/Flores. Dazu (Capurro 1987, 1988, 1990). Richtungsweisend für eine Neuorientierung der Informatik (Floyd et al. 1991). 

4) Vgl. Anders (1987, Bd. 1, 424 ff), der von "prognostischer Hermeneutik" spricht. Vgl. (Capurro 1986). 

5) Die Gebrochenheit menschlicher Überlieferungen läßt sich mit der fraktalen Struktur einer Meeresküste vergleichen: Sowenig wie die Euklidische Geometrie eine solche Struktur adäquat beschreiben kann, sowenig bietet das totalisierende Denken der metaphysischen oder neuzeitlichen Vernunft ein adäquates Mittel, um der Grundlosigkeit und Unabgeschlossenheit des Geschichtlichen zu entsprechen. 

 

LITERATUR

Anders, G. (1987): Die Antiquiertheit des Menschen. München, 2 Bde. 

Capurro, R. (1986): Hermeneutik der Fachinformation. Freiburg/München. 
- (1987): Die Informatik und das hermeneutische Forschungsprogramm. In: Informatik-Spektrum 10, 329-333. 
- (1987a): Die Verantwortbarkeit des Denkens. Künstliche Intelligenz aus ethischer Sicht. In: Forum für interdisziplinäre Forschung, 1, 15-21. 
- (1988): Die Inszenierung des Denkens. Künstliche Intelligenz als theatralische Metapher und Show. In: Mensch Natur Gesellschaft, 5, 18-31. 
- (1989): Der Kongreß. Eindrücke vom XVIII. Weltkongreß für Philosophie. Brighton, GB, 21.-27. August 1988. In: Information Philosophie, 4, 74-82. 
- (1990): Ethik und Informatik. In: Informatik-Spektrum, 13, 322-320. 

Floyd, Ch., Züllighoven, H., Budde, R., Keil-Slawik, R. Hrsg. (1992): Software Development and Reality Construction. Berlin: Springer. 

Hegel, G.W.F. (1979): Vorlesungen über Platon. Frankfurt a.M. 
- (1971): Werke. Frankfurt a.M. 

Horaz (1979): Sämtliche Werke. München. 

Kant, I. (1975): Werke. Hrsg. W. Weischedel. Darmstadt. 

Lyotard, J.-F. (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz, Wien. 

Marx, K. (1962). Frühe Schriften. Darmstadt. 

Vattimo, G. (1989): Das Ende der Moderne. Übers. u. hrsg. von R. Capurro.  

Weizenbaum, J. (1978): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a.M. 

Welsch, W. (1987): Unsere postmoderne Moderne. Weinheim. 

Winograd, T., Flores, F. (1986): Understanding Computers and Cognition. A New Foundation for Design. New Jersey.  


Letzte Änderung: 23. August  2017
 

 
    

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