MOBILITÄTSTECHNOLOGIEN

Rafael Capurro

 
 

    
Auszüge aus meinem Beitrag in: Gutmann, Mathias / Wiegerling, Klaus / Rathgeber, Benjamin (Hg.): Handbuch Technikphilosophie. Metzler 2024, 385-392.



      

Einleitung
 

Was ist Mobilität? Der wechselseitige Begründungszusammenhang zwischen Zeit und Bewegung wurde in der abendländischen Tradition von Aristoteles maßgeblich geprägt. Demnach ist die Zeit (chrónos) "die Anzahl für die Bewegung (arithmós kinéseos) hinsichtlich dem Früher und dem Später" (Aristoteles 1950, IV, 11, 219 b 1-2). Was das Früher vom Später trennt und verbindet ist das Jetzt (to nun). Die Zeit ist eine Abfolge von Jetztpunkten. Diese können sich auf vergangene oder künftige Ereignisse beziehen so dass "das Jetzt vielfache Bedeutungen haben kann, etwa in Bezug auf 'Einmal', ''Jüngst', 'Soeben', 'Ehedem' und 'Plötzlich'" (Aristoteles 1950, IV, 13, 222 b 27-29). Aristoteles stellt die Frage, ob die Zeit ohne die Seele (psyche) existieren kann, obwohl die Zeit zu allen möglichen Naturprozessen und nicht nur zum Menschen gehört. Wenn die Zeit nicht ohne die Seele als Zählvermögen existieren kann, zugleich aber Zeit und Bewegung (kínesis) nicht identisch sind, ergibt sich daraus eine Spannung bezüglich der Gegenstände möglicher Zählung und der Seele eigener Weise des Zeitseins. Für Aristoteles wie für das antike Denken insgesamt ist die "gleichmäßige Kreisbewegung" (kyklophoría he homalés) das "Maß" (métron) der Zeit, da sie genau gemessen werden kann (Aristoteles 1950, IV, 13, 223 b 19 ff). Das gilt allem voran mit Bezug auf die Drehung der Himmelskugel. Es lässt sich deshalb sagen, dass nicht nur das menschliche Leben ("ta anthropina pragmata"), sondern alle Naturprozesse sich in Form eines Kreislaufs von Entstehen und Vergehen vollziehen (Aristoteles 1950, a.a.O.). Das Maß der Mobilität ist letztlich die Immobilität eines "unbewegten ersten Bewegers" (proton kinoun akíneton) (Aristoteles 1950, VIII).

Die Differenz zwischen der Zeit als Folge von Jetztpunkten ("vulgäres Zeitverständnis") im Unterschied zur dreidimensionalen Zeit des menschlichen Existierens ("ursprüngliche Zeit") hat Martin Heidegger in seiner Aristoteles-Interpretation ausgearbeitet und "ontologische Differenz" genannt (Heidegger 1975, 322-388). In-der-Zeit-sein und Im-Raum-sein menschlichen Existierens haben eine eigene Bewandtnis (Boss 1975). Es ist weil wir 'Ehedem' gewesen sind und künftig da und dort sein können, dass wir Mobilitätstechnologien entwickeln können, deren Bewegungen nicht nur in ihrer Zählbarkeit bezogen auf die Zeit als Jetztzeit, sondern in der dreidimensionalen Zeitlichkeit gründen. Zunächst und zumeist richten wir uns im Alltag nach der Jetztzeit der Mobilitätstechnologien. Das können wir tun, weil die Jetztzeit zur reichhaltigeren dreidimensionalen Zeit gehört. Die "ontologische Differenz" betrifft die Differenz zwischen dem Wer-sein des Menschen in seiner Offenheit zur Welt und dem Was-sein der Dinge (Capurro/Eldred/Nagel 2013). Mit Wer-sein ist keine eingekapselte und weltlose Subjektivität gemeint, sondern ein Selbstsein, dass sich stets als ein Mitsein mit anderen in der dreidimensionalen Zeitlichkeit bei den Dingen in einer gemeinsamen Welt manifestiert. Diese Differenz wird auch durch die Definition von Zeit als die Anzahl für die Bewegung all dessen, was sich bewegt, nivelliert. Diese Differenz ist aber entscheidend wenn es darum geht, Mobilitätstechnologien mit Bezug auf ihre Relevanz für die Lebenswelt des Menschen, die auch nicht-menschliche Lebewesen sowie die Natur insgesamt umfasst, zu verstehen und zu gestalten.
 

Geschichtlicher Umriss

Mobilitätstechnologien gibt es seit der Frühgeschichte des Menschen. Das Rad wurde vor ca. 5000 Jahren erfunden. Schifffahrt gibt es seit dem 4. Jh. v.Chr. Mobilitätstechnologien lassen sich aber nicht auf rein technische Artefakte einschränken, sondern beziehen sich auch auf die Nutzung von Tieren, wie etwa Pferde oder Ochsen, und deren Lenkung mit Hilfe technischer Vorrichtungen. Ein Beispiel dafür ist die 6000 jährige Geschichte des "kentaurischen Paktes" zwischen Pferd, Mensch und Maschine (Raulff 2015).

(...)

Es liegt in der Logik der sich beschleunigenden Prozesse der Massenproduktion sowie der Ausbreitung des modernen globalen Marktes, dass neue physische und symbolische Mobilitätstechnologien erfunden würden, allem voran der Computer, der zur Grundlage aller Arten von Bewegungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurde und eine unaufhaltsame Entwicklung und globale Verbreitung erfuhr. Relativitätstheorie und Quantenmechanik stellten die neuzeitlichen Raum- und Zeitvorstellungen in Frage. Die Lichtgeschwindigkeit gilt als unumstößliche Geschwindigkeitsgrenze. Der französische Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio (1932-2018) veröffentlicht 1977 ein Traktat über die Dromologie, das auf seine Erfahrungen des "Blitzkrieges" im Zweiten Weltkrieg zurückgehen. Die Geschichte der Beschleunigung führt zum Zustand des "rasenden Stillstandes". (Virilio 1977). Mobilitätstechnologien haben naturgemäß die Möglichkeit der Beschleunigung und der Verlangsamung bis hin zum (rasenden) Stillstand je nach Zweck der Bewegung sowie der jeweiligen Situation. Dementsprechend ergeben sich Verfallsformen und gelingende Weisen der Mobilität. Die soziale Bedeutung von Ruhe und Bewegung ist kulturell geprägt. Eine vergleichende kulturgeschichtliche Analyse der Mobilitätstechnologien bleibt ein Desiderat der Forschung. Die Mobilitätstechnologien des Industriezeitalters werden im Informationszeitalter digitalisiert. Die Entwicklung der Computertechnologie kulminiert vorläufig  im Internet und dem World Wide Web  und setzt sich mit Suchmaschinen, sozialen Netzwerken, Smartphones und neuerdings mit dem Mobilfunkstandard 5G, dem 3D Drucker oder der Blockchain-Technologie fort. Die sich anbahnende Robotisierung zeigt eine neue Dimension dessen, was in Charlie Chaplins "Modern Times" 1936 filmisch sichtbar wurde und sich jetzt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausbreitet.

(...)

 

Ausgewählte Problemfelder von Mobilitätstechnologien des digitalen Zeitalters

Die Digitalität bildet den Horizont, von wo aus physische und symbolische Mobilitätstechnologien im 21. Jahrhundert ihre Bestimmung und das Maß ihrer Relevanz erhalten, ohne dass aber nicht-digitale Formen von Mobilität ihren Sinn und Zweck verloren hätten. Im Folgenden werden exemplarisch drei Problemfelder umrisshaft dargestellt.

1. Künstliche Intelligenz(en) und Algorithmen

Onlife ist ein Neologismus geprägt von der DG Information Society der Europäischen Kommission  (The Onlife Initiative 2018). Gemeint ist ein "Verwischen" ("blurring") der Differenz zwischen online vs. offline mit Bezug auf ein Leben unter den Bedingungen der Digitalität. Demgegenüber gilt: Kein gutes onlife ohne gutes offlife. Das fängt bei Gewohnheiten und Bequemlichkeiten physischer und symbolischer Mobilität an und hört mit Abhängigkeit, Bevormundung, Cybermobbing und vielem Anderen mehr auf. Die Vorstellung einer digitalen Superintelligenz (singularity) hat religiöse Resonanzen im Sinne einer Cybergnosis, das heisst, das Versprechen von Erlösung durch die digitale Technologie, die einer kritischen Analyse bedürfen (Capurro 1995, 2017). Wenn von ihr eine Antwort auf die großen Fragen des Lebens erwartet wird, sei an Douglas Adams "Per Anhalter durch die Galaxis" erinnert. Deep Thought hat etwa siebeneinhalb Millionen Jahre gebraucht, um zu sagen, dass die Antwort "zweiundvierzig" lautet, ohne aber zu verraten, auf welche Frage genau sich diese Antwort bezieht (Adams 1981, 193). Der Glaube an die Rationalität der Algorithmen als via regia für die sichere Steuerung physischer oder symbolischer Mobilität jedweder Art berücksichtigt nicht deren inhärente Opazität. Diese ergibt sich auch aufgrund der nur teilweise vorhersehbaren Möglichkeiten sowohl natürlicher als auch zwischenmenschlicher Interaktionsprozessen. Durch die Indienstnahme von Algorithmen durch große IT-Monopolisten stellt sich die Frage nach der ethischen und rechtlichen Basis der von ihnen gesammelten und für deren Zwecke gebrauchten und/oder missbrauchten Nutzerdaten ohne deren Zustimmung und jenseits nationaler oder internationaler Gesetzgebung (Stichwort: Cambridge Analytica). Das gilt auch für die schnelle weltweite Verbreitung von fake news sowie von Gewalt- und Hassvideos. So konnte am 15. März 2019 der Attentäter von Christchurch (Neuseeland)  das Massaker an 50 Menschen vorwiegend islamischen Glaubens in zwei Moscheen live über die sog. sozialen Medien (Facebook, Twitter, Youtube und Instagram) verbreiten. Symbolische digitale Mobilität ist die Basis des digitalen Kapitalismus, dessen ökonomisch erfolgreichsten  Beispiele nicht von ungefähr IT Firmen sind. Überall entstehen aber digitale Start-up-Unternehmen, die neue Möglichkeiten eröffnen. So wichtig Big Data für vielfältige Zwecke in heutigen und künftigen Gesellschaften auch ist, so ambivalent bleibt deren Nutzung im Hinblick auf Manipulation und Überwachung (Zuboff 2018). Die Frage stellt sich generell mit welcher rechtlichen Legitimität menschliche Urteilskraft und auf ihr basierender Verantwortung an Algorithmen abgegeben wird und wann dies auf keinem Fall stattfinden sollte.


2. Verkehr und Transport

Das  Automobil wurde im 20. Jh. zum Symbol individueller Freiheit. Man denke exemplarisch an den italienischen Film "Il sorpasso" (dt. Verliebt in scharfe Kurven, 1962). Bruno (Vittorio Gassman) fährt das Cabriolet Lancia Aurelia B24 entlang der tyrrhenischen Küste und führt Roberto (Jean-Louis Trintignant) die Vorteile dieser Technologie für das Leben vor. Aufgrund der massenhaften Verbreitung des Automobils kehrte sich paradoxerweise die Automobilität in Immobilität um. Die Automobilindustrie muss das Automobil neu erfinden, wenn sie im digitalen Zeitalter überleben will. Autonomes Fahren ist die vordergründige Devise.

(...)


3. Robotik und Kriegsmaschinen

Man kann die Trias Werkzeuge-Maschinen-Roboter im Sinne eines historischen Ablaufs verstehen:  die Antike erfand Werkzeuge, die Moderne Maschinen und die Gegenwart, Roboter. Aber diese Aufteilung ist schief weil die Antike auch Maschinen und Roboter erfand. Nur dass der soziale und kulturelle Kontext ein anderer war. Es herrschte Sklavenwirtschaft. Diener und Sklaven wurden als 'beseelte Werkzeuge' (empsychá órgana) aufgefasst. Es gab hervorragende Automaten, die etwa im religiösen Kontext (öffnen von Tempeltüren u.dgl.) gebraucht wurden. Und es gab allerlei Maschinen für Transport- und Kriegswesen. Die Unterschiede zu Moderne v.a. seit der industriellen Revolution bestehen in der Nutzung der Elektrizität, der Massenproduktion von Waren sowie in der Einteilung von Arbeit, was wiederum zu neuen Formen von Unterdrückung und Ungleichheit führt. Die ethischen Herausforderungen waren dementsprechend anders in Antike und Moderne und sie sind wiederum anders in der heutigen digitalen Transformation vor allem im Hinblick auf die sich rasch entwickelnde Anwendung von Robotern in vielen Bereichen, die bisher menschlicher Intelligenz vorbehalten waren.


(...)

Ausblick

Eine Kernfrage von Mobilitätstechnologien lautet, ob ein taylorisiertes Zeitregime digital gesteuerter Mobilitätstechnologien gesellschaftlich so maßgeblich wird und teilweise schon ist, dass die Sinn gebenden offenen dreidimensionalen raumzeitlichen Bezüge, die den Grund menschlicher Freiheit bilden, buchstäblich ausgeschaltet sind oder nicht mehr wahrgenommen werden. Solche das Leben nicht nur bestimmende, sondern gar beherrschende Mobilitätssysteme können einen Anspruch an die Berechenbarkeit vergangener, gegenwärtiger und künftiger Bewegungen von Dingen und Menschen erheben, ohne ihn allerdings einlösen zu können. Eine ethische Reflexion über Mobilitätstechnologien im 21. Jahrhundert in Zusammenhang mit den "Technologien des Selbst" tut not (Foucault  1993; Capurro 1995).

(...)


Literatur


Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. Frankfurt am Main 1981

Aristoteles: Physica. Ed. W. D. Ross. Oxford 1950.

Boss, Medard: Grundriss der Medizin und der Psychologie. Bern 1975 (2. erg. Aufl.)

Capurro, Rafael: Leben im Informationszeitalter. Berlin 1995.

―:  Angeletics. Work in Progress. 2019.
―: Homo Digitalis. Beiträge zur Ontologie, Anthropologie und Ethik der digitalen Technik. 
Heidelberg 2017.
―: Wer ist der Mensch? Überlegungen zu einer vergleichenden Theorie der Agenten. In: Hans-Arthur Marsiske (Hg.): Kriegsmaschinen – Roboter im Militäreinsatz. Hannover 2012, 231-237.

Capurro, Rafael / Holgate, John (Hg.). Messages and Messengers. Angeletics as an Approach to the Phenomenology of Communication. München: 2011.

Capurro, Rafael / Eldred, Michael / Nagel, Daniel: Digital Whoness: Identity, Privacy and Freedom in the Cyberworld. Berlin 2013. 

Capurro, Rafael / Marsiske, Hans-Arthur: Der Moment des Triumphs. E-Mail-Dialog über ein Bild. In: Hans-Arthur Marsiske (Hg.): Kriegsmaschinen - Roboter im Militäreinsatz. Hannover: Heise 2012, 11-30.

Foucault, Michel: Technologien des Selbst. In: L.H. Martin / H. Gutman / P. H. Hutton (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt 1993.

Goswami, Ambarish / Vadakkepat, Prahlad (Hg.): Humanoid Robotics: A Reference. Heidelberg 2019.

Großklaus, Götz: Heinrich Heine - Der Dichter der Modernität. München 2013.

Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Frankfurt am Main 1975 (GA 24).

Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik. In ibid.: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1976.

Lodge, Juliet / Nagel, Daniel (Hg.): Ethical Issues of Networked Toys. In: International Review of Information Ethics, 27, 2018

Marsiske, Hans-Arthur (Hg.): Kriegsmaschinen - Roboter im Militäreinsatz. Hannover 2012.

Mathé, Jean: Leonardo da Vinci. Erfindungen. Fribourg 1980.

Morozov, Evgeny: Das World Wide Web war nie ein Garten Eden. In:Neue Zürcher Zeitung, 17.04.2019.

Nakada, Makoto / Capurro, Rafael / Sato, Koetsu (Hg.): Critical Review of Information Ethics and Roboethics in East and West. University of Tsukuba 2017 (ISSN 2432-5414)

Pedretti, Carlo: Leonardo da Vinci. Natur und Landschaft. Naturstudien aus der Königlichen Bibliothek in Windsor Castle. Stuttgart 1983.

Raulff, Ulrich: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. München 2015.

Reichow, Hans Bernhard: Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959.

Solid 2019

The Onlife Initiative 2018

Tzafestas, Spyros G.: Roboethics. A Navigating Overview. Heidelberg 2016.

Virilio, Paul: Vitesse et Politique : essai de dromologie. Paris 1977.

Vattimo, Gianni: Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990 (La fine della Modernità, 1985)

Wiener, Norbert: Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. Cambridge, Mass.  1965 (1. Aufl. 1948).

Zielinski, Siegfried / Weibel, Peter: Allah's Automata. Artifacts of the Arab-Islamic Renaissance (800-1200). ZKM, Center for Art and Media. Karlsruhe 2015.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt am Main 2018.


Letzte Änderung: 8. September 2024

 
    

Copyright © 2019 by Rafael Capurro, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. and international copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author.
  

 

 
Zurück zur digitalen Bibliothek 
 
Homepage Forschung Veranstaltungen
Veröffentlichungen Lehre Interviews