BEITRÄGE ZU EINER DIGITALEN ONTOLOGIE

Rafael Capurro
  
 
 
 
Dieser Aufsatz ist aus einem E-Mail-Gespräch im Jahre 1999 mit Michael Eldred entstanden. Überschneidungen, Ergänzungen und Widersprüche sind nicht zufällig. Grundeinsichten erschienen unter dem Titel  "Einführung in die digitale Ontologie" in: Gerhard Banse und Armin Grunwald (Hrsg.): Technik und Kultur. Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse. Karlsruhe: Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Scientific Publishing, 2010, 217-228. Siehe mein Buch: Leben im Informationszeitalter (1995) sowie Rafael Capurro, Michael Eldred, Daniel Nagel: Digital Whoness: Identity, Privacy and Freedom in the Cyberworld. Frankfurt 2013.

 
 
  

INHALT

1. Der griechische Ursprung
 
2. Digitale Ontologie und Angeletik 
3. Digitale Information und Daseinsanalytik 
4. Was ist Information? 
5. Dasein, Dawesen und Tod
6. Digitale Weltvernetzung und Kapital 
7. Geld und Gier
8. Digitale Hermeneutik

Exkurs 1: Über die Entstehung der Zahl 0 
Exkurs 2: Husserl und Rickert über die Zahlen 

Anmerkungen

 



 

1. DER GRIECHISCHE URSPRUNG


Der Ursprung des heutigen digitalen Weltentwurfs liegt wohl in der abendländischen Metaphysik. Wir sollten zunächst bedenken, inwiefern die Kategorie des Signals zum Seienden selbst im metaphysischen Sinne gehört oder ob sie aus einem Handelnden (einem Göttlichen oder einem Menschlichen oder einem ‘bloß’ Lebenden) zu verstehen ist. Mir scheint, dass die antike Philosophie eher den ersten Sinn betont, während der zweite seit der Neuzeit aufgrund der Trennung von Subjekt und Objekt vorherrschend wird. Das moderne Verstehen von 0 und 1 hat auch eine andere Bewandtnis im Rahmen einer Theorie der Signalübertragung als zum Beispiel im Rahmen einer kabbalistischen Überlegung über die Bedeutung dieser Zeichen. Letzteres würden wir dann eher als Symbol kennzeichnen. In der Neuzeit wird die Unterscheidung zwischen Signal und Symbol teilweise eingeebnet. Genau genommen werden aber keine Reihen von Nullen und Einsen gesendet, sondern elektromagnetische bzw. elektronische Signale, die wir dann als 1 und 0 interpretieren. Der Code 0/1 ist also unser Anteil am ontologischen Entwurf. 

Wir nehmen aber die Signalübertragung als ein Ganzes wahr. Das Gehirn braucht dazu Zeit. Aber phänomenal gesehen, entsteht in der Tat der Ein-Druck der Ganzheit, oder, anders ausgedrückt, die Tätigkeit des Gehirns (nur des Gehirns?) ist auf Ganzheit hin orientiert. Schon wieder ist eine metaphysische Kategorie (to holon) impliziert. Es ist eine beliebte Metapher, die gegliederte Auflösung in 0/1 im digitalen Bereich mit der Auflösung im neuronalen Netz unseres Gehirns zu ver-gleichen. Wir müßten dabei eine metaphysische Unterscheidung (diairesis)  vornehmen. Zahl und logos hängen in der Sprache der Metaphysik (Platon) so zusammen, dass die Zahl einen höheren Seinswert (Freisein vom materiellen Substrat) hat als der logos. Insofern erfaßt die Zahl das eidos der Dinge, während der logos die Möglichkeit hat, näher am Wahrnehmbaren zu sein. 

Als Ausgangspunkt für diese Überlegungen kann die folgende Passage aus Heideggers Sophistes-Vorlesung im Wintersemester 1924/25 in Marburg dienen: 

"Dabei ist zu beachten, daß für Aristoteles die primäre Bestimmung der Zahl, sofern sie auf die monas  als die arche zurückgeht, einen noch viel ursprünglicheren Zusammenhang mit der Konstitution des Seienden selbst hat, sofern zur Seinsbestimmung jedes Seienden ebenso gehört, daß es ‘ist’, wie daß es ‘eines’ ist; jedes on ist ein hen. Damit bekommt der arithmos im weitesten Sinne — der arithmos hier für das hen — für die Struktur des Seienden überhaupt eine grundsätzlichere Bedeutung als ontologische Bestimmung. Zugleich tritt er in einen Zusammenhang mit dem logos, sofern das Seiende in seinen letzten Bestimmungen nur zugänglich wird in einem ausgezeichneten logos, in der noesis, während die geometrischen Strukturen allein in der aisthesis gesehen werden. Die aisthesis ist das, wo das geometrische Betrachten halt machen muß, stesetai, einen Stand hat. In der Arithmetik dagegen ist der logos, das noein, am Werk, das von jeder thesis, von jeder anschaulichen Dimension und Orientierung, absieht." (GA19:117) (1) Das Trennen  (chorizein), so Heidegger, ist der Grundakt der Mathematik für Aristoteles (Trennen, aber kein Getrenntes). Die mathematiká sind ein Herausgenommenes aus den natürlichen Dingen (physei onta). Der Mathematiker bringt etwas von seinem Platz (chora) weg. Es gibt für Aristoteles keinen himmlischen Ort (topos ouranós) für die Zahlen. Der Unterschied zwischen Geometrie und Arithmetik besteht zunächst darin, dass die monas nicht gesetzt wird (ousia áthetos), der Punkt (stigme) aber doch. Die monas das, was schlechthin bleibt. Punkte muß man setzen. Orte gehören zum Seienden: Jedes Seiende hat seinen Ort: das Feuer oben (ano), die Erde unten (kato) etc. Diese Bestimmungen gelten für Aristoteles teilweise absolut, dann aber auch für uns (pros hemas), d.h. je nachdem, wo wir uns befinden. Der Ort ist schwer zu fassen. Erst z.B. beim Bewegenden, d.h. beim Ortswechsel, werden wir uns des Ortes bewußter. Der Ort ist die Grenze des periechon, also dessen, was einen Körper umgrenzt, was an seine Grenzen stößt. Die Welt ist für Aristoteles absolut orientiert, es gibt ausgezeichnete Orte (ein absolutes Oben etc.). Heideggers Fazit lautet: Der Ort hat eine dynamis, er ist die Möglichkeit der rechten Hingehörigkeit eines Seienden, er gehört zum Seienden als sein Anwesendseinkönnen, sein Dortseinskönnen. Es ist, wenn es da ist. 

Heidegger entwickelt anschließend die Genesis von Geometrie und Arithmetik im Ausgang vom topos. Wenn man vom topos absieht und nur die möglichen Lagen und Orientierungsmomente behält, dann sind wir bei der Geometrie. Das Geometrische ist nicht mehr an seinem Ort. Die pérata sind nicht mehr als die Grenzen des physischen Körpers verstanden, sondern sie erhalten durch die thesis eine eigentümliche Eigenständigkeit. Es ist aber nicht so, dass die höheren Gebilde aus solchen Grenzen (Punkte usw.) einfach zusammengesetzt sind. Linien entstehen nicht aus Punkten, Körper nicht aus Flächen, denn zwischen zwei Punkten gibt es immer eine Linie (grammé). Aristoteles und Platon sind hier "in der schärfsten Opposition" (GA19:111).

"Zwar sind die Punkte die archai des Geometrischen, aber doch nicht so, daß aus ihrer Summierung die höheren geometrischen Gebilde aufgebaut werden könnten." (ebd.) Eine "bestimmte Zusammenhangsart" ist darüber hinaus erforderlich. Ähnlich im Bereich des Arithmetischen ist die monás noch keine Zahl. Die erste Zahl ist die zwei. Weil die monás im Unterschied zu den Elementen der Geometrie keine thesis in sich trägt, ist die Zusammenhangsart eines arithmetischen Ganzen anders als bei Punkten. Beide Formen von Mannigfaltigkeit (Faltung) sind verschieden oder, wie wir auch sagen könnten: Beide Formen der Vernetzung sind verschieden. Zahlen sind anders vernetzt als Punkte usw. Wie aber? Antwort: Es gibt mehrere Formen, wie Dinge miteinander (vernetzt) sind —  Heidegger bezieht sich dabei (GA 19:113-116) auf Aristoteles Physik V, 3  — ,  nämlich: 

  • hama = zugleich; wenn Dinge an einem Ort sind 
  • choris = getrennt; was an einem anderen Ort ist 
  • haptesthai = sich berühren (an einem Ort) 
  • metaxy = dazwischen (oder das Medium: wie z.B. der Fluß, in dem sich ein Schiff bewegt) 
  • epheches = das Darauffolgende; da gibt es zwischen dem, was vorher ist, und dem, was folgt, kein Zwischen vom selben genus (Seinsabkunft) wie das Vernetzte. So stehen die Häuser einer Straße in einer Reihe, aber in einem Medium, was kein Haus ist. Das ist die Art der Vernetzung der 'monades' (monas), wobei bei ihnen nichts dazwischen steht. Sie berühren sich aber nicht wie bei der syneches
  • echomenon = was sich hält, ein Nacheinander, was sich zusammenhält und sich berührt, die Enden stoßen zusammen an einem Ort (wie etwa bei Kabel und Steckdose)
  • syneches = continuum. Hier gibt es kein Zwischen. Es ist ein echomenon aber ohne Zwischen, also ein ursprüngliches echomenon. Beispiel: Die Grenzen des einen Hauses sind identisch mit denen der anderen. Das ist die Vernetzungsart der Punkte, die eine Linie bilden. 
Jedes Seiende (on) ist ein hen. In der Geometrie ist die Wahrnehmung (aisthesis) am Werk, während in der Arithmetik der logos von jeder Setzung ('thesis') und jeder Anschauung absieht. Die Dinge, sofern (he) sie eins sind, gehören zusammen oder sind vernetzt in der Weise der epheches, d.h. sie müssen sich nicht berühren und es muß nicht immer etwas dazwischen sein. 

Sodann analysiert Heidegger: Aristoteles: Kategorien, Kap. 6: Über die Quantität (poson) (GA19:116). Die Quantität ist teils diskret (diorismenon) teils kontinuierlich (syneches) oder indiskret. Nach Metaphysik V, 13 heißt 'quantitativ', was in Bestandteile zerlegbar ist. Was quantitativ zählbar ist, ist Menge. Was meßbar ist, ist Größe. Menge zerfällt potentiell in Größe und umgekehrt. Es gibt eine Quantität von Teilen, die eine Lage ek thesin zueinander haben und aus Teilen, die keine Lage haben. Zahl und Rede sind diskret. Linie, Fläche und Körper sowie chronos und topos kontinuierlich. Das Diskrete besteht aus Teilen, die nicht gesetzt sind, das continuum aus Teilen, die gesetzt sind. Deshalb ist die Weise ihrer Vernetzung oder Einheit verschieden. Die Teile bei den Zahlen haben keinen gemeinsamen horos oder Begrenzung. Bei 10 zum Beispiel gibt es bei den Teilen 5 und 5 keine gemeinsamen Grenzen, jeder ist für sich, (diorisménon), jeder ist etwas anderes, so auch bei 7 und 3. Die Teile (moria) können nicht zusammengenommen werden, denn es gibt kein Allgemeines (koinon), mit Bezug auf welches jede Zahl ein Fall wäre. Eine Generalisierung ist nicht möglich. Wie ist aber dann der Zusammenhalt möglich? 

Aristoteles erläutert dies am Beispiel des logos: Er ist Verlautbarung (meta phone gignomenos). Diese ist artikuliert durch einzelne Silben als ihre Elemente (stocheia). Es gibt also eine eigentümliche Einheit des nicht stetigen Mannigfaltigen, wo jeder Teil eigenständig ist. Die Silben sind eigenständig. Es gibt keine Silbe überhaupt und keine Zahl überhaupt. Dagegen ist ein Punkt wie alle Punkte. Die Linie hat eine andere Weise der Einheit. Man kann aus ihr etwas herausnehmen und im gleichen Sinne ansprechen wie bei jedem anderen Teil. Die Punkte sind alle gleich. Aber eine Linie ist mehr als eine Mannigfaltigkeit von Punkten, sie ist eine Setzung (thesis). Diese fehlt bei der Zahlenreihe, die ja nur durch Nacheinander (epheches) bestimmt ist, wo das, was sie verbindet, nichts mit ihnen zu tun hat und durchaus auch gänzlich fehlen kann. Deshalb ist diese Voraussetzung ontologisch früher als die der Punkte und des continuum. Sie ist sozusagen genereller und kann auch ohne Wahrneh- mung (aisthesis) also nur mit der Vernunft (nous) vernommen werden. Dennoch ist für Aristoteles die Arithmetik nicht die ursprünglichste Wissenschaft vom Seienden in seinem Sein, denn der Ursprung (arche) der Zahl, die Einheit, ist selbst keine Zahl und muß deshalb in der Metaphysik aufgeklärt werden. 

So wie die Griechen die Mathematik aus dem ‘nützlichen’ Zusammenhang mit dem natürlich Seienden (physis) lösten, so lösen wir sie heute aus ihrem gedanklichen Zusammenhang mit dem menschlichen Geist (nous) und dem menschlichen Leib und verlagern sie nicht mehr in einen theo-logischen, sondern in einen techno-logischen Ort. Was zunächst aber rätselhaft erscheint, ist die Möglichkeit eines Zugangs zum Sein ohne den logos. Ich denke an Gadamers Satz: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache" (2). Gadamer schreibt anschließend: 

"Das hermeneutische Phänomen wirft hier gleichsam seine eigene Universalität auf die Seinsverfassung des Verstandenen zurück, indem es dieselbe in einem universellen Sinne als Sprache bestimmt und seinen eigenen Bezug auf das Seiende als Interpretation. So reden wir ja nicht nur von einer Sprache der Kunst, sondern auch von einer Sprache der Natur, ja überhaupt, von einer Sprache, die die Dinge führen." (ebd.)  Kehren wir zu Heidegger (GA19:632) zurück. Sofern wir es sind, die das Sein auslegen, ist immer die Zeit im Spiel, denn wir sind zeitlich. Offenbar stellt Heidegger hier die Möglichkeit, das Sein des Daseins vom Sein der Welt auszulegen oder umgekehrt, zur Entscheidung und entscheidet sich für das Umgekehrte. Der Grund? Weil das Zeitlichsein des Daseins eine eigene (eigentliche) Zeitlichkeit besitzt, die nicht identisch ist mit der Zeitlichkeit der Welt (und somit mit den Seinskategorien der Welt). "Der nächste Sinn von Sein" (GA 19:633) ist nämlich der Sinn vom Sein (der Welt) als das Gegenwärtige. Für uns ist aber Vergangenheit und Zukunft eine Weise zu sein, die dem Sein der Welt in seinem Begegnen nicht entsprechen. Welt ist nur da in der Weise der Anwesenheit. "Das Sein der Welt ist Anwesenheit." (ebd.) 

Die Aneignung des Seienden in logischen und digitalen Zusammenhängen wird der Interpretation des Seins des Daseins nicht gerecht. Umgekehrt aber gilt, dass durch die zureichende Interpretation des Seins des Daseins "der nächste Sinn von Sein", die Anwesenheit nämlich, die auch das Sein der logischen und digitalen Zusammenhänge ausmacht, positiv aufgeklärt werden kann. Es ist schon etwas merkwürdig, dass Aristoteles von Herauslösen spricht, wo man in der Regel meint, der Denker der Loslösung (horismos) sei ja Platon. 

Ich fasse zusammen: Punkte haben einen Ort und dadurch lassen sie sich voneinander differenzieren. Zahlen sind zwar ortlos, aber in sich selbst differenziert. Beide, sowohl Punkte als auch Zahlen, werden aus dem natürlich Seienden (physis) herausgelöst, also sie bestehen zunächst nicht für sich wie Platon meint. Das digital Seiende, oder das Seiende, sofern es digital ist, oder die aus dem natürlich Seienden herausgelöste Zahl-Struktur, löst das Seiende zugleich aus seinem natürlichen Ort heraus. Das digitalisierte Seienden oder das Seiende in seinem Digitalisiert-sein ist ortlos, weil es als Zahl aufgefaßt wird. Das ist die Bedingung der Möglichkeit für die Einrichtung einer Technik, die genau den Gesichtspunkt des Ortes weg läßt im Gegensatz etwa zu einer Bibliothek, die auf die Materie (hyle) der Bücher baut. Zugleich aber schafft die Schrift auch eine Ortlosigkeit, denn Bücher können woanders sein, als dort, wo sie hergestellt wurden. Die Ortlosigkeit des logos ist eine merkwürdige Eigenschaft, die vielleicht den Unterschied zwischen Platon/Sokrates und den Sophisten ausmacht. Denn Platon legt immer großen Wert auf die situationelle Gebundenheit des logos gegenüber der Schrift, wie er dies im Phaidros in Zusammenhang mit dem Mythos der Erfindung der Schrift darlegt. Die Sophisten scheinen den logos von der strengen ‘dia-lektischen’ Situation zu lösen, um die so losgelösten ‘Erkenntnisse’ überall zu vermarkten. Der sophistische mündliche logos wäre also, von Platon aus gesehen, nicht weniger losgelöst als der schriftlich fixierte logos. Aristoteles knüpft an die Einsicht der Sophisten an, ohne aber deren Praxis zu teilen. 

Mit Bezug auf die Ortlosigkeit des logos lösen die techne und die poiesis das natürlich Seiende mit seiner hyle aus seinem angestammten Ort heraus. Die Frage ist aber, ob durch die Vernetzung den Zahlen doch ein wechselbarer Ort zugewiesen wird: Sie sind immer irgendwo, aber nicht ausschließlich an einem Ort. Sie sind also an der technischen Schnittstelle zwischen hyle, Punkt und logos angesiedelt.  Wie steht es aber mit der von Heidegger hervorgehobenen Unterscheidung zwischen monas und hen? Wenn das hen zu dem natürlich Seienden gehört, dann sind das ens et unum convertuntur der Scholastik (Griechisch: on kai hen)  sowie das 'Ein und Alles' (hen kai pan) von hier aus zu verstehen. So wie sich also das Seiende  gegen das Nicht-Seiende abhebt, so hebt sich die monas gegen die 0 ab. Zunächst haben wir also die natürliche Welt und dann durch Herauslösung, das Ort- und Weltlose (atopos). Wir haben also folgende Abstufung der Abstraktion oder der Herauslösung aus dem natürlich Seienden: 

  • das natürlich Seiende (physei onta): bestimmt durch Einheit, Ort und Setzung (hen, topos, thetos)
  • der Punkt (stigme): bestimmt durch Ortlosigkeit und Setzung (toposthetos) und Berührung (syneches, continuum)
  • die Einheit (monas): bestimmt durch Ortlosigkeit und Ungesetztheit (atoposathetos)
Diese Herauslösung ist heute gekoppelt mit der technischen Einprägung oder Her-Stellung von Zahl und Punkt im elektromagnetischen bzw. elektronischen Medium. Die Frage, die wir uns angesichts der Entwicklung von der Formung durch den Schöpfer über den Golem bis hin zum Computer stellen, ist dann die unseres möglichen Aufenthaltes in dieser so erschlossenen Welt. 

Die Griechen  — weniger pauschal: Platon und Aristoteles  — orientierten sich am logos und entwickelten demnach eine Ontologie. Der logos behält die Kontrolle auf verschiedenen Stufen, letztlich auch als logos, der den Ursprung der 'monas', d.h. das hen erkennt. 

In GA19  geht Heidegger auf die Diskussion des on als hen (Parmenides) ein. Der Satz: 'Alles, was ist, ist Eins’ (hen on to pan) stellt eine verwickelte Geschichte über die Deckung oder Nicht-Deckung dieser Begriffe mit der wohlgerundeten Kugel des Parmenides dar. Ein wichtiger Unterschied ist der zwischen der Einheit im Sinne der Ganzheit von Teilen und der Einheit, die dieser Ganzheit vorausgeht (GA19:457). Griechisch ausgedrückt: hen als patos epitois meresi oder syneches ek pollon meron on und hen alethós, das letztlich aufgedeckte Eins. Das hat zur Folge, dass das on als ein hen alethós nicht gleich dem holon als Ganzheit von Teilen ist. Wenn das holon aus dem on als solchem herausfällt, dann fallen auch genesis und ousia heraus, weil das Werden in einem gewordenen Ganzen im Sinne eines fertigen, ganzen Seienden sich vollendet. Wenn es aber kein Werden und kein Sein gibt, dann ist das on nicht. Der Satz des Parmenides führt also, wie Heidegger Platons Überlegungen nachzeichnet, in einen Selbstwiderspruch. 

Da Platon im Horizont des hen argumentiert und dem me on eine entsprechende "Stelle" im Ganzen zuweist, wäre die Frage, wie das me on im Horizont des Digitalen zu denken ist:  Was ist aber eine ‘digitale Spur’? Sie verweist auf das Gewesene (me on) des Digitalen. Es scheint mir so zu sein, dass wir in einer digitalen Ontologie mit einem umgekehrten Parmenides zu tun haben: Während bei Parmenides das holon — also die Ganzheit im Sinne von Ganzheit von Teilen — aus dem on herausfällt, und es somit keine genesis und keine ousia gibt, so fällt bei der digitalen Ganzheit das aus dem hen on heraus, so dass wir nur genesis und ousia aber nicht ‘Sein’ und ‘Totalität’ (pan) haben. Die Frage ist dann, ob in der digitalen Ontologie lediglich die 'monas' und nicht das hen gesehen werden kann.

  

2. DIGITALE ONTOLOGIE UND ANGELETIK

Durch die Computertechnik und die Vernetzung haben wir aber eine andere Möglichkeit für die Ortlosigkeit der Zahlen: sie sind zwar ortlos, aber sie können an allen möglichen Orten sein, oder besser gesagt, sie sind zunächst technisch an einem Ort, aber an diesen Ort nicht von Natur aus gebunden, also zugleich ortsgebunden und ortlos. Wenn jetzt nicht nur Raum und Zeit, sondern sogar ein elektromagnetisches bzw. elektroni- sches Medium hinzukommt, dann haben wir es wohl hier mit der Konstitution des "digital Seienden" zu tun. Und wie steht es mit der Frage nach der Vernetzung? Mir scheint, dass wir heute den Begriff Netz oder Vernetzung sehr inflationär gebrauchen. Welches neue Phänomen wird dadurch konstituiert? 

Die digitale Welt ist eine Welt und doch keine, sie ist lokal und doch global und umgekehrt. So hat der Mensch nicht nur die Möglichkeit zuweilen beim Immerseienden zu ver-weilen, sondern auch bei einer Art von Seiendem, das von der techne monas hervorgebracht wird. Was passiert, wenn wir den logos  mit der Welt der technisierten Arithmetik verbinden? Dass der logos sich vom natürlich Seienden und somit von der Stimme (phone) trennen läßt, das zeigt die Auseinandersetzung von Sokrates/Platon mit den Sophisten und Platons Kratylos in der  physei/thesei-Debatte. 

Wir sprechen in der Informationswissenschaft von information retrieval, d.h. vom Ab- bzw. Rückruf von Information. Wie unterscheiden sich der ‘logische’ und der ‘mathematische’ Ab- bzw. Anruf des Seienden? Um was für einen Vorgang handelt es sich hier? Dass die natürlichen Dinge sich uns ‘zusprechen’, mag einsichtig sein, aber wie können uns Dinge ansprechen, die wir erst konstruieren müssen? Für Platon lag hier ein höherer Zuspruch wohl vor, dem wir entsprechen, wenn wir die Ideen nachahmen. Die Platonische Lösung dessen, was wir Kreativität nennen, sind die Ideen als Vorbilder für die künstliche Herstellung von Seiendem. Für Aristoteles bleibt das natürlich Seiende das Leitende, wovon sich die logoi abheben. Zahl und logos lassen Seiendes anders sein als es von sich aus, d.h. natürlich ist, und sie lassen auch deshalb Seiendes anders werden, d.h. Seiendes vom logos oder von der Zahl her entstehen, techne on, onto- und monado- oder arithmo-logisch. Die Verbindung ergibt das onto-arithmo-logisch Seiende. Dadurch wird nicht nur das natürlich Seiende (physei onta) anders vergegenwärtigt, sondern es wird Seiendes in seinem Sein anders vernommen. Mit anderen Worten, die onto-arithmo-logische Technik läßt Seiendes anders sein als eben die physis und die bisher bekannten Formen der Herauslösung (Punkt, Zahl). Wie ist also onto-arithmo-techno-logisches Seiendes zusammen? Antwort: Indem es zugleich an einem Ort, aber nicht an ihm gebunden ist. 

Die Ontologie orientiert sich am logos oder am on legomenon am Seienden, wie es vorliegt als das Worüber eines Sagens. Hier liegt ein Unterschied zu uns: Wir orientieren uns an der monas oder an den mathematika aber nicht schlechthin, sondern sofern diese — die monades oder Einheiten — techno-logisch eingebunden sind. Die Bezeichnung digitale Ontologie ist, von hier aus gesehen, ein Oxymoron. Eher könnten wir von digitaler Ontoarithmetik sprechen. 

Die Ursprünge der griechischen Mathematik liegen, so Van der Waerden in seinem klassischen Werk "Erwachende Wissenschaft" (3), in Ägypten. Der Grund für die Entwicklung der Mathematik in Ägypten lag für Aristoteles darin, dass die ägyptische Priesterkaste die nötige Muße (scholazein) dafür hatte, nachdem die notwendigen und angenehmen Dinge des Lebens geordnet waren (Met. A 1, 981 b 15 ff). Für Van der Waerden hat aber Herodot recht, der den Ursprung darin sieht, dass die Ägypter dabei einen Sinn für das Praktische hatten: 

"Wenn der Nil ein Stück seines Ackers weggeschwemmt hatte, so musste wegen der Steuer festgesetzt werden, wieviel an Fläche verlorengegangen war "und dies war, wie mir scheint, der Anfang der Geometrie, die dann nach Griechenland kam" (Herodot II, 109). Und Demokritos schreibt: "Im Konstruieren von Linien mit Beweisen übertrifft mich keiner, selbst nicht die sogenannten Seilspanner der Ägypter." Die Seilspanner (Harpedonapten), die Demokritos hier meint, sind wahrscheinlich die Landesvermesser, deren wichtigstes Messinstrument überall das gespannte Seil ist." (ebd. S. 25) 
Die Mathematik und die Geometrie entwickeln sich also, zumindest in Ägypten, aus den Bedürfnissen der Lebenswelt, der prágmata wie die Griechen sagen würden, heraus und auf sie hin. Die Griechen lösen dann Punkte und Zahlen aus dem 'natürlichen Seienden' heraus und projizieren, wie Aristoteles, ihre Sicht auf die Ägypter zurück! 

Für Aristoteles wird das hypokeimenon als das schon Vorliegende im Hinblick auf das legein, also als etwas, was vor dem Sprechen schon da ist, verstanden. Wie aber, wenn der Grundcharakter des Seins nicht aus dem logos, sondern aus dem arithmos gewonnen wird? Und wie, wenn dieser arithmos techno-logisch aufgefaßt wird? Welches ist dann die formale Bestimmung von etwas, was überhaupt ist? Was liegt vor dem Zählen? Wie ist das Zählen möglich? Durch die monas, die ja ungesetzt (athetos) ist. In Met. V, 1016b18 sagt Aristoteles, daß das hen das Prinzip für etwas ist, was wir dann unter dem Gesichtspunkt des Zählens (arithmos) auffassen können. Das hen ist aber ein Metaprädikat, denn, was wir als hen betrachten, ist je nach Seiendem unterschiedlich. Wenn das, was wir zählen, von der Art des Unteilbaren (adiaireton) und Ungesetzten (atheton) ist, dann ist die Einheit, die monas, etwas Unteilbares. Eine Linie ist dann in eine Richtung teilbar etc. Aristoteles trifft hier eine weitere Unterscheidung: Das hen-sein  läßt sich der Zahl nach oder dem Eidos oder der Analogie nach unterscheiden: 

  • Das hen der Zahl nach hat mit der hyle zu tun 
  • Dem eidos nach mit dem logos oder dem schema tes kategorias
  • Der Analogie nach, wie das Verhältnis des Einen zum Anderen. 
Aristoteles sagt, dass das Verhältnis dieser drei Ebenen so ist, dass die erste Ebene, die der Zahl, die grundlegende ist. Was also der Zahl nach eins ist, hat auch ein Eidos (aber nicht umgekehrt). Die monas ist also eine Form (unter anderen) von Einheit (hen). Aristoteles sagt wenig später, dass die Einheit in der Zahl Ursprung und Maßstab ist (en tou arithmou arche kai metron). Gemeint ist wohl, dass das hen als monas oder besser gesagt, dass das hen arché der monas ist und dass die monas wiederum Ursprung des Zählens (arithmos) ist. 

Kehren wir aber zu Heidegger zurück. Was ist ontologisch entscheidend: die monas oder das hen? Jedes on ist zwar ein hen, aber das  hen-sein des Seienden ist ja nicht einerlei und nicht mit der monas und dem artihmos gleich. Dennoch ist das hen der Zahl nach grundlegend für das Einssein von Eidos und Analogie. Die Zahl (arithmos) ist also dem logos vor-gesetzt, denn sie ist nicht gesetzt, athetos. Heidegger schreibt (GA19:121), daß deshalb die Zahl für Platon grundlegender ist als der logos im Hinblick auf die ontologische Besinnung, weil sie weniger braucht als der Punkt, wobei aber das hen ("nicht mehr selbst Zahl ist" (ebd.). 

Heidegger schreibt mit Bezug auf die Zahl: "Dasselbe ist durchgeführt am Beispiel des  logos" (GA19:120) Zahlen und Silben sind eigenständig. Es gibt keine Silbe überhaupt, während ein Punkt wie alle Punkte ist. Das elektromagnetische bzw. elektronische Medium ist z.B. im Falle einer CD auch eine Prägemasse, und die Digitalisierung der Hardware, wie z.B. Schaltbretter, ist ebenfalls ein Prägen. In beiden Fällen, oder noch allgemeiner gesagt im Vorgang der Verschriftlichung des logos findet, so scheint es, eine Herauslösung des Mitgeteilten aus dem Zusammenhang und somit aus dem Ort statt, was ja Platon in seiner Schriftkritik klar erkennt. Aber schon der gesprochene logos ist eine Herauslösung aus der Seele des Sprechenden, wodurch dann die Praxis der Sophisten, sofern sie die logoi aus ihrem ursprünglichen 'dialektischen' oder Wahrheitssuchenden Zusammenhang entreißen und für beliebige Zwecke verwenden, möglich wird. 

Die Zahlen sind, wenn sie an der technischen Schnittstelle zwischen Materie (hyle), Punkt und logos angesiedelt werden, nicht schlechthin ortlos, aber auch nicht an einen Ort gebunden Das ist erstaunlicherweise auch eine Form von Im-Ort-Sein, die Thomas von Aquin den (von der Materie) 'getrennten Intelligenzen' (intelligentiae separatae) zuweist. Die oft lächerlich gemachten scholastischen Überlegungen zur Seinsweise der intelligentiae separatae, also dessen, was theologisch 'Engel' genannt wird, könnte als ein sehr interessantes Gedankenexperiment in Zusammenhang mit der Seinsweise digitaler Virtualität ausgelegt werden. Es waren aber zuvor die arabischen Philosophen des Mittelalters, die in Anschluss an die antike Kosmologie diesen philosophischen Begriff prägten. Diese 'getrennten Intelligenzen' sollten zum Beispiel dazu dienen, die Sterne und Planeten ewig zu bewegen. Sie waren also als motores gedacht. Diese himmlische Mechanik wurde in der Neuzeit durch natürliche Kräfte ersetzt, woraus sich dann auch eine sehr praktische Industrie der Maschinenherstellung entwickeln konnte. 

Am Ende dieser Entwicklung werden die Maschinen wieder abstrakt und wir kommen zurück zu einer Art von 'Intelligenz', die sich durch ihre Virtualität auszeichnet, die aber nicht von einem göttlichen, sondern von einem menschlichen Erbauer hergestellt wird. Die reine universelle Zahlenmaschine vermischt sich aber im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem logos. Um aber dem universellen Charakter der Zahlen und Punkte zu entsprechen, muß der logos künstlich berechenbar werden. Gehört aber zu diesem logos eine besondere Form von Verstehen? Ergibt sich daraus nicht so etwas wie eine artifizielle oder digitale Hermeneutik? Kommen wir dem Sein dadurch, paradoxerweise, (anders) näher als durch die natürliche Sprache? Ist das "aisthetische Sichzeigen" nicht bereits ebenfalls eine Loslösung des Seienden zum Anderen hin? Denn nach Aristoteles bildet sich "in der Seele" ein Bild (phantasmata) der sichtbaren Dinge, was aber nicht wie eine Verdoppelung der Dinge im Bewußtsein zu interpretieren ist, sondern eher so, dass die Wahrnehmung auf die Dinge je mit dem jeweiligen Sinnesorgan zugeht und dabei das Eigene  — Aristoteles nennt das die idia — ‘wahr-nimmt’. So nimmt das Ohr zum Beispiel sein Eigenes, also die Laute wahr. 

Ist es aber nicht so, dass die metaphysische Vorstellung vom Ort des logos in der Seele (psyche) und vom Ort des Denkens als einem Dialog der Seele mit sich selbst (Platon) die eigentliche Herauslösung des logos aus dem existentiellen Zwischen bedeutet, was Heidegger in "Sein und Zeit" (§ 33-34) mit dem Vorrang der Rede und mit ihr des "hermeneutischen Als" vor dem "apophantischen Als"  bezeugt? Gilt die Unwahrheit bzw. Verstellung nur für den logos oder auch für die Zahlen? Wo liegt der Unterschied in der Art der Entbergung zwischen den Zahlen und dem logos? Wie gehören diese beiden Formen der Entbergung zusammen? Gibt es nur diese zwei oder auch andere? Und wenn nicht, warum nur diese zwei? 

Für uns ist nicht die sophia als Wissenschaft vom hen, sondern die Wissenschaft und Technik von monas und arithmos grundlegend. Wenn wir also den arithmos als grundlegend für die Struktur des Seienden nehmen, dann bedeutet dies, dass wir uns zwar in den Fußstapfen der griechischen Ontologie bewegen, aber ohne das hen und die sophia. Das bedeutet auch, dass wir dem Gegenwärtigen den Primat auch bei der Auslegung des Daseins geben. Heute besitzen wir eine ausgebildete Mathematik und Logik, ja sogar eine mathematische Logik, aber keine Ontologie im Sinne einer Wissenschaft vom Einen. Geblieben ist lediglich das Eine als logische Kategorie. Eine Wissenschaft vom "Einzigen" scheint heute nur im Bereich der Religion, öfter in dem der Esoterik, möglich. Zugleich aber entwickelt sich eine digitale Ontologie, deren Herrschaft mir nicht kleiner erscheint als die des Materialismus im vorigen Jahrhundert. 

Aber diese minimalistische digitale Ontologie is not the whole story. Ich meine, daß wir hier eine ontologische Spannung brauchen, nicht um das menschliche Dasein als Krone der Schöpfung  hervorzuheben, sondern um zu zeigen, wie verschiedene Ontologien aufeinanderstoßen und sich dabei verändern, vorausgesetzt, sie werden irgendwie thematisiert, sonst bleibt alles in den gewohnten Bahnen. Wie wirkt sich aber der Sinn vom Sein des Daseins auf den "nächsten Sinn vom Sein" und zwar auf den der Präsenz in der Form der arithmetischen Weltvernetzung aus? Und umgekehrt? 

Damit sind wir wieder beim Phänomen des An- und Abrufens. Sollen wir dieses Phänomen des Abrufens des Seienden vom Menschen aus oder umgekehrt als eine ‘Verfallsform’ eines ‘eigentlichen’ An- und Abrufens verstehen? Oder ist jede Art des An- und Abrufens an sich eine abgeleitete Form eines ursprünglichen Angerufenseins? Heidegger hat die Frage: Was heißt denken? im Sinne von: Was heißt uns denken? gefragt, wobei er im ‘heißen’ nicht das Fordern, sondern das "Gelangenlassen" hervorhebt. Durch das Nennen von etwas versehen wir die Dinge nicht mit einem Etikett, sondern wir lassen etwas in ein Anwesen ankommen (4). Beim Phänomen des Rufens kann es um den ‘Ruf’ eines blühenden Baumes gehen, der sich uns vorstellt  (M. Heidegger, Was heisst Denken? S. 16). So kehrt Heidegger das Rufen oder Denken der modernen Subjektivität, die ihren Gegenstand so anruft, dass sie ihn vor-stellt, um. 

Wir achten nicht auf den Ruf des Mediums selbst, weil wir nur Ohren für messages haben und dabei immer das Ereignis des messengers überhören. Boten sind demnach etwas Akzidentelles, was mit dem Sinn der Botschaft nichts zu tun hat. So wird schließlich auch jedes Medium als Botschaft wahr-genommen. Medien lassen sich nach McLuhan deshalb nicht bloß instrumentell verstehen, weil sie unser Sein verändern (5). Aber nicht das, was ein Medium ‘verkündet’, sondern dass er es tut, bleibt bei McLuhan ungedacht. Ungedacht bleibt auch dementsprechend die Dimension des Angerufen-werden-könnens. Das ist aber, wenn ich recht sehe, genau die Seinsweise, die dem Dasein eigen ist, wenn dieses in allem, was sich ihm vorstellt, dem Ruf des Seins ausgesetzt bleibt. 

Avital Ronell hat in einem in Form eines Telefonbuchs gedruckten Buches mit dem Titel "The Telephone Book" dieses Thema vor allem aus psychoanalytischer Sicht thematisiert (6).  Ronell schreibt: 

"Maintaining and joining, the telephone line holds together what it separates. It creates a space of asignifying breaks and is tuned by the emergency feminine on the maternal cord reissued. The telephone was borne up by the invaginated structures of a mother's deaf ear." (Avital Ronell, The Telephone Book, a.a.O. S. 4) Gemeint sind die Mutter und die Ehefrau von Alexander Graham Bell: beide nämlich waren taub. Ronell schreibt, dass die ersten aufgeregten Abnehmer von Telefonanrufen die Schizophrenen waren. Wenn ein Schizophrener glaubt, alle Anrufe seien für ihn bestimmt, dann glaubt der Neurotiker, so könnten wir hinzufügen, er hat eine Botschaft, die er an alle verkünden muß. Mir scheint, dass durch die digitale Vernetzung die Lage sich verschärft hat und zwar in dem Sinne, dass wir mit viel komplexeren Formen des technischen Anrufens zu tun haben als die Dualität von Massenmedien und Individualmedien, die die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts jeweils als Massenmediengesellschaft und atomisierte Individualität prägten. 

Ronell beginnt ihre Auslegung des "Rufens" in Heideggers: "Was heisst Denken?" mit dem Beispiel der Mutter, die nach ihrem Buben ruft, "der nicht nach Hause will", und ihn zum Hören und "Gehorchen" zwingen muß (Ronell a.a.O. S. 28). Heidegger schreibt: 

"Was heißt Denken? Hüten wir uns vor der blinden Gier, die für diese Frage eine Antwort in der Form einer Formel erraffen möchte. Bleiben wir bei der Frage. Achten wir auf die Weise, in der sie frägt: "Was heißt Denken?" 
'Warte, ich werde dich lehren, was gehorchen heißt' - ruft die Mutter ihrem Buben nach, der nicht nach Hause will. Verspricht die Mutter ihrem Sohn eine Definition über den Gehorsam? Nein. Aber vielleicht gibt sie ihm eine Lektion? Auch nicht, falls sie eine rechte Mutter ist. Sie wird vielmehr dem Sohn das Gehorchen beibringen. Oder noch besser und umgekehrt: sie wird den Sohn in das Gehorchen bringen. Das glückt um so nachhaltiger, je seltener sie schilt. Es glückt um so einfacher, je unmittelbarer die Mutter den Sohn ins Hören bringt. Nicht erst so, daß er sich dazu nur bequemt, sondern so, daß er vom Hörenwollen nicht mehr lassen kann. Weshalb nicht? Weil er hörend geworden ist für das, wohin sein Wesen gehört. Das Lernen läßt sich darum durch kein Schelten bewirken. Und dennoch muß einer beim Lehren bisweilen laut werden. Er muß sogar schreien und schreien, selbst wenn es sich darum handelt, eine so stille Sache wie das Denken lernen zu lassen. Nietzsche, der einer der stillsten und scheuesten Menschen war, wußte von dieser Notwendigkeit. Er durchlitt die Qual, schreien zu müssen. In einem Jahrzehnt, als die Weltöffentlichkeit noch nichts von Weltkriegen wußte, als der Glaube an den "Fortschritt" fast die Religion der zivilisierten Völker und Staaten wurde, hat es Nietzsche hinausgeschrien: "Die Wüste wächst..." Er hat dabei die Mitmenschen und vor allem sich selber gefragt: "Muß man ihnen erst die Ohren zerschlagen, daß sie lernen, mit den Augen zu hören? Muß man rasseln gleich Pauken und Bußpredigern?" (Also sprach Zarathustra, Vorrede n. 5). Aber Rätsel über Rätsel! Was einmal Schrei war: "Die Wüste wächst..." , droht zum Geschwätz zu werden. Das Drohende dieser Verkehrung gehört zu dem, was uns zu denken gibt." (M. Heidegger, Was heisst Denken?, a.a.O. S. 19) 
Ronell verbindet das Rufen der Mutter (und später des Gewissens) mit der Telefon-Metapher und sie übergeht den vorangehenden entscheidenden Absatz, in dem es um den 'Ruf' eines blühenden Baumes geht, der "sich uns vorstellt", uns also unmerklich in seinen Bereich einläßt, so dass wir uns als diejenigen verstehen können, die in der Möglichkeit des Hörens oder Nicht-Hörens sind (M. Heidegger, Was heisst Denken? a.a.O. S. 142).  Für Ronell spielt das Medium Telefon als Metapher des Anrufens insofern eine entscheidende Rolle, als es zeigt, dass wir in der Lage sind, einen Anruf nicht anzunehmen. Das bedeutet, dass Rufen nicht die Struktur des Befehlens und Gehorchens hat, was Heidegger in Anschluß an eine Auslegung der Stelle im Neuen Testament ("Und da Jesus viel Volks um sich sah, hieß er hinüber jenseits des Meeres fahren" Math. VIII, 18) folgendermaßen auf den Punkt bringt: 
"Daß im alten Wort "heißen" nicht das Fordern vorwaltet, sondern das Gelangenlassen, daß somit im "Heißen" das Moment des Helfens und Entgegenkommens anklingt, wird dadurch bezeugt, daß das selbe Wort im Sanskrit noch so viel wie "einladen" bedeutet." (M.Heidegger, Was heisst Denken? a.a.O. S. 82).
Die digitale Ontologie bedenkt ein Medium, nämlich die digitale Weltvernetzung , in dem unser Sein sich der Weise eines vielfältigen Rufens und Angerufenwerdens abspielt, wo also die Grenzen zwischen der One-to-many-Struktur der Massenmedien und der One-to-one-Struktur der Individualmedien beim Telefon, im Hegelschen Sinne "aufgehoben" werden. Wenn wir das griechische Wort für message, nämlich angelia, bedenken, dann können wir sagen, dass wir eine neue 'angeletische' Situation vor uns haben, deren Struktur eine digitale Ontologie thematisieren kann. Ich nenne die entsprechende Wissenschaft, die sich mit dem Phänomen der Botschaft befaßt, Angeletik. Während sich die Hermeneutik um die Frage des Verstehens von (textuellen) Botschaften (!) kümmert, setzt sie stillschweigend das Phänomen des Verkündens selbst voraus. 
 

3. DIGITALE INFORMATION UND DASEINSANALYTIK

Wie und wo sind wir, wenn wir im Netz sind? Was für ein Zwischen ist (erlaubt) das Netz? Es gibt hier eine Architektonik, die nicht nur durch die Ortlosigkeit der Geometrie und die Ungesetztheit der Zahlen, sondern auch durch die Seinsweise des Daseins zustande kommt. Das elektromagnetische bzw. elektronische Medium ist wie das Papier für ein Buch auch eine Prägemasse. To ekmageion ist die Masse, worin man etwas abdrückt, Wachs, Gips, und to ekmagma ist das Aus- oder Abgedruckte in Wachs, Gips, daher ein getreues Abbild, Ebenbild. Dieses Wort entspricht dem Lateinischen informatio. Mageia bedeutet Zauberei. Das ekmageion kommt bei Platon in der berühmten Stelle über das Aufnehmende (chora) im Timaios  in der es geht um das Aufnehmende für alles Seiende, um die "Amme des Werdens" (Tim. 52b) geht, die selber "von allen Sichtbarkeiten (eidon) frei sei" und "alle Herkünfte (gene) in sich aufnehmen, empfangen soll." (Tim. 50e). Platon behauptet, "dasjenige aber, das weder auf Erden noch irgendwo am Himmel sei, das sei nicht" (Tim. 52b). Übersetzt heißt dies, dass jedes Seiende eines Mediums bedarf. 

Das elektromagnetische bzw. elektronische Medium ist eine Prägemasse, die das digital Seiende aufzunehmen vermag. Das digital Seiende kann sich aber auch frei durch dieses Medium bewegen und Platz darin einnehmen. Insofern ist dieses Medium wie die chora ein Raum zum Aufnehmen vom digital, d.h. arithmologisch zergliederten Seienden. Damit verdient das elektromagnetische bzw. elektronische Medium als Dimension den Namen Cyberspace, den es nun genauer zu untersuchen gilt. Die Behandlung vom Raum in Sein und Zeit kann uns dazu als Leitfaden dienen. 

Heidegger schreibt: "Aber weder steht die je vorgängig entdeckte Gegend, noch überhaupt die jeweilige Räumlichkeit ausdrücklich im Blick." (SuZ:111, § 24). Das Erkennen des Raumes als Raum findet also auf der Basis eines unauffälligen Einräumens statt. Ein solches Einräumen ist, so Heidegger im vorausgehenden Paragraphen, ein Ent-fernen. Eigentlich müßte er das Da-sein Dort-sein nennen, wenn er z.B. schreibt:

"Das Dasein ist gemäß seiner Räumlichkeit zunächst nie hier, sondern dort, aus welchem Dort es auf sein Hier zurückkommt und das wiederum nur in der Weise, daß es sein besorgendes Sein zu... aus dem Dort-zuhandenen her auslegt." (SuZ:107f § 23)

Heidegger unterscheidet zwischen: 
i) der Angabe einer Stelle, an der ein Körperding ist, 
ii) dem "Platzeinnehmen" von dem Zuhandenen an einem Platz aus einer Gegend her, 
iii) dem Räumlich-sein des Daseins in der Weise des Ent-fernens (ebd.). 

Bei diesem Ent-fernen kommen wir aber nicht dazu, die Abstände zu durchqueren, wie wenn wir eine Straße durchqueren, so dass der Abstand dann verschwinden würde: Kaum sind wir da, stellen wir fest, dass wir eigentlich immer zugleich dort sein können! Wir nehmen das Dort-sein sozusagen immer mit. Das ist etwas für Alice in Wonderland, aber Heidegger schreibt wörtlich:

"Seine Ent-fernung hat das Dasein so wenig durchkreuzt, dass es sie vielmehr mitgenommen hat und ständig mitnimmt, weil es wesenhaft Ent–fernung, das heißt räumlich ist." (ebd. S. 108) 

Wenn also zwei Dinge voneinander getrennt sind, sprechen wir vom Abstand und sagen, dass das eine Ding den Platz einnehmen kann, den das andere in einem gewissen Abstand befindliche Ding einnimmt. Wenn wir aber ein Buch, das dort im Regal ist, zu uns holen und so den Abstand zwischen Buch und Auge verringern, dann ist das Dort-sein-können keineswegs verschwunden. Heidegger spricht von einem "Umkreis von Ent-fernungen", in dem wir nicht "umherwandern", sondern den wir "immer nur verändern" können (ebd. S. 108). Die Vorstellung, wir können im Umkreis unserer "Ent-fernungen" "umherwandern", bedeutet, daß wir gewissermaßen ortlos zu den verschiedenen Orten gehen könnten. Wenn wir uns ent-fernen, ist es nicht so, wie wenn wir wandern, dass wir an Orte kommen, wo wir nicht schon gewesen sind, sondern das Wandern ist ein Ent-fernen. Wir können mit anderen Worten nicht an einem Ort und nicht zugleich an einem anderen Ort sein. Wenn wir da sind, sind wir auch immer schon dort. Wie aber verändern wir die Ent-fernungen? Zunächst indem wir uns leiblich bewegen, aber auch durch Rede und Schrift. 

Weil wir in der Weise des Ent-fernens sind, oder weil wir immer schon in der Möglichkeit des Dort-seins sind, können wir auch solche Technologien entwickeln und sie auch benutzen. In der ursprünglichen Fassung von Sein und Zeit heißt es: "Mit dem ‘Rundfunk’ zum Beispiel vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-fernung der ‘Welt’ auf dem Wege einer Erweiterung der alltäglichen Umwelt." (SuZ:105) Der Zusatz "und Zerstörung" ist eine spätere Randbemerkung, die auf die Auswirkung der Medien Bezug nimmt. In diesem phänomenologischen d.h. ‘neutralen’ Sinne schreibt Heidegger auch:

"Auf seinen Wegen durchmißt das Dasein nicht als vorhandenes Körperding eine Raumstrecke, es ‘frißt nicht Kilometer’, die Näherung und Ent-fernung ist je besorgendes Sein zum Genäherten und Ent-fernten." (SuZ:106)

Hier ist es sogar so, daß das Ent-fernen im direkten Bezug zum Besorgen gesehen wird. Es wäre m.E. verkehrt, die leibliche Erfahrung des Ent-fernens in der "alltäglichen Welt" dem Ent-fernen im digitalen Medium gegenüber zu stellen und hieraus noch ‘kulturkritische’ oder sogar technikfeindliche Schlußfolgerungen zu ziehen. Die tatsächliche Zerstörung der alltäglichen Umwelt hat im Prinzip nichts damit zu tun, daß das Dasein "eine wesenhaft Tendenz zur Nähe" (SuZ:105) hat und deshalb Techniken entwickelt, um "alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit" (SuZ:105) ermöglichen. Was sich zunächst verändert hat, ist die Reichweite unserer "alltäglichen Umwelt". Allerdings betont Heidegger, daß "die objektiven Abstände vorhandener Dinge" sich nicht "mit Entferntheit und Nähe des innerweltlich Zuhandenen" decken (SuZ:106). Entscheidend für das Phänomen des Ent-fernens ist der Blickpunkt des Besorgens gegenüber dem des Messens. Die Verräumlichung des Daseins in seiner Leiblichkeit ist, wie Heidegger an dieser Stelle bemerkt (SuZ:108), eine besondere Problematik. 

Kehren wir aber zum Thema der Ortlosigkeit des logos und des digital Seienden zurück. Die Beliebigkeit des Ortes betrifft im Grunde jedes Seiende unter dem Gesichtspunkt des Vorhandenseins. Die Bindung der Dinge an einen Ort hat, wenn wir Heideggers Phänomenologie folgen, mit unserem Umgang mit ihnen zu tun (Zuhandensein), während Aristoteles diese Bindung von der physis, von ihrem natürlichen Ort also, her denkt. Wenn wir aber die Möglichkeit und die Seinsweise des Ent-fernens immer mit uns tragen oder sie uns trägt, dann besteht ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Dort- und Dasein und der Ortlosigkeit des Netzes. Der logos kann über die Vergegenwärtigung des Seienden zwar beliebig verfügen, dann aber ohne Anspruch auf Entbergung (aletheuein). Das Einräumen des Daseins steht vordergründig gesehen in einem schroffen Gegensatz zur Ortlosigkeit des Digitalen, wo also jede Ent-fernung genau das Gegenteil bedeutet und beinhaltet als das daseinsmäßige Ent-fernen. Letzteres impliziert ja, dass ein Da-sein ein immer schon Weg- oder Dort-sein-können bedeutet. Die leibliche Bewegung des Daseins (oder: im Da-sein) besagt, dass beim Gehen von hier nach dort, zwar eine andere Stelle im Raum-Zeit-Kontinuum eingenommen wird, daß dies aber nur die Sichtweise des Vorhandenen ist. Ich meine aber, dass unser Hier-und-dort-sein-können — gleichgültig ob wir dies leiblich vollziehen oder nicht — eine Bedingung der Möglichkeit darstellt, dass wir solche leiblosen (und auch die leiblichen!) Techniken des Fort-seins entwickeln. Wären wir nicht von dieser Art in unserem Im-Raum- und In-der-Zeit-sein, könnten wir niemals ein Auto oder das WWW erfinden. 
 
Was heißt 'Ent-fernen'? Es heißt nicht, so Heidegger, etwas "in den geringsten Abstand von irgendeinem Punkt des Körpers bringen." (SuZ:107), wie wenn wir zum Beispiel eine Brille tragen. Dazu schreibt Heidegger: "Dieses Zeug hat so wenig Nähe, daß es oft zunächst gar nicht auffindbar wird." (SuZ:107) Vielmehr: beim Durchqueren eines Abstandes nimmt das Dasein seine Ent-fernung ständig mit, "weil es wesenhaft Ent-fernung, das heißt räumlich ist." (SuZ:108) Wir hören nicht in der Weise des besorgenden Seins-zu... auf zu sein, wenn wir im digitalen Medium die Dinge anders ent-fernen. Wenn wir ein digital Seiendes abrufen, das dann auf dem Bildschirm flackert und uns sehr nah oder sehr fern "vorkommen" kann, ist dieses Vorkommen nicht bloß ‘virtuell’ oder gar ‘subjektiv’, sondern: "In solchem ‘Vorkommen’ aber ist die jeweilige Welt erst eigentlich zuhanden." (SuZ:106) 

Heidegger schreibt, daß wir — nach Platon — zwei Möglichkeiten haben, uns Seiendes anzueignen, nämlich im logos oder aber in der praxis (GA19:274). Beim legein wird der Gegenstand nicht verändert (ouden demiourgei). Er wird auch nicht an einen anderen Ort, z.B. ins Bewußtsein, transponiert, sondern er bleibt, "wo er ist" (GA19:276). Während der topos zum natürlich Seienden (physei onta) gehört, trennt Aristoteles davon die arithmetischen und geometrischen Gegenstände, also die Einheit (monas) und den Punkt (stigme), die ortlos (atopoi) sind. So wie das natürlich Seiende aber an einem Ort gesetzt (thetos) ist, so sind die geometrischen Gegenstände auch gesetzt, aber, da sie aus der physis herausgenommen wurden, haben sie "gegenüber dem physischen Körper eine Eigenständigkeit". (GA19:110) Heidegger schreibt:

"Die geometrischen Gegenstände sind zwar nicht an einem Ort; gleichwohl kann ich an ihnen das Oben und Unten, das Rechts und Links bestimmen; an einem Quadrat z.B. kann ich die Seiten bestimmen: oben, unten, rechts, links." (ebd.).

Das ist bei den Zahlen dann nicht mehr möglich. Ihre Ordnung ist lediglich die des "Darauffolgenden" (ephexes). "Der Mathematiker trennt" (ho mathematikos chorizei), so Aristoteles (Phys. II,2 193b31ff). Offenbar ist chora, der Platz oder Raum, nicht dasselbe wie topos, der Ort, obwohl Heidegger das terminologisch nicht so sauber trennt. Der Sache nach ist es aber so, daß Zahlen und Punkte zwar ortlos, aber zugleich getrennt (vom natürlich Seienden) sind. Sie haben also eine chora, d.h. sie sind als 'choristá' bestimmt. 

Zu Beginn der Sophistes-Vorlesung (GA 19:18) erwähnt Heidegger zwei griechische Definitionen des Menschen, nämlich to zoon logon echon und das rechnend-berechnende Seiende (arithmein) oder zoon arithmon echon wie wir sagen könnten. Durch den logos können wir etwas über die Welt sagen d.h. zu- oder absprechen (kataphasis und apophasis), wenngleich diese Wahrheits-Funktion des logos nicht die einzige ist. Die Bitte z.B., wie Aristoteles in Peri hermeneias (17a) bemerkt, ist eine Form des Aufweisens, die aber nicht auf Wahrheit oder Falschheit ausgerichtet ist, wie die hinweisende auf Übereinkunft beruhende Verlautbarung (phone semantike kata syntheke). Heidegger schreibt:

"Nicht jeder Satz ist ein theoretischer Satz, eine Aussage über etwas, sondern irgendein Ausruf, eine Bitte, ein Wunsch, ein Gebet ist kein logos apophantikos, in dem etwas mitgeteilt wird, wohl aber semantikos, er bedeutet etwas, wobei das Bedeuten aber nicht den Sinn des theoretischen Erfassens von etwas hat." (M. Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA20:116).

Der logos apophantikos ist also der "sacherfassende und mitteilende Logos", wobei wir nach Aristoteles uns das Seiende sowohl hinsichtlich seiner spezifischen Seinsstrukturen, wozu zum Beispiel die Zahl (arithmos) oder die Bewegung gehören als auch hinsichtlich dessen, was dem Seienden als Seiendes gehört. Zum Letzteren gehört zum Beispiel das Eine (hen ), so Heidegger (GA19:212). 

Was tut nun der logos apophantikos? Antwort: Er deckt auf (aletheuei) und zwar nach Aristoteles auf fünf unterschiedliche Weisen: episteme, techne, phronesis, sophia, nous, die Heidegger im einleitenden Teil und vor der Erörterung der Mathematik und der Geometrie darstellt (ebd. S. 21ff). Wie verhalten sich aber aufdecken (aletheuein) und abtrennen (chorizein)? Durch Abtrennen (chorizein) können die Ur-Sachen (archai) des Seienden nicht bestimmt werden, so Aristoteles gegen Platon. Die Anhänger der Ideen trennen aber die physika, d.h. sie wenden eine unzulässige oder unsachgemässe Art des logos diesem Seienden gegenüber an. Dadurch entsteht (der Schein) einer anderen Sache. Trivial gesagt: wir können nicht die Sonne von ihr selbst trennen und als die wahre Sonne, oder als Idee der Sonne in einem getrennten Ort setzen oder sie dort entdecken wollen. 

Hier müßen wir über die "Ortlosigkeit des Logos" nachdenken. Wie ist das Aufdecken (aletheuein) durch den zu- und absprechenden logos? Wichtig scheint mir hier der Gedanke, daß für Aristoteles der logos apophantikos an die aisthesis sowie an die phantasia gebunden bleibt. Das drückte Thomas von Aquin  mit dem von Karl Rahner ausführlich analysierten Grundsatz der conversio ad phantasmata aus, d.h. der Rückkehr der trennenden Abstraktion zu den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, so wie sie uns erscheinen (7)

Was tun wir aber, indem wir Punkte und Zahlen in das elektromagnetische bzw. elektronische Medium setzen? Eigentlich setzen können wir ja nur Punkte und von hier aus die geometrischen Figuren, also so etwas wie ein Netz konstruieren. Die Ordnung der Zahlen wird ja nicht durch das Netzchaos berührt! Auf die Zahlen können wir uns nicht nur rechnend, sondern auch berechnend einlassen. Die globale Vernetzung ist also ortlos, aber gesetzt. 

Mit Hinblick auf das vorher Gesagte sollten wir auch anmerken, dass im Cyberspace das Dasein nicht weniger, wenngleich anders, ‘besorgend’ umgehen kann als in der ‘natürlichen’ Umwelt. Ein digital Seiendes hat keinen Ort, wo es natürlich hingehört. Es ist aber hier die Frage, ob wir nicht anders als Aristoteles und auch anders als Platon vorgehen. Denn wir blicken auf das Seiende weder von einem übersinnlichen Topos noch von der 'physis', sondern umgekehrt, vom Mathematischen und Geometrischen her, von wo aus dann auch die 'physei onta'  als Konstrukte erscheinen. 

Die Frage ist nur, ob all die sinnlich-leiblichen Dimensionen in ihrem Sein nur dann zugelassen und das heißt als seiend zugelassen werden, wenn sie sich von der Digitalisierung her erschließen lassen. Die digitale Ontologie erhebt, wie jeder andere Seinsentwurf, einen Totalitätsanspruch, der aber nicht mit Hinweis auf ontische Begebenheiten relativiert werden kann. Meines Erachtens ist eine solche Relativierung nur dadurch möglich, daß der ‘Anruf’ anderer Seinsentwürfe ‘wieder-holt’ und wachgehalten wird. Der dadurch entstandene Wettstreit der Seinsentwürfe läßt die gigantomachia peri tes ousias (Platon), die Seinsfrage also, wieder offen. Um dies mit anderen Worten zu sagen: Wenn wir alles als Materie oder als Geist oder als Leben etc. erschließen, besteht gerade die Arbeit des Denkens darin, diese Seinsentwürfe als solche zu thematisieren. Dies führt letztlich zu der von Heidegger gestellten Frage nach dem ‘Ort’, wo die Seinsfrage sich stellt, zum ‘Da-sein’ also, sowie zu der Einsicht, daß das Dasein grundsätzlich auf das Sichmelden des Seins (im Seienden) offen ist. 

Diese Daseinsweise wird scheinbar durch die Seinsart der Mittel durchkreuzt, wenn also kein leibliches Ent-fernen stattfindet. Aber das Nahebringen von z.B. Bildern, Tönen (oder: eines Vogels, eines Fisches etc.) ist nur möglich, wenn die Möglichkeit des Dort-sein-könnens eingeräumt ist. Das ist ja in gewisser Weise bei allen Lebewesen der Fall, sofern sie nämlich an der Offenheit teilnehmen. Bei uns ist aber diese Erfahrung ‘umsichtig’ und ‘ent-fernend’. Wo liegt das besondere des digitalen Ent-fernens und seiner heutigen Instrumentalisierung? Wie und wo sind wir, wenn wir im Netz sind? Was für ein Zwischen ist (erlaubt) das Netz? Es gibt hier eine Architektonik, die nicht nur durch die Ortlosigkeit der Geometrie und die Ungesetztheit der Zahlen, sondern auch durch die Seinsweise des Daseins zustande kommt. 

Vielleicht sollten wir bedenken, dass wir bei aller Geisterhaftigkeit unserer Erfahrung des Im-Netz-seins, wir doch dabei immer 'aisthetisch' sind (8). Alles, was sich am Bildschirm zeigt, zeigt sich uns in der Weise der Anwesenheit und somit dessen, was wir zu Beginn bezüglich des Ausdrucks "Der nächste Sinn von Sein" sagten. In der digital vorgestellten Welt erfüllt sich der Sinn des Satzes: "Das Sein der Welt ist Anwesenheit." (GA19:633). Wenn aber der logos selbst informierend wäre, ohne Weltverweis, wäre das auch eine Weise des Her-vor-bringens oder somit auch des Künstlich-seins. Die Unterscheidung zwischen der techne poietike und der techne ktetike, d.h. der herstellenden und der aneignenden Technik wird aufgehoben. Dies war die sophistische Ent-deckung des logos

Auch im Zustand des Traumes befinden wir uns in einem Medium, in dem einige der merkwürdigen Eigenschaften des Cyberspace vorkommen so z.B. die plötzliche Beziehung auf räumlich Entferntes oder das Überspringen der kosmischen Zeit. Eigentlich ist das Klicken mit den Fingern nur ein Mittel, wodurch wir uns "in diesem Raum bewegen", was auch für Augenlider oder Gehirntätigkeit gilt. Diese körperlichen Bewegungen setzen etwas in Bewegung, nämlich die Lichtsignale, wodurch dann die Daten zu uns kommen. Es findet eine digitale Auslagerung oder "ein outsourcing des nous" (M. Eldred) statt. Die Computerprogramme objektivieren — etwa auf einer Festplatte — das Verstehen von Welt und machen die Auslegung dieses Verstehens vom Prozessor berechenbar. Ich habe früher ein solches Phänomen ein ‘verobjektiviertes Vorverständnis’ genannt und zwar in bezug auf die ausdrücklichen Horizonte, die wir zum Beispiel einer Datenbank zugrunde legen, wenn wir in/aus ihr etwas finden wollen. Dergleichen sind Klassifikationen oder Thesauri, d.h. alphabetisch geordnete Sammlungen von Fachtermini, die dann für eine gezielte Suche (information retrieval) verwendet werden (9)

Was sich also zwischen dem Dasein und der elektromagnetischen bzw. elektronischen Dimension bewegt sind die Licht–  (bzw. elektromagnetischen oder elektronischen) Signale. Zugleich aber, wie beim Telefon oder beim Fernsehen, sind wir in einer bestimmten Weise bei den entfernten Dingen selbst. Das bedeutet, daß wir die Möglichkeit haben, über Entfernungen, die unsere gewöhnlichen körperlichen Möglichkeiten übersteigen, zu agieren. Ich nenne das actio digitalis in distans (10). Unsere Möglichkeit der digitalen Ent-fernung ist eine ausgezeichnete Weise des In-der-Welt-seins. 

Wir sind inzwischen über die Vorstellung einer Synthese von mechanischen und menschlichen Elementen hinaus, das Paradigma der Mechanik ist von dem der Digitalisierung abgelöst worden. Das bedeutet m.E. nicht nur, daß wir uns in einem universellen Bereich der Zahlen und Buchstaben bewegen, sondern daß wir sie in ein bestimmtes elektromagnetisches oder elektronisches ekmageion einprägen, (wobei der Platonische Ausdruck hier nur teilweise richtig ist, denn das ekmageion ist ja gänzlich formlos, während das elektromagnetische bzw. elektkronisches Medium schon eine Form hat), um von hier aus alles Seiende in seinem Sein als digital-seiend aufzufassen und zu formen, oder, um es Heideggerianisch auszudrücken, um unser Sein-bei umsichtig (digital) zu besorgen. Da wir aber im Netz auch ‘mit’ den Anderen sind, sind auch alle Möglichkeiten des Ent-fernens von Dasein zu Dasein und somit auch alle (Verfalls-)Formen der "Fürsorge" — von der "einspringend-beherrschenden" bis zur "vorspringenden-befreienden" — innerhalb der Möglichkeiten dieses Mediums gegeben. Das bedeutet, dass wir uns zugleich in unterschiedlichen Seinsentwürfen bewegen, auch wenn wir sie nicht als solche wahrnehmen. Das elektromagnetisch und mathematisch in-formierte ekmageion) wird also zum Aufnehmenden. Es ist die chora, in die dann die topoi eingeschrieben werden. Platonisch gedacht vermittelt dieser Raum zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen (dem Mathematischen). 

 

4. WAS IST INFORMATION?

Wir sprechen von digitaler Information. Was ist aber Information? Vor etwa zwanzig Jahren untersuchte ich diese Frage dem etymologischen Wink folgend, den Carl Friedrich von Weizsäcker gab:  "Man beginnt sich daher heute daran zu gewöhnen, daß Information als eine dritte, von Materie und Bewusstsein verschiedene Sache aufgefasst werden muß. Was man aber damit entdeckt hat, ist an neuem Ort eine alte Wahrheit. Es ist das platonische Eidos, die aristotelische Form, so eingekleidet, daß auch ein Mensch des 20. Jahrhunderts etwas von ihnen ahnen lernt." (11) Dieser Text stammt aus einem Vortrag "Sprache als Information", den Weizsäcker im Rahmen der Vortragsreihe "Die Sprache" hielt, die vom 19.-23. Januar 1959 in der Aula der Universität München, sowie vom 26.-30. Januar im Ernst-Reuter-Haus in Berlin stattfand. Sie wurde von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Akademie der Künste zu Berlin veranstaltet. An dieser Vortragsreihe nahm auch Heidegger mit dem Vortrag "Der Weg zur Sprache" teil (12). Heidegger spricht von einem "Geflecht von Beziehungen, darein wir selber schon einbezogen sind", wenn wir versuchen "die Sprache als die Sprache zur Sprache zu bringen". 
"Ein Geflecht", so Heidegger, "drängt zusammen, verengt und verwehrt die gerade Durchsicht im Verflochtenen. Zugleich aber ist das Geflecht, das die Wegformel nennt, die eigene Sache der Sprache. Darum dürfen wir von diesem Geflecht, das dem Anschein nach alles ins Unentwirrbare zusammendrängt, nicht wegsehen. Die Formel muß unser Nachdenken eher bedrängen, damit es versuche, das Geflecht zwar nicht zu beseitigen, aber so zu lösen, daß es den Blick in das freie Zusammengehören der durch die Formel genannten Bezüge gewährt. Vielleicht ist das Geflecht von einem Band durchzogen, das auf eine stets befremdende Weise die Sprache in ihr Eigentümliches entbindet. Es gilt, im Geflecht der Sprache das entbindende Band zu erfahren. Der Vortrag, der die Sprache als Information bedenkt und dabei die Information als Sprache denken muß, nennt dieses in sich zurücklaufende Verhältnis einen Zirkel und zwar einen unvermeidlichen, zugleich aber sinnvollen. Der Zirkel ist ein besonderer Fall des genannten Geflechtes." (ebd.) 
Nach Heidegger sprechen nicht primär wir, sondern die Sprache 'spricht' oder eher sollten wir sagen 'zeigt', was Heidegger die 'Sage' nennt, und die uns das Sprechen gewährt. "Die Bewegung der Sage zur Sprache ist", so Heidegger, "das entbindende Band, das verbindet, indem es er-eignet." (ebd.). Heidegger kontrastiert das Ent-sprechen der Sage oder, wie wir auch sagen könnten: das Ent-sprechen der natürlichen Sprache, mit dem Entsprechen der Dinge in ihrer Bestellbarkeit, dem Ge-Stell also: "Das so gestellte Sprechen wird zur Information" (ebd.). Von hier aus wird die "natürliche" Sprache als die "noch nicht formalisierte" Sprache aufgefaßt, das "Unbestellbare des Ereignisses" ist nicht mehr im Blick. Eine Umkehr würde sich dann ereignen, "wenn das Ereignis durch seine Einkehr jegliches Anwesende der bloßen Bestellbarkeit entzöge und es in sein Eigenes zurückbrächte." (ebd.) Heidegger sagt wohl der "bloßen" Bestellbarkeit, denn auch wenn das Seiende aus dem Blick des Unbestellbaren, also des von sich Ereignenden, erblickt wird, lässt es sich ja auch bestellen, so wie umgekehrt auch, sonst wäre keine "Einkehr" möglich. Ich habe dieses Geflecht einmal folgendermaßen zur Sprache gebracht: 
"Die Sprache meldet sich zwar in der Information, sie kommt aber wesentlich zu Wort in der Dichtung" wobei ich dann, Heidegger folgend, unter "Dichtung" nicht das Machen von Gedichten verstehen, sondern die dichterisch-denkerische Erfahrung der (von der) Sprache verstehe, also das Sich-sagen-lassen, das uns immer schon eingeholt hat, auch und gerade, wenn wir Sprache als Instrument (also Sprache als Information) gebrauchen." (13) 
Genau dieser Zirkel zwischen Sprache als Sprache und Sprache als Information ist das, was Weizsäcker im Blick hat wenn er von Information als (sprachliche) Mitteilung und von Information im Sinne von Struktur (oder Form) eines Gegenstandes auffaßt. Mit dieser doppelten Sichtweise von Information hat sich Weizsäcker öfter auseinandergesetzt. Ich habe diesen Weg woanders zusammengefaßt (14). Hier nur so viel: Information zielt auf Eindeutigkeit (und Genauigkeit) und befindet sich dabei in einem Geflecht mit der natürlichen Sprache. Was sie zum Ausdruck bringt, ist eben die Form eines Gegenstandes, wobei Weizsäcker in diesem (frühen) Vortrag die Frage offen läßt, inwiefern wir von Information jenseits der (menschlichen) Sprache sprechen können. Dies wird in den späteren Schriften vertieft und zwar im Sinne der bedeutungsschweren griechischen Begriffe: eidos, idea, typos und morphe. Dabei hängen beide Informationsbegriffe zusammen in einem Geflecht, sozusagen, wobei dann alles auf die Frage nach dem "lösenden Band" ankommt: Die gewußte Form ist zugleich die Form des Gegenstandes, das subjektive Wissen ist zugleich "objektivierte Semantik". Daraus leitet Weizsäcker zwei grundlegende Thesen, auf die er immer wieder zurückkommen wird, ab, nämlich:"Information ist nur, was verstanden wird" und  "Information ist nur, was Information erzeugt". Die erste These ist so gemeint, dass auch von einem Organismus, der die DNS-Information in Proteingestalten umsetzt, gesagt werden kann, dass dieser die Information "versteht". Information und Verstehen sind also Phänomene des Lebendigen. Daraus wird die zweite These abgeleitet. Der Informationsbegriff wird hier auf den Prozeß der organischen Formung bezogen. 

Im Begriff der Information, so Heidegger im zusammen mit Eugen Fink veranstalteten Heraklit-Seminar vom Wintersemester 1966/67, liegt eine Zweideutigkeit vor, zum einen "die informations-theoretische Interpretation des Biologischen und zum anderen den darauf gegründeten Versuch, aktiv zu steuern": 

"Die Gene", so Fink, "zeigen eine bestimmte Geprägtheit und haben daher den Charakter von Langspeichern. Der Mensch lebt durch die genetische Bedingtheit sein Leben, das er scheinbar als freies Wesen hinbringt. Hier ist jeder der Bedingte der Vorfahren. Man spricht auch von der Lernfähigkeit der Gene, die wie die Komputer lernen können. 
Heidegger: Wie aber steht es mit der Information? 
Fink: Unter Information versteht man einmal das informare, die Prägung, das Formeinpressen und zum anderen die Nachrichtentechnik. 
Heidegger: Wenn die Gene das menschliche Verhalten bestimmen, entfalten sie dann die in ihnen liegenden Nachrichten? 
Fink: Gewissermaßen. Bei den Nachrichten handelt es sich hier nicht um die, die der Mensch aufnimmt. Gemeint ist, daß er sich so verhält, wie wenn er einen Befehl aus dem Genespeicher bekäme. Von hier aus gesehen wird die Freiheit zur geplanten Freiheit. 
Heidegger: Information besagt also einmal das Prägen und zum anderen das Nachricht-Geben, auf das der Benachrichtete reagiert. Durch die kybernetische Biologie werden die menschlichen Verhaltensweisen formalisiert und die gesamte Kausalität wird verwandelt. Wir brauchen keine Naturphilosophie, sondern es genügt, wenn wir uns darüber klar werden, woher die Kybernetik kommt und wohin sie führt." (15)
Das Problem des Informationsbegriffs liegt für Heidegger nicht darin, dass er im Sinne von Prägen gebraucht wird, sondern in der damit verbundenen (kybernetischen) Vorstellung, eines Nachricht-gebens. Bei dieser zweiten Bedeutung übertragen wir aber eine Dimension des menschlichen Seins auf die Ebene der Gene und begehen wir eine metabasis eis allo genos. Dies kann in vieler Hinsicht nützlich sein, aber wenn diese Vorstellung sich absolut setzt, dann ist es natürlich mit dem offenen Menschsein dahin. Dieses Problem hat Weizsäcker Zeit seines Lebens beschäftigt. Er drückt das mehrfach im Sinne der oben genannten "objektivierten Semantik" aus. "Wieviel Information enthält die objektivierte Semantik einer gegebenen Informationsmenge? Wieviel bits braucht man, um ein bit zu verstehen?"  Zwei Antworten sind, so Weizsäcker, möglich: Wir können z.B. die Anzahl der genetischen Information auf 2 n bits festlegen. Mit dem n drücken wir die Formmenge eines bestimmten Individuums einer Spezies aus. Wir können aber auch die Formmenge eines Organismus etwa so erfassen: DNS-Buchstaben x Anzahl der Eiweißmoleküle x Anzahl der Zellen ... eine sehr große Zahl also, die Information über die DNS-Kette des Kerns einer beliebigen Zelle eines beliebigen Organismus dieser Spezies. Die erste Zahl artikuliert die Form oder das Eidos aber nicht die Informationserzeugung, die zweite umgekehrt. Beide Aspekte gehören aber im Informationsbegriff zusammen (Weizsäcker  a.a.O.). 

Die Sprache ermöglicht uns, so Weizsäcker in einer späteren Schrift (16), in einem Feld von Möglichkeiten/Formen zu handeln. Begriffe sind kein Abbild der Welt, sondern Möglichkeiten unseres Handelns. Information ist für uns wissbare Form über die Gestaltenfülle der Dinge. Da wir in einem Selbstformungsprozeß des Universums einbettetet sind, ohne dass wir das Ganze zu erfassen vermögen, hat unsere Begrifflichkeit oder unsere In-formation   also die Art und Weise wie wir in-formiert werden und wie wir die Dinge (wissend) in-formieren) — eine besondere Unschärfe, die sich nicht aufheben läßt. Wir können die Dinge, Kantisch gesprochen, nicht so fassen, wie sie "an sich" sind. Oder, Heideggerianisch gesagt, die Sage übersteigt immer unser Sprechen, und wenn wir die Sprache als Sprache zur Sprache bringen, dann bewegen wir uns in Richtung auf diese Gestaltenfülle, die wir durch das Setzen von Sprache als Information notwendigerweise reduzieren und somit reduzieren wir auch die Dimension der möglichen Gestaltenfülle oder des Seins dessen, was ist. 

Information meint also genau diese Spannung zwischen Formgebung oder Bestimmung der Form (genitivus subjectivus) also den Prozeß der Erzeugung von In-forma-tionen und Bestimmung der Form (genitivus objectivus), also den Prozeß wodurch wir eine Form sprachlich bestimmen, das Seiende also eidetisch/sprachlich fest-halten. Dieses können wir auch in bezug auf die Sprache selbst tun, worauf sich Heidegger ebenfalls im Vortrag bezog. Wo ist aber im Geflecht der Sprache mit sich selbst und im Geflecht der Sprache mit der Welt das "entbindende Band"? Genau in der Bewegung der "Sage" zur "Sprache", d.h. in einer Bewegung die ent-bindet, oder ent-läßt oder er-eignet, also Möglichkeiten eröffnet, anstatt sie fest-zu-schreiben. Das gilt, meine ich, auch für das Geflecht zwischen Sprache und Welt, sofern nämlich hier die Bewegung von der Welt her in die Sprache ent-lassen wird, so dass wir der Gestaltenfülle in unserem Sprechen von der Welt und in unserem Handeln 'in' ihr so sind, dass wir uns auf das Möglich-sein der Dinge einlassen, sie also von unseren Be-griffen ent-binden, nachdem wir sie so und so auf-gefaßt haben. Es handelt sich also um eine doppelte Bewegung, deren Band auch unsere Wissenschaft und Technik entläßt und uns selbst in das Frei-sein des Möglichen einläßt

 

5. DASEIN, DAWESEN UND TOD

Der Philosoph und Mathematiker Oskar Becker (1889-1964), der bei Edmund Husserl habilitierte und Mitherausgeber des "Jahrbuchs für Philosophie und Phänomenologische Forschung" war, in dem Sein und Zeit zuerst erschien, suchte in seinem Spätwerk eine Synthese zwischen dem mathematischen und dem "existentiellen" Denken. Er sprach von einer "paraexistentiellen" Naturverbundenheit oder "Dawesen" des Menschen — komplementär zum "Dasein" — aus der heraus er Mathematik betreibt. Er schreibt:  "Denn das mathematische Denken verbindet höchste Rationalität mit - im Prinzip - völligem Mangel an geschichtlichem Bewußtsein. Also nicht aus den Kräften heraus, die ihn zum geschichtsbewußten, 'existentiellen' Wesen aufsteigen ließen, treibt der Mensch Mathematik, sondern aus seiner unzerstörbaren, 'paraexistentiellen' Naturverbundenheit erwächst ihm die Macht, die Natur, da wo sie unverstehbar ist, und gerade da, durch mathematisches Denken zu enträtseln, das heißt sie in dem ihr allein eigentümlichen 'kristallenen' Licht leuchten zu lassen. So ermöglicht uns die Abwägung der Seins-Gewichte von Geschichte und Mathematik einen tiefen Einblick in die Doppelgestaltetheit des Menschen, in sein 'Dasein' und 'Dawesen'".(17) Becker stellt fest, dass "die philosophische Frage nach der Grenze der mathematischen Denkweise" erst in der Neuzeit auftaucht, auch wenn sie in der Antike präfiguriert war und zwar im Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles bzw. zwischen dem "platonischen Realismus" und dem "Nominalismus" oder "Konzeptualismus". Becker erläutert die Entstehung der mathematischen Gebilde bei Aristoteles durch "Abstraktion" ('aphairesis') und sieht hier "einen ersten Ansatzpunkt" für das Problem der Grenze des Mathematischen (ebd. S. 152). An einer anderen Stelle erläutert er die Entstehung des Mathematischen bei Aristoteles wie folgt:  "Aristoteles ist der philosophische Theoretiker des Unendlichen, dessen Wesen er im unbegrenzt fortsetzbaren Prozeß erblickt, so daß es nach ihm bloß in der Form der Möglichkeit, 'der Potenz nach', sein Sein hat. Den Grund des Seins des Mathematischen überhaupt - das ist seine zweite fundamentale These - sieht der Stagirit im Gegensatz zu Platon in der Abstraktion. Das heißt: er faßt die mathematischen Gebilde nicht als in sich selbst und aus sich selbst bestehende Wesenheiten ('Substanzen') auf, sondern erklärt sie für durch 'Weglassung' (Aphairesis) aus den konkreten physischen Dingen entstandene Objekte, d.h. für Gedankendinge, Produkte des menschlichen (und vielleicht auch des göttlichen) Geistes. In einem eigenartigen Zusammenhang damit erfaßt er das Wesen der 'allgemeinen' mathematischen Gegenstände, wie z.B. die Proportionen im Sinne der Eudoxischen Theorie, durch eine höhere Stufe der Abstraktion von nicht generalisierender, sondern formalisierender Art. 
Hieran und an gewisse spätantike Weiterbildungen knüpft im 17. Jahrhundert die neue abendländische Mathematik an, die in ihrer Idee einer Mathesis universalis, auf der Buchstabenrechnung Vières, der analytischen Geometrie des Descartes und endlich auf den Leibnizschen kühnen Entwürfen universaler Kalküle fußend, sich im Laufe der drei folgenden Jahrhunderte zu einer gewaltigen, weitverzweigten Wissenschaft von immer formaler werdendem Charakter entfaltet. Allein, dieser unaufhaltsame Drang nach vorwärts, wie ihn besonders die Analysis des 18. Jahrhunderts zeigt, führt zu Unbesonnenheiten, die Widersprüche zur Folge haben." (ebd. S. 98-99) 
Dadurch ergibt sich für Becker die Frage nach der Grenze des mathematischen Denkens, die aber "weder Descartes noch Leibniz kennen". Für sie war die Zahl "eine metaphysische Grundgestalt, welche die Struktur des Universums wesentlich mitbestimmt." Erst mit Kant aber tritt ein "höchstbemerkenswerter Rückschlag" ein (ebda. S. 153). Der Mensch ist nicht mehr, wie für Leibniz, ein schaffender Spiegel des Universums, eine Ebenbild Gottes, sondern er ist auf Anschauungen angewiesen und somit begrenzt. Geometrie und Arithmetik sind nicht rein verstandesmäßig, sondern bedürfen des Schemas der Zeitreihe. Hier liegt für Kant die Grenze des mathematischen Denkens, denn Zeit, als Form des inneren Sinnes, ist etwas spezifisch Menschliches, "das nicht jedem Vernunftwesen zukommt." (ebd. S. 154). Ob und wie aber etwa göttliche oder andere nicht menschliche Wesen zählen, darüber wissen wir nichts. Wie wirkt sich diese Grenze für Kant aus? Im Falle der theoretischen Physik gelten die Gesetze der euklidischen Geometrie soweit sie in die Sinne fällt, was aber die Möglichkeit der modernen Physik offen läßt, so Becker, wenn diese andere Strukturgesetze der Natur entdeckt. In bezug auf die reine Mathematik scheint es so zu sein, dass Kant ihre Anwendung auf Dinge an sich ablehnen würde. Becker sieht einen tieferen Grundsatz bei Kant, nämlich den von der "Endlichkeit des Menschen". Hier trifft er sich mit Heideggers Existenzialanalytik. Er schreibt:  "Die Zeit ist nicht nur die Form des inneren Sinnes, sondern die Grundstruktur des menschlichen Daseins überhaupt. Wir sind als Menschen wesentlich zeitlich; unsere Existenz selbst ist keine bloße Form, die uns umgibt, sondern ganz und gar unser Sein und Wesen. 
Das zeigt sich auch - so oft es auch verkannt wird - an der Mathematik. Es ist nicht so, daß das mathematische Denken durch die Zeitlichkeit und die damit aufs engste zusammenhängende Endlichkeit des Menschen eingeschränkt oder gehemmt würde; sondern im Gegenteil wird es allererst durch sie ermöglicht. Wir können und müssen nur deshalb zählen und rechnen, weil wir zeitliche Wesen und endliche Wesen sind. Ein ewiges unendliches Wesen zählt nicht. Es braucht nicht zu zählen, ja es kann gar nicht zählen. Die Tätigkeit des Zählens und Rechnens hätte für es gar keinen Sinn." (ebd. S. 158).
Das steht im Gegensatz zu Leibniz ("Dum Deus calculat et cogitationem exercet, fit mundus" G.W. Leibniz: Die philosophischen Schriften, Hildesheim 1961, Bd. 7, S. 191), aber auch zum Geometrietreibenden Gott des Platon. Fazit: Nur ein endliches Wesen stellt sich das mathematische Problem nach der Beherrschung des Unendlichen. Auch ein unendlich lebender Mathematiker käme mit dem Zählen an ein Ende. Dies weist wiederum auf den Aristotelischen Begriff der potentiellen Unendlichkeit. "Weder Gott noch Tier können Mathematik betreiben, das kann nur das Zwischenwesen Mensch." (ebd. S. 161) 

Schließlich zitiert Becker Heideggers Wort, dass "Mathematik nicht strenger, sondern nur enger als Geschichte oder Philosophie ist". Damit wird Mathematik "an den Rand des Gebiets des Erkennbaren gedrängt". Das, worauf es ankommt, ist ganz un-mathematisch: 

"Die mathematische Betrachtungsweise verlegt sich ganz auf den "Bezugssinn" einer Erscheinung, ist gleichgültig gegen ihren Gehalt (den sie als bloßen Stoff ansieht) und vernachlässigt den Vollzugssinn — soweit wie möglich. Daß ihr das nicht völlig gelingt, daran ist, wie wir sahen, die unzerstörbare Verknüpftheit auch des mathematischen Operierens mit der Endlichkeit des Menschen schuld. Seine vornehme Zurückgezogenheit auf den Bezugssinn, seine "Neutralität", muß der Mathematiker freilich mit der Verarmung seiner "Existenz" bezahlen. Er ist dem lebendigen Dasein entfremdet." (ebd. S. 161-162) Damit knüpft Becker an eine Überlegung zum Problem Verstehen/Erklären an: Weder kann die Mathematik die Phänomene verstehen wie dies die interpretierenden Geisteswissenschaften tun, noch kann sie immer alles erklären. Sie kann aber ein Erscheinungsgebiet "beherrschen" und hier sind ihr "keine Grenzen gesetzt" (ebd. S. 168). 

Mit anderen Worten, die Grenzen des Mathematischen sind die, wo die Interpretation der historischen Phänomene ansetzt und umgekehrt, die Grenze des hermeneutischen Denkens zumindest die der anorganischen Natur. Somit erweist sich diese Schranke als eine Grenze, die nicht die ihre ist, sondern, paradox gesagt, die des historischen Verstehens: 

"Was also eigentlich beschränkt wird, ist der universale Anspruch des historisch-hermeneutischen "Geistes", alles verstehen zu können. Von hier aus gesehen, erfährt die früher angeführte Äußerung Heideggers über die "Enge" der Mathematik im Vergleich zur Geschichte eine eigentümliche Beleuchtung. Nicht die Mathematik, sondern die "Geschichte" erscheint jetzt als "eng", d.h. beschränkt in ihrem möglichen Ziel und ihres allumfassenden Anspruchs beraubt. Die Gebiete der Mathematik und Geschichte schränken sich gegenseitig ein; in diesem Punkte besteht eine symmetrische Gleichberechtigung von beiden. Aber in anderer Hinsicht ist ein Unterschied zwischen ihnen. Das mathematische Denken macht von vornherein nicht den Anspruch, allumfassend zu sein." (ebd. S. 170). Das scheint mir das 'Vor-Urteil' von Oskar Becker gegenüber dem Universalitätsanspruch der Hermeneutik zu bestätigen. Wenn aber Heidegger einen anderen nicht-sprachlichen Zugang zum Sein sucht, dann denkt er wohl weder mathematisch, noch 'logisch', noch hermeneutisch. Könnte es sein, dass Heidegger hier nach den Grenzen des logos sucht, und diese im Sein erblickt? Hätten wir aber dann nicht eine ähnliche Situation wie Kant gegenüber dem "Ding an sich", d.h. etwas worüber er eigentlich nicht sprechen — was er nicht begreifen — kann, das er aber dennoch benennt? Was für einen Sinn hat die Rede von 'Grenze', worauf Becker hinweist? 

Ich denke in diesem Zusammenhang an Jacques Derridas Apories . Mourir — s'attendre aux 'limites de la vérité' (18). Wir sprachen ja auch von den Grenzen von Punkten und Linien. Wir haben dabei stets mit Raum und Zeit zu tun. Heidegger nennt sogar das Mensch-sein von seiner Grenze her als "Sein-zum-Tode". Wird da der Tod 'verstanden', indem er zur Sprache gebracht wird? Derrida thematisiert auch in diesem Zusammenhang die Frage des Wartens und Erwartens, der "Sorge" also, ein klassisches jüdisch-christliches Thema (ebd. S. 139). 

Wir sprechen auch vom 'Zeitpunkt' des Todes, was juristisch und medizinisch zum Beispiel in Zusammenhang mit Spenderorganen wichtig ist. Für Heidegger gehört die Vorstellung von Zeitpunkten, die 'Jetztzeit', zum 'vulgären' Zeitbegriff von dem sich die ursprüngliche Zeitigung des Existierens abhebt. Letztere bezieht sich auf das Zusammengehören der drei "Zeitekstasen" (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Der späte Heidegger bedenkt sogar dieses Zusammengehören im Sinne einer vierten Dimension der Zeit. Daraus läßt sich schließen, dass die 'eigentliche' Zeit einen Raumcharakter hat oder, anders ausgedrückt, dass die 'Zeitpunkte' zwar abstrakt oder 'gesetzt' sind, aber durch diese Setzung den ursprünglichen 'Ort', das Dasein, nicht mehr erblickt wird. Dadurch können wir sie zählen und zum Beispiel Uhren bauen. Die Uhren zählen dann die Zeit und bringen den Tod, wie in antiken Uhren sichtbar, mit einem Punkt zusammen. Die Grenze des Todes wird dadurch nicht begriffen aber berechenbar. Mit dem Zählen der Zeit werden die Zahlen auf einen Ort (in einer Uhr) festgelegt. Daraus entsteht ein neues Gefüge zwischen Zeit, Punkt, Zahl und Ort, in dem die Punkte verzeitlicht und die Zahlen verortet werden. Mir scheint dieses Gefüge wesentlich für die Konstruktion von Maschinen — zunächst Uhren, dann Computer —, die nach diesem Prinzip funktionieren. Dem Geviert von Zeit-Ort-Punkt-Zahl entspricht das Geviert Tod-Leben-Logos-Eidos und immer bedenken wir dabei ihr eigenes 'Sein': Tod-sein, Am-Leben-sein, So-und-so-sein und So-und-so-verstanden-sein. Zum Todesbegriff (eigentlich ist das ein Oxymoron!) gehört dann auch 'Materie', so wie zu Leben auch 'lebendige Materie' gehört. Aber das sind metaphysische Begriffe: Sie kennzeichnen nur ein Problem. Wir können aus der jeweiligen Perspektive die anderen Seinsweisen erblicken aber dadurch verzerren wir sie auch aufgrund der Perspektive. 

 

6. DIGITALE WELTVERNETZUNG UND KAPITAL


Zu Beginn von Das Kapital im ersten Kapitel "Die Ware" schreibt Marx: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware." (19) Jetzt müssen wir diesen Satz folgendermaßen umformulieren: Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen die digitale Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Informationssammlung, die einzelne Information als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Information. Die Information ist aber — ich ändere den folgenden Text von Marx — kein äußerer Gegenstand, kein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt, sondern Information ist ein Prädikat zweiter Ordnung. Menschliche Informationsbedürfnisse werden nicht durch die Eigenschaft eines äußeren Dinges genannt Information befriedigt, sondern ein Ding mit Eigenschaften tritt erst in ein Informationsverhältnis ein, wenn es in einem (digitalen) Wertzusammenhang erfaßt wird. 

Das Eigentümliche dieses Verhältnisses liegt darin, dass auch wir prima facie sagen, dass ein ‘objektiver’ Informationsbedarf oder ein subjektives Informationsbedürfnis befriedigt wird, in Wahrheit dieser Bedarf/dieses Bedürfnis ins Unermeßliche steigt, denn wir können nie genug/ausreichend informiert (und in-formiert) sein. Warum nicht? Weil die Situationen, in denen wir die Dinge in ein Informationsverhältnis bringen können (oder in denen sie erscheinen können), im wahrsten Sinne des Wortes un-endlich sind. Lediglich der Tod stellt eine (für uns) nicht überschreitbare Grenze der In-formation dar. Das Wertsein läßt sich nicht allein und ausschließlich durch den Bezug auf seine Herstellbarkeit durch den Menschen ausmessen, sondern hat eine Eigendynamik, weil wir, in der Sprache der Systemtheorie ausgedrückt, keine Beobachterstelle außerhalb des Systems besitzen: Jede Beobachtung ist eine Bewertung, die im selben Augenblick (wie bei der Quantenmechanik) den Wert des Beobachteten ändert. Wenn dies auch von anderen Beobachtern/Bewertern getan wird, dann ist es buchstäblich unmöglich, mich überall bei mir und bei den anderen zu befinden. Einen absoluten Beobachter der alle Werte in sich vereint, scheint es nicht zu geben. Die Dinge haben also letztlich einen unfaßbaren Wert. Unter einer eingeschränkten ökonomischen Perspektive und bezogen auf das Wissen gilt aber insofern die Marxsche Analyse als nur jenes Wissen wertvoll ist, dass zur Steigerung des Kapitals beiträgt und somit gewinn-bringend ist, der Maßstab des Wissens ist nicht die Wahrheit, sondern der Gewinn, dies nicht kulturkritisch gemeint, sondern im Sinne dessen, was Wissen aus der Perspektive des Wertes ist, damit geht ineins die Veränderung der Wissensinstitutionen, -vermittlungen etc. Der gierige Mensch ist deshalb gierig, weil er sich dem un-endlichen Drang der Mittel aussetzt und er tut dies, weil er ein unbegrenztes Verlangen nach Leben, Genuß und eben auch nach Wissen ist. 

Wenn die Digitalisierung zu einem Entbergungsmodus des Seienden im Ganzen wird und wir dann mit Recht von einer ‘digitalen Ontologie’ sprechen können, dann erscheinen alle ‘Regionen’ oder ‘Sphären’ des Seienden als digital-seiend. So sprechen wir jetzt von E-Commerce und E-conomy, aber auch von virtuellen Hochschulen, virtuellen Gemeinschaften, Internet-Demokratie, digitalen Bibliotheken, usw. Wie ist das Verhältnis zwischen den Zahlen und dem Kapital? Wodurch wird das Kapital konstituiert? Bedarf das Kapital auch eines homogenen Mediums wie die Zahlen? 

Dazu gehört die schon angesprochene Qualität der Verselbständigung bei technischen Produkten. Die digitale Weltvernetzung ist aber eine hybride Erscheinung, die zugleich selbständig und unselbständig ist. Das macht sie auch so schillernd, menschenfreundlich oder -ähnlich und fetischartig zugleich. "Fetischismus" kommt vermutlich vom Portugiesischen feitiço, was so viel bedeutet wie "Zaubermittel", wörtlich "Nachgemachtes, künstlich Zurechtgemachtes" sowie dann "mit magischer Kraft erfüllter Gegenstand, Götzenbild" (DUDEN). Eigentlich gehört Eigenleben dem Natürlichen, der physis also. 

Eine Kategorie wie Warenbesitzer ist nicht eins zu eins übertragbar auf Informationsbesitzer. Der Austausch von Informationen und der Austausch von Waren sind nicht gleichwertig. Die Zirkulation von Information und die Warenzirkulation schaffen nicht dieselbe Art von Wert, weil sie ja nicht menschliche Bedürfnisse im selben Maße ‘befriedigen’. Geldfetisch und Warenfetisch entstehen dadurch, daß Dinge außer Kontrolle des "gesellschaftlichen Produktionsprozesses" geraten (Marx Das Kapital a.a.O. Band 1, 1. Kap.). Ausgerechnet das abstrakte Medium Geld ist "nur das sichtbar gewordene, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs." (ebd.) Menschliche Arbeit ist aber nur eine (mögliche) Form von In-Formation und sie wird heute im Rahmen des Digitalen vollzogen. Das verändert aber die ganze Marxsche Analyse von Grund auf. Marx schreibt, daß der Fetischcharakter der Waren dadurch entsteht, daß diese als selbständig (also als Waren) erscheinen, obwohl sie (bloß) ein Produkt gesellschaftlicher Arbeit sind. "Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt." (ebd.). Nicht nur die In-formationsprozesse der (natürlichen) Dinge untereinander (die Evolution also), sondern ebensosehr die menschlichen und ganz besonders die digitalisierten Informationsprozesse setzen in tar Tat unabsehbare ‘phantasmagorische’ Prozesse in Gang, welche aus der Sicht der Warenwelt im Sinne von materiellen Arbeitsprodukten nur geahnt werden können, oder, "um eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten." (ebd.) Die Nebelregion ist jetzt die der materiellen Welt, und die Warenform im Sinne des Wertverhältnisses der Arbeitsprodukte ist bloß ein Derivat der In-formation. Wir müssen, mit anderen Worten, Marx und das Kapital auf die Füsse der Information stellen. Der Ansammlung von Geld im Kapital folgt heute die Vernetzung von Information. 

Für Massimo Negrotti gehört zur Künstlichkeit die Nachahmung eines Originals — das auch wiederum etwas Künstliches sein kann — wenn in seinen Funktionen und/oder im Substrat etwas verändert wird (20). Laut Negrotti müssen wir immer bestimmte Perspektiven gegenüber dem Original einnehmen, d.h. wir können nicht gleichzeitig das Original insgesamt wiedergeben. Dadurch verursachen wir einen Unterschied, der die Künstlichkeit des Hergestellten gegenüber dem Original ausmacht. Die Nachahmung kann sich entweder auf die natürliche Wiedergabe des Originals oder auch auf einer abstrakten oder instrumentellen Ebene abspielen, ja letztere kann rein rational entstehen, wenn bestimmte Funktionen durch Maschinen ausgeführt werden sollen. Außer der "künstlichen Technologie" sind wir aber auch in der Lage "konventionelle Technologie" herzustellen, deren Ursprung nicht in der Nachahmung eines Originals, sondern in der persönlichen Welt bzw. im Vorverständnis oder im "taciten" Wissen (M. Polanyi) des Autors/Herstellers liegt. 

Dementsprechend unterscheidet Negrotti zwischen "Naturoiden" und "Technoiden" und entwirft eine kulturgeschichtliche Entwicklung zwischen diesen beiden Polen. So wäre zum Beispiel in der Antike die Nachahmung (mimesis) an die Natur orientiert, während zur Zeit des Rationalismus bestimmte Maschinen nach bloßen zweckrationalen oder instrumentellen Kriterien entwickelt wurden. In diesem Fall spricht Negrotti von "konventioneller Technologie". Künstliche Maschinen sind aufgrund ihres naturoiden Charakters naturgemäß benutzerfreundlicher. Auch eine rein rationale Technik wie die Computertechnik sucht nach freundlichen Benutzerschnittstellen. Die Welt des Digitalen entspringt zunächst dem rein Rationalen und ist keine künstliche Technik im Sinne Negrottis. Erst wenn sie in Zusammenhang mit einem Original gebraucht wird, wird sie zu einer Technologie des Künstlichen. Wenn aber die gesamte Realität in all ihren Dimensionen, das Seiende im Ganzen also, als Original anvisiert wird, dann haben wir als Ergebnis eine digitale Ontologie, oder, genauer gesagt, eine Ontologie des Künstlichen. 

So gesehen hängen Fetischisierung und Künstlichkeit nicht zusammen, wie die Wortherkunft es andeutet. Auch die Verselbständigung eines künstlich Hergestellten gegenüber dem Hersteller ist eine bestimmte Form von Künstlichkeit. Für Negrotti haben nur natürliche Gegenstände und Maschinen der konventionellen Technologie einen autonomen Status, denn sie bestimmen sich nicht durch ihren Bezug auf ein anderes. Das ist aber bei künstlichen Maschinen wesentlich. Fetischisierung hängt mit der Selbständigkeit der konventionellen Technik zusammen. Man könnte lediglich sagen, dass die Arten der Selbständigkeit bei natürlichen Gegenständen und bei konventionellen Maschinen unterschiedlich ist und dass dieser Unterschied in der Fähigkeit der Fortpflanzung besteht. Wenn also konventionelle Technologie — wodurch auch immer — eine Eigendynamik der Fortpflanzung erhält, die zu nicht vorhergesehenen Zielen und Nebenwirkungen führt, dann haben wir mit einer nicht beabsichtigten Entwicklung zu tun, die dem Wesen der konventionellen Technik widerspricht. Beim Künstlichen wäre aber eine solche Erscheinungsweise durchaus 'natürlich', d.h. beabsichtigt. 

Negrotti sieht das so: 

"In this sense we can easily understand, without approving of all their views, the sceptical of (sic!) negative reactions that bring together many philosophical traditions which are very different from each other. These include such authors as Hegel, Whitehead, Heidegger and Habermas. Despite such a good premise, one of the worst consequences of these traditions has been to prevent a part of mankind from understanding not only the interest and beauty of conventional technology as such, that is to say a genuine creation of reason, but also of understanding the deep difference between conventional technology and the technology of the artificial, and man's likewise different and illuminating connections with human nature." (Negrotti, a.a.O. S. 34) Die erste Phase der Globalisierung war, in Negrottis Terminologie, durch eine nachahmende Technik bestimmt. Die Globalisierung war insofern eine künstliche, als sie die natürlichen Formen der Globalisierung und ihre 'Instrumente' nachahmte. So also zum Beispiel ein Segelschiff, das die Erdumrundung von Fischen oder Vögeln 'kunstvoll' also techne-haft nachahmt. Die zweite Phase in Europa ist die der konventionellen Technik, aus der sich die Entwicklung des Computers herleitet. Diese mündet aber in eine Form, die die 'natürlichen' Gespräche zwischen den Menschen nachahmt. Das tat zwar schon die Schrift und später der Buchdruck in unterschiedlicher Weise, jetzt aber dient dazu das digitale Medium. Wir hätten also zunächst mit einer künstlichen Globalisierung, dann mit einer technischen und jetzt mit einer künstlichen-technischen zu tun. 

Es ist dieser Entfernungen abschaffende, Zeitdifferenz einebnende Seinsentwurf, der durch die digitale Technik die Welt als ein einheitlicher Globus erst ermöglicht. In der Ent-sprechung zum digitalen Entwurf werden wir, die Menschen, gezwungen, mit der neuen Weltöffnung mitzulaufen. Zugleich sind wir aber wir selbst, die diese Entwicklung herbeischaffen, auch wenn wir dann uns den Gesetzmäßigkeiten des Geschaffenen unterstellen müssen. Dazu gehört die schon angesprochene Qualität der Verselbständigung bei technischen Produkten. Die digitale Weltvernetzung ist aber eine hybride Erscheinung, die zugleich künstlich und technisch, also selbständig und unselbständig ist. Das macht sie auch schillernd, menschenfreundlich oder menschenähnlich und fetisch-artig zugleich. Dieser arithmologische Entwurf hat also eine doppelte Herkunft: Auf der einen Seite ist er, sofern er rein mathematisch ist, eine rein technische Produktion des menschlichen Geistes, ohne Bezug zu etwas Vorhergehendem oder zu einem Original, auf der anderen Seite aber stellen wir künstliche Zusammenhänge zu einzelnen Seienden, ja zum Seienden im Ganzen her so dass die Digitalisierung einen ontologischen Rang erhält. Wir leben dann mitten in einer digitalen Welt, die zugleich arithmetisch oder "technologisch" und "künstlich" ist, in Negrottis Terminologie. 

Negrotti sieht die verschiedenen Phasen der Technikentwicklung, eine nachahmende oder "künstliche" Technik in der Antike, eine "konventionelle Technik" in der Neuzeit, eine gemischte Form von Technik heute, als weder geplante noch planbare Entwicklung. Kreativität liegt für Negrotti darin, dass implizites Wissen sich allmählich den Weg in die gemeinsame Welt bahnt, also 'ent-borgen' und so mit anderen geteilt wird. Negrotti schreibt: 

"In fact, personal meanings, or, on a different level, tacit or personal knowledge (Polanyi, 1966) are the original objects that belong to the subjective context and, therefore, can be reproduced in a sharable way only if their bearer succeeds in making them visible as if they were, so to say, objects of the external world. This explains the frequent, though often illusory, use of the analogy by which someone who does not know the object at the centre of someone else's discourse tries to build a reliable representation of the matter. 
The aim of this book is to put forward a theory of what it means to build an artificial object or machine when human beings are not intentionally looking for radically new realities but are, on the contrary, trying to reproduce something which potentially everybody sees, or something they perceive in their own internal 'landscape', which they wish to share with other people." (Negrotti, a.a.O. S. 17)
In diesem Sinne sehen die Wirtschaftswissenschaftler Nonaka und Takeuchi den Prozess der Schaffung neuen Wissens in einem Unternehmen wesentlich durch Metaphern und Analogien sowie durch das Explizitmachen 'impliziten Wissens' (tacit knowledge) ermöglicht (21)

Warum also die negative Kritik im Hinblick auf die Verselbständigung? Liegt nicht hier bei Marx implizit der Gedanke des Verlusts menschlicher Kontrolle, also die Gefahr des Inhumanen in bezug auf ein menschliches Produkt, das Kapital, das rein zweckrationalen Charakters ist? Wenn aber das Kapital nicht zu den künstlichen, sondern zu den konventionellen Technologien gehört, ist diese Verselbständigung 'natürlich'. Es besteht das Problem, dass die so beschaffene Technik, 'übers Ziel hinaus' geht und sich in diesem Sinne (!) 'verselbständigt', d.h. die rational vorgesehene Teleologie verläßt. Sie wird so zu einem merkwürdigen Gebilde: Es ist rational gedacht, verhält sich aber wie die Naturprozesse, die zwar teleologisch erscheinen, ohne aber den Sinn ihres Daseins preiszugeben. Diese Lage ist nur dann paradox, wenn wir diejenigen sind, die eine solche Erscheinung hervorbringen und dabei zugleich die Kontrolle über sie verlieren. Das Ding wird dann zum - Fetisch, oder sollen wir vielleicht sagen: zum Geschick? 

Dieses Geschick ist nichts Schicksalhaftes im Sinne einer fremden Macht, die über unsere Geschicke entscheiden würde, sondern wohl der von uns nie völlig durchschaubare und steuerbare, zuweilen sprunghafte Verlauf, keine behagliche Ent-wicklung also, unserer Entbergung von Welt, d.h. der verschiedenen Weisen, wie wir den Phänomenen begegnen können und sie ansprechen bzw. wie wir uns von ihnen ansprechen lassen können. Selbstbewegung ist das, was die moderne Biologie mit dem Begriff der Selbstorganisation teilweise meint. Es handelt sich nicht um eine Quasisubjektivität, sondern es sind die vielfältigen Möglichkeiten der Wechselwirkung der Teile, die die Bewegung des Ganzen (holon) unberechenbar machen. Dabei nützt wenig, dass im Grunde die Komplexität dieser Wechselwirkung nur auf z.B. zwei Bausteinen (0/1) beruht. 

In seiner Arbeit zum Wertbegriff bei Heidegger erläutert Carlos Gutiérrez den Unterschied zwischen der englischen (Adam Smith) und der deutschen Werttradition (22). Während die englische Schule Wert in einem objektiven Sinne, als "Quantität der Arbeit" bestimmt, geht die von Kant beeinflußte Denktradition von Wertsetzung durch das autonome Subjekt, das wiederum einen absoluten Wert bzw. Würde besitzt, was aber im gewissen Sinne eine zirkelhafte Argumentation darstellt und in der Ethik zur Absolutsetzung dieses einen Wertes führt. Sowohl der frühe Hegel als auch Heidegger haben sich deshalb um eine Rückführung der Ethik auf das frühgriechische ethos (ethos mit epsilon  = Gewohnheit bzw. ethos mit etha =  Charakter) bemüht. Dadurch werden Handlungen nicht mit einem absoluten Ideal im Rahmen intersubjektiver Verständigung verglichen, sondern in ihrer eigenen Finalität gesehen (Gutiérrez, a.a.O. S. 34). Das Kantische Reich der Endzwecke wird dann bei Rickert zum Reich der Werte, die Erkenntnistheorie wird zur Wertlehre. Die Kälte der Kantischen Philosophie wird im Laufe des 19. Jahrhunderts — zum Beispiel bei H. Lotze mit dessen Werk Heidegger vertraut war —, durch den Bezug auf das Gefühl kompensiert. 

Heideggers frühe Schriften zeugen von dieser Herkunft, so zum Beispiel seine Überlegungen zum Geltungsbegriff. Erst mit dem Durchbruch in Sein und Zeit stellt sich die Wertfrage ganz anders, nämlich in bezug auf den praktischen Umgang mit den Dingen. Der "Wert" der Dinge hängt mit dem praktischen Gebrauch, den wir von ihnen machen, zusammen. Die Geschichte der Metaphysik ist die Geschichte der Verselbständigung von Sein als Anwesenheit, dessen Anfang die platonische Ideenlehre darstellt. Heideggers Kritik des Wertbegriffs ist also metaphysisch und zielt auf die Infragestellung dieser Verselbständigung, die dem zeitlichen und endlichen Charakter menschlichen Lebens, des "Daseins" also, nicht entspricht. Wir können von einer Fetischisierung des Sollens sprechen, so wie sie Marx in bezug auf das Kapital ankreidet. Die Schaffung einer Sphäre der absoluten Werte entsteht aber nicht aus der Nachahmung eines 'Originals', sondern sie wird rein rational postuliert, hat also eher den Charakter eines Kunstwerkes. Die rationale Begründung einer solchen Sphäre kann sich somit letztlich nur 'im Kreise drehen', denn sobald sie das In-der-Welt-sein berührt, verliert sich ihre Aura und wird zum 'ethos'. Darin liegt also eigentlich Heideggers Kritik. 

Wenn bei Rickert Kants "kopernikanische Wendung" so verstanden wird, dass das menschliche Leben sich nicht um die Realität, sondern um Werte dreht, dreht sich für Heidegger dieses Denken letztlich um den Willen der wertsetzenden Subjektivität, wie sie Nietzsche postuliert (C. Gutiérrez, a.a.O. S. 108 ff.). Menschliches Leben ist aber für Heidegger primär weltentwerfend und nicht wertsetzend. Erst aus den so oder so ausgerichteten Weltbezügen können wir die Offenheit und Vorläufigkeit des Lebens 'wahr-nehmen'. Das Gegenteil ist aber der Fall, wenn wir uns hinter den Werten verschanzen und in deren "trüben Gewässern" fischen, wie Heidegger 1935 in einer berühmt-berüchtigten Passage seiner "Einführung in die Metaphsysik" (S. 152) in bezug auf die "nationalsozialistische Philosophie" bemerkte. Daraus ergibt sich freilich das Problem, sich für eine Sache zu engagieren, deren Entwicklungsmöglichkeiten offen, die aber nicht dadurch weniger "trübe" sind. Natürlich widerlegt der "Fall Heidegger" keineswegs die Spannung menschlichen Lebens, das sich zwar mit Hilfe von Werten schützen kann, letztlich aber das Leben selbst unter das Diktat der Ökonomie und der Vergleichbarkeit aller Werte stellt. Der ethische Konsequentialismus zieht daraus alle Konsequenzen, die durch den Wegfall der metaphysischen Wertlehre möglich sind. Der Ruf nach einem stabilen Wertekanon wird dann bald laut und wir sind dort angekommen, von wo aus wir gestartet sind. 

Wir könnten aber weniger von der Unübersichtlichkeit als von der Unberechenbarkeit der binären Differenz sprechen. Komplexität und Einfachheit widersprechen sich nicht. Die Seinsfrage ist damit nicht direkt gestellt, aber wir können sie zumindest teilweise in die Sprache der Wissenschaft über-setzen (auf die Gefahr hin, sie zu verfälschen). Natürlich sind Komplexität und System Seinsweisen oder Weisen wie das, was ist, sich zeigt. 

Die Zirkulation des Kapitals ist aber auch denkbar einfach. Sie beruht nämlich auf dem wertenden Entwurf des Seins, der zwar seine Ursprünge in der griechischen Metaphysik hat, aber erst in Europa im 19. Jh. voll zur vollen Entfaltung kommt. Das verschaffte damals nicht weniger Unruhe als heute die digitale Ontologie. Beunruhigend sind also nicht die Seinsentwürfe selbst und ihre Unberechenbarkeit, sondern daß wir immer noch nicht gelernt haben, mit ihnen umzugehen, also zu denken. Hier liegt die Falle des Humanismus: Nicht dass der Mensch tot wäre, oder dass wir keine Moral mehr hätten (stimmt ja teilweise), sondern dass die Antwort auf die Ontologie der Bestellbarkeit kaum aus der Metaphysik des Humanismus kommen kann, denn diese ist wiederum eine Antwort auf einen ganz anderen Seinsentwurf und Seinsruf. Bei Heidegger klingt das zum Teil kulturkritisch, aber es klingt nur so, solange wir nicht lernen, der Sache gewachsen zu sein. Dies wird aber wiederum nur verstanden mit Rückgriff auf die vergangenen Antworten auf vergangene Seinsentwürfe. Seinsentwürfe laufen immer auf nichts hinaus, denn es gibt nichts außer dem Seienden, das Sein ist ja nichts außer dem Sich-geben selbst. Dass es aber ein Sichgeben gibt, läßt sich nicht wiederum vom Seienden her denken. Der Wille zum Willen bedeutet die Bewegtheit um der Bewegtheit willen, ohne Warum und ohne Ziel. Diese Form des Seins ist uns offenbar un-heimlich und deshalb suchen wir nach einem Prinzip, anstatt sie sein zu lassen, als was sie ist. 

Die Rede von der Verselbständigung der Kapital- und Informations-zirkulation kann ins Metaphysische (hypokeimenon) abdriften. Gemeint ist aber nicht eine uns gegenüberliegende oder zugrundeliegende Substanz, welcher Art auch immer, sondern gerade die Infragestellung von sub-stantiellen Verhältnissen. Das Bleibende, um es paradox zu sagen, sind nicht die Sub-jekte, sondern die nicht voraussagbaren unberechenbaren Ereignisse und ihr Anrufcharakter. Vielleicht ist die Verselbständigung so zu verstehen, daß uns gewisse Phänomene, die von uns her-gestellt werden, einen eigenen Anrufcharakter bekommen. Wir glauben dann, sie wären etwas Selbständiges und/oder versuchen sie zu entzaubern, bis wir aber endlich entdecken, dass dies keine Entfremdung bedeutet, sondern dass alles, was ist, uns als solches anzusprechen vermag. Wir aber tendieren dazu, zumindest verstärkt seit der Neuzeit, uns selbst diese Möglichkeit des Anrufens allein zuzubilligen. Wir sind aber als Dasein ein angeletisches Medium. Dass wir Sein als Botschaft vernehmen, ist wohl die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass wir auf mögliche Vor-würfe des Seins mit unseren Ent-würfen antworten. Vielleicht liegt hier auch das Problem des Ansprechens und Angesprochenwerdens von Kreisläufen. Ich denke dabei an den ‘hermeneutischen Zirkel’ und frage mich, ob dieses Modell nicht auch auf den Kreislauf des Kapitals angewandt werden kann. Anders ausgedrückt: Ob die Wirtschaftswissenschaften versuchen, den Kreislauf des Kapitals von außen oder ‘objektiv’ zu erfassen, während: "Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen." (Heidegger, Sein und Zeit a.a.O. S.153) 

Die "rechte Weise" meint wohl eine, die den Fetischcharakter eines eigenständigen Kreislaufs nicht dadurch entzaubert, dass ein Subjekt sich als Grundlage dieses Phänomens auslegt und den Kreislauf auf sich zurückführt, sondern dass ein Kreislauf als ein Angebot von Sinn- (und Un-Sinn-)Möglichkeiten ‘wahr-genommen’ wird, so daß es zu einer Bewegung von Verstehen, Auslegung und Bildung eines (neuen) Vorverständnisses kommt. Übersetzt in ökonomische Kreisläufe heißt das, dass der Wert einer Ware nicht auf eine letzte ‘Aussage’ (z.B. an der Börse, am Wochenmarkt) zurückgeführt werden kann, sondern daß eine solche Prädikation und ihre Mitteilung das Ergebnis einer Aneignung ist, die immer auf unentfaltete Möglichkeiten (ich meine ‘Anrufsmöglichkeiten’) der Waren beruht. 

Es ist für die Ökonomie schwer, den Wert von Waren unter dem Blickpunkt eines abgründigen Spiels aufzufassen. Unser ökonomisches Denken ist vorwiegend darauf ausgerichtet, (gute) Gründe für den Wert von Waren anzugeben. Dennoch staunen wir ständig darüber, wieviel Psychologie in der Ökonomie steckt. Wenn wir also den Wertbegriff in diesem abgründigen Sinnhorizont bedenken, betreten wir Grenzland.  Heidegger spricht in Sein und Zeit über die Wissenschaft von der Wirtschaft im Zusammenhang mit dem Umschlagen von Zuhandenheit in Vorhandenheit: 

"Überdies kann doch auch Zuhandenes zum Thema wissenschaftlicher Untersuchung und Bestimmung gemacht werden, zum Beispiel bei der Erforschung einer Umwelt, des Milieus im Zusammenhang einer historischen Biographie. Der alltäglich zuhandene Zeugzusammenhang, seine geschichtliche Entstehung, Verwertung, seine faktische Rolle im Dasein ist Gegenstand der Wissenschaft von der Wirtschaft. Das Zuhandene braucht seinen Zeugcharakter nicht zu verlieren, um ‘Objekt’ einer Wissenschaft werden zu können. Die Modifikation des Seinsverständnisses scheint nicht notwendig konstitutiv zu sein für die Genesis des theoretischen Verhaltens ‘zu den Dingen’. Gewiß — wenn Modifikation besagen soll: Wechsel der im Verstehen verstandenen Seinsart des vorliegenden Seienden. (Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O. S.361). Nicht also die Seinsart des vorliegenden Seienden wird durch das Umschlagen verändert, sondern die Seinsart des Daseins. Also auch die Wissenschaft von der Wirtschaft setzt ein Umschlagen der Seinsart des Daseins voraus (andere Wissenschaften, wie z.B. die Physik, modifizieren auch die Seinsart ihrer Objekte). So ist also die Wirtschaftswissenschaft in ihrem (bisherigen) Entwurf auf das Zuhandensein der Dinge angewiesen bzw. diese vorgängig erschlossen.

Heidegger erörtert die Frage nach dem Wert im Zusammenhang mit seiner Nietzsche-Auslegung. Es wäre aber jetzt die Frage, ob dieser vorgängige Entwurf durch die Digitalisierung der Wirtschaft nicht grundlegend verändert wird, ähnlich der Veränderung der newtonschen Physik gegenüber der, sagen wir, aristotelischen Physik. So wird also jetzt das Seiende der Wirtschaft im vorgängigen Entwurf der digitalen Seinsverfassung entworfen.

7. GELD UND GIER


Was ist Geld? Ich meine diese Frage nicht in einem essentialistischen Sinne, oder etwa im Sinne einer "Philosophie des Geldes" (G. Simmel), sondern in bezug auf die wechselnde Seinsweise wie Geld entworfen wird. Marx betonte den Bezug des Geldes zur menschlichen Arbeit, und die Entfremdung der Arbeit (des Arbeiters) durch die Nicht-Rückführung der verdinglichten Arbeit an den lebendig tätigen Arbeiter. Dies scheint sich jetzt nicht nur zu verschärfen, sondern sich in eine ganz andere Seinsweise zu verdrehen, denn auch wenn Geld in Form des Kapitals einen Bezug zur Arbeit hat, scheint mir, dass diese Begriffe (und damit meine ich die Sachen selbst) nicht weniger einer Verwandlung unterzogen sind, als dies auch schon in der Geschichte des Geldes der Fall gewesen ist. Die Seinsgeschichte ist so in gewisser Weise eine Geldgeschichte, und das Geld ist die Masche, worunter wir alles betrachten, was ist oder wodurch wir etwas sein lassen. Ich fasse den Tausch nicht in Zusammenhang mit dem Marxschen Tauschwert, sondern im Sinne eines formalen Prozesses, also prozedural, auf. 

Bedeutet die Betrachtungsweise von allem unter dem seinlassenden Blickpunkt des Geldes, dass die Digitalisierung des Geldes bzw. das Digitale als Geld so etwas wie ein allgemeines Medium ist, wo Sein sich anders ent-birgt? Denn auch wenn wir z.B. einen Satelliten ins All schicken oder Beobachtungen von entfernten Galaxien etc. machen, oder die subatomare Welt erforschen, werden wir von der Form des Digitalen, ‘in-Form’ des Geldes geleitet, oder anders ausgedrückt, Geld ist das Medium, worin wir unsere Möglichkeiten und Grenzen er-messen. Unterscheidet uns also Geld etwa von den sonstigen Möglichkeiten des Tierseins? Sind wir businessmen in einem ontologischen Sinne? 

Wir könnten den Grund-Satz einer digitalen Ökonomie auch so formulieren: Nihil est sine fortuna - Nichts ist wertlos, in Anklang an das Leibnizsche principium grande: Nihil est sine ratione - Nichts ist ohne Grund. Dies bedeutet auf den ersten Blick, daß alles (s)einen Wert hat, aber auch, daß Werte ohne Grund sind, denn ein solcher (letzter) Grund wäre wieder ein Wert, der wiederum nach einem Grund verlangen würde usw. Das Geld-haben ist in der Tat eine Dimension unseres Möglich-seins. Ähnlich wie mit der Technik hat alles den Schein, als ob es sich dabei um ein Instrument handeln würde, aber diese instrumentalistische Sicht des Geldes verbirgt die eigentliche ontologische Herausforderung. Wir sind als Menschheit dem Horizont des Geldes (noch) nicht gewachsen. Wenn wir dann auch noch bedenken, daß die Form des Geldes mit der Form des Wissens (und somit mit der In-Formation) in Wechselwirkung steht, dann wird die Sache immer spannender, denn, dass wir ein 'zoon logon echon' sind, das wissen wir schon lange, aber dass der logos uns jetzt in der Form der digitalen Ökonomie hat (und nicht umgekehrt), das dämmert erst allmählich, jenseits einer kurzsichtigen ‘Moral’. 

Wenn wir genauer überlegen, dann zeigt sich, dass unsere Begierde (nach Geld) nur die Kehrseite dessen sein kann, was von sich aus un-ermeßlich ist. Geld ist ein Ausdruck für dieses Unermeßliche in dem Sinne, daß es ein Horizont für alles Messen ist, wonach die Dinge über ihre qualitativen (wesensmäßigen) Unterschiede hinaus gleich sind. Geld ist also das uns zugängliche, grund-lose Wert-Maß für alles, was ist, wenn wir die Dinge (die natürlichen und die künstlichen, hergestellten = die Waren) außerhalb der Zusammenhänge sehen, in denen sie sind. Es ist also kein Wunder, dass ausgerechnet, wenn alle Dinge aus dem Blickpunkt ihres natürlichen Standortes herausfallen und im allgemeinen elektronisch-digitalen Medium zum Erscheinen oder ins Sein kommen, dass sie dann nicht nur unter dem abstrakten wert-losen Gesichtspunkt des 'arithmos' oder genauer der 'monas' gezählt werden können, sondern dass dieses zugleich zum Wert-Maß wird. 

Damit treten die Waren endgültig aus dem ausschließlichen Horizont der menschlichen Arbeit (Marx) heraus oder besser gesagt: menschliche Arbeit ist nicht (mehr) der allein preis/wert-gebende Horizont, von wo aus die Dinge in ihrem Sein/Wert gemessen werden können. Wird aber dadurch die Selbständigkeit des Geldes aufgehoben? Oder handelt es sich um unser Verhältnis zum Selbständigen? Und gilt dann ein solches Verhältnis generell gegenüber allem Selbständigen? Und schließlich, wie soll sich dieser Schritt im globalen und lokalen Handeln vollziehen? 

Unsere Gier ist eine bestimmte Art und Weise wie wir uns im Kreis oder im hermeneutischen Zirkel eines Selbstverständnisses bewegen. Auch die Neugier gehört dazu. Ich meine, dass wir diese Begriffe (oder besser: diese Verhaltensweisen) nicht vorschnell mit moralischen Kategorien verwechseln oder behaften sollten. Die Moral versucht bestimmte Aussagen dingfest zu machen, den Kreislauf also vorläufig anzuhalten. Dieser Mechanismus ist zwar notwendig, denn er erlaubt uns, ähnlich wie in der Wissenschaft, innerhalb eines ausdrücklichen Entwurfs von Regeln und Normen zu leben. Zugleich aber verdeckt jede Moral den anhaltenden ‘Anruf’ der Dinge in ihren wechselnden und nicht offenbarten Bezügen und Potentialitäten. So gesehen ist unsere Gier eine Entsprechung gegenüber der Maßlosigkeit des Seins selbst. Wir aber sind in der Weise, die eine solche Maßlosigkeit nur bedingt, d.h. durch die Dinge hindurch, ‘wahr-nehmen’, so daß der ethische Maßstab so lauten könnte, dass wir uns gegen unbedingte Ansprüche zu wehren haben, seien diese politischer, ökonomischer, künstlerischer... Art. Um es in einer konventionellen Sprache auszudrücken: Unsere "Würde" besteht darin, daß wir das Unbedingte nur im Bedingten ‘wahr-nehmen’ können. Wir können uns auf die verschiedenen Kreisläufe nur so einlassen, dass in diesen von uns nie völlig durchschaubaren und steuerbaren Entbergungweisen die Phänomene begegnen und wir uns von ihnen ansprechen lassen und somit auch kreativ sein können. Die angeletische Dimension in der Ökonomie ist die Werbung. Diese Dimension ist wesentlich für das Zustandekommen der Waren-, Kapital- und Informationszirkulation. Wir können durch eine Wertethik das "gierige Menschenwesen" nicht einschränken. Sowohl die Gier als auch die Dinge sind ambivalent und nur in ihrem Zusammenspiel zeichnet sich eine Grenze ab, die sowohl der Unermeßlichkeit der Gier als auch der Festlegung einer bedingten Aussage gerecht werden kann. Mit anderen Worten, ohne den Drang zum Unermeßlichen, aber auch ohne die Wahrnehmung der Dinge und unserer Be-dingtheit durch sie verlieren wir das Maß für das, was uns jeweils und überhaupt wert-voll sein kann. 

Offenbar handeln wir aufgrund unserer Seinsbedürftigkeit, was Thomas von Aquin "agere propter indigentiam" nennt (Summa Theologica I 44, 4, ad 1) Für Thomas ist Gott das Ziel unseres "desiderium naturale". Gott ist aber unendlich. An einer anderen Stelle (Summa Theologica II, 2, 77, 4) unterscheidet er zwischen zwei Formen des Tausches ("commutatio"), eine, die er natürlich und notwendig nennt, den Tausch Ding gegen Ding ("commutatio rei ad rem") und eine andere: Geld gegen Geld ("denariorum ad denarios"), die den Profit ("lucrum") anstrebt. Diese dient der Profitgier ("servit cupiditati lucri") und kennt kein Ende, sondern strebt nach Unendlichkeit ("quae terminum nescit, sed in infinitum tendit"). Sie kennt zwar weder einen "finem honestum" noch einen "vitiosum", kann aber zum Guten gelenkt werden. Thomas bezieht sich dabei auf Aristoteles (Pol. 1256 a 40), der zwischen einer naturgemäßen Erwerbskunst (ktetike kata physin) (für die Hausverwalter und die Staatsmänner) und einer Kunst des Gelderwerbs (chremastike) unterscheidet. Erstere ist auf die Autarkie eines guten Lebens (agathen zoen) gerichtet und ist nicht unbegrenzt (apeiron). 

Mit den Informationen ist es wie mit dem Geld: sie sind Mittel, die aber, wenn sie als Ziel anvisiert werden, un-endlich sind. Ihr Wesen haben aber Informationen im Wissen im Sinne des Kontextes, wovon sie abstrahiert sind. Informationen sind Wissen-als-Ware und somit Wissen-als-Geld. Sie haben keinen Wert an sich, sondern ihr Wert hängt vom Markt ab. Wie ist aber der Umsatz von Informationen zu verstehen? Dadurch dass sie irgendwann nützlich sind, also einen Gebrauchswert als Wissen-für haben. 

Der gierige Mensch ist deshalb gierig, weil er sich dem un-endlichen Drang der Mittel aussetzt und er tut dies, weil er ein unbegrenztes Verlangen nach Leben und Genuss 'ist', aber auch nach Wissen. Was ist aber das Telos des Wissens? Von der Wissensgier sagt Aristoteles, daß wir sie physei, d.h. von Natur, haben. Die Frage ist aber wohl nach einem "freien Verhältnis" (Heidegger) zu diesen Entbergungsweisen, was sich wohl nur aus dem Bezug zur Verborgenheit (lethe) d.h. also zum Nicht-Wissen ergibt. Für die sogenannte Informations- und Wissensgesellschaft ist das Verhältnis zum Nicht-Wissen zentral. Die Frage ist dann, wie können wir dem Sokratischen Nicht-Wissen in der digitalisierten Welt entsprechen? Und wie unterscheidet sich dieses Nicht-Wissen von allen Formen der Ignoranz und der Desinformation? 

   

8. DIGITALE HERMENEUTIK


Es bleibt also die Frage nach dem eidos in einer digitalen Ontologie virulent, sofern nämlich hier die monas und nicht der logos den Leitfaden für die Verständigung liefert oder zu liefern beansprucht. In Wirklichkeit sieht es aber eher so aus, als ob der Aufenthalt und somit auch der Halt im digitalen Netz nicht nur numerisch und geometrisch, sondern auch logisch wäre. Ist dann das elektromagnetische Medium, das durch die Zahlen in-formiert wird, zugleich das ekmageion für den logos? Das müssen wir weiter präzisieren, denn der Sinn des Ganzen ist, wie der Fremde im Sophistes sagt, das Mitteilen im Sinne des Sichverständigens (Sophistes 246e3). Ist das digitale Netz ein globales Verständigungsnetz, d.h. ein moralisches Medium auf der Basis von Zahlen und geometrischen Formen? 

Die instrumentelle Sicht banalisiert die (Informations-)Technik und bringt sie auf eine Ebene, wo wir für die Gesetzmäßigkeiten oder für das Sein dieser Sachverhalte blind sind. Vielleicht ist hier die Rede eines "Twisting" (M. Eldred) (23) angebracht: Wir winden uns und ver-winden so die Verhältnisse. Es wäre aber fatal, bei den oben angegebenen Beschreibungen den Eindruck von moralischer Verwerflichkeit herauszulesen. Nach welchem Maßstab oder Gesetz bewegt sich das digital Seiende? Ein leeres Prinzip ist nicht gleich wie ein Prinzip Leerheit.Wir stecken in der Rede von Prinzipien erneut in der Metaphysik. Das Worumwillen dieses Seinsentwurfs ist schwer auszumachen. Verkauft wird aber die Sache unter humanistischen Prämissen, wobei die Rede von Verständigung am schillerndsten ist, denn wir können uns kaum vor-stellen, wie etwa 6 Milliarden (und demnächst 10 oder 12 Milliarden) Menschen sich im digitalen Raum verständigen sollen. Hier sind die Grenzen der "Theorie des kommunikativen Handelns" und die der "Diskursethik" (J.  Habermas) klar erkennbar. Sie antwortet auf eine andere Sendung, die auch noch da ist, aber immer mehr an Antwortqualität verliert. Denn es ist so, dass das Worumwillen ('hou heneka') einer Sendung sich nur relativ im Zwischen er-gibt

Wir sind mittlerweile gewohnt, nach dem Zusammenbruch der großen wissenschaftlichen Systeme, die Objektivität der Wissenschaft in Frage zu stellen. Das ist aber nur die halbe Miete. Denn natürlich gibt es wissenschaftliche Resultate verschiedener Qualität (und Sicherheit), aber es geht darum, auf welche Sachverhalte und Traditionen wir wann und wo antworten. Wir leben weniger in systematischen als in (sozusagen) postalischen oder angeletischen Verhältnissen. Ordnung und Sicherung sind Begriffe, die im Zusammenhang mit der globalen Vernetzung eine wichtige Rolle spielen. Es ist nur die Frage, ob sie metaphysisch oder ‘grund-los’ verstanden und umgesetzt werden. Es scheint so zu sein, als ob das Internet mehr freien Raum für Unberechenbarkeit offen läßt als es einigen (vielen?) lieb ist. Das Informations-Gestell, wie ich es nenne, hat also einige Eigenschaften, die eine andere Aussicht erlauben, nämlich die von Heidegger angesprochene des "photographischen Negativs des Ereignisses" (in den Seminaren von Le-Thor). 

Wir leben zunächst und zumeist in der Welt der digitalen Information, die nicht weniger wahr ist als die Bücherwelt des modernen Bürgertums oder die Manuskriptwelt des Mittelalters. Obwohl wir mit einer globalen Vernetzung zu tun haben, und global also auf Kreis hinweist, frage ich mich, ob wir hier von einem Kreislauf sprechen können, denn die Art dieses Informationsflusses ist ganz eigenartig. Wir sprechen schon seit langem vom free flow of information, aber vielleicht ist das eine übernommene und überkommene Sicht, die zu sehr im Blick des Blutkreislaufs oder des merkantilen Kapitals verhaftet bleibt. 

Vermutlich ist die postalische oder angeletische Sicht hierfür besser geeignet: Senden und Empfangen und Senden... aber nicht unbedingt in der Form eines Kreislaufs, denn das setzt voraus, daß immer alle Sendungen empfangen und beantwortet werden. Um dem Stellen und dem Bestellen ontologisch gewachsen zu sein, brauchen wir, so Heidegger, ein "freies Verhältnis" zum (Be-)Stellen. Dafür müssen wir wiederum die Seinsfrage stellen — so würden wir sagen, und dabei würden wir wieder die Sache verfehlen, denn wir stellen ja Fragen, die Seinsfrage ist aber von der Art, dass sie sich uns unverfügbar vor-stellt. Wir müssen uns also zuerst in einer Haltung ein-finden, wo wir uns in (die) Frage stellen lassen. 

Warten hieße in diesem Zusammenhang, ant-worten, also die Sendung als eine solche bestätigen, sich als Adressat erkennen und nach einer Ant-Wort suchen. Das ist leichter gesagt als getan. Denn, was sind Antworten auf Sendungen? 

Solange wir jedoch im digitalen Entwurf frag-los ‘eingebettet’ bleiben, zeigt sich alles als bit. Wie kann sich alles als bit zeigen? Mir scheint, dass gerade diese Sicht des Ganzen (holon), dass wir alles, was ist, nur dann in seinem Sein zulassen und verstehen, wenn wir es im Horizont des Digitalen anschauen, die Kernthese einer digitalen Ontologie darstellt. Das bedeutet nicht, dass wir, sagen wir, die Atome auf bits reduzieren, wohl aber, dass wir erst dann ein Verständnis des Seins der Atome haben, wenn wir diese digital berechenbar machen. Wir sollten aber eine solche Berechenbarkeit nicht mit irgendeiner Form von Determinismus verwechseln. 

Unseren heutigen Zugang zur Realität bezeichne ich in Abwandlung des Satzes von George Berkeley: "Das Sein der Dinge ist ihr Wahrgenommensein" ("Their esse is percipi") mit dem Satz: "esse est computari". Das bedeutet keineswegs, alles sei bloß virtuell oder die Dinge bestünden aus bits, sondern es bedeutet, dass wir meinen, etwas in seinem Sein erklärt und verstanden zu haben, wenn wir es auf der Basis von Zahlen und Punkten im elektromagnetischen bzw. elektronischen Medium erfassen. Dieser Grund-Satz der digitalen Ontologie besagt also, daß unser Seinsverständnis von dieser Art ist. Es wäre auch möglich diesen Satz so zu formulieren: "esse est informari", wobei der In-formationsprozeß im Sinne eines im elektromagnetischen bzw. elektronischen Medium stattfindenden Formungsprozesses zu verstehen ist. Die globale Vernetzung ist die Art und Weise, wie wir heute jene Totalität erfahren und gestalten, die die Metaphysik das Seiende im Ganzen nannte. 

Mit anderen Worten, die digitale Ontologie ist ein Seinsentwuf, so wie die Newtonsche Physik auf einer anderen Vorauslegung beruht. Ich denke an Heideggers Deutung der mathematischen Physik in Sein und Zeit (§ 69 b): "Und so besteht denn auch das Vorbildliche der mathematischen Naturwissenschaft nicht in ihrer spezifischen Exaktheit und Verbindlichkeit für "Jedermann", sondern darin, daß in ihr das thematische Seiende so entdeckt ist, wie Seiendes einzig entdeckt werden kann: im vorgängigen Entwurf seiner Seinsverfassung." Und er fügt hinzu: "Mit der grundbegrifflichen Ausarbeitung des führenden Seinsverständnisses determinieren sich die Leitfäden der Methoden, die Struktur der Begrifflichkeit, die zugehörige Möglichkeit von Wahrheit und Gewißheit, die Begründungs- und Beweisart, der Modus der Verbindlichkeit und die Art der Mitteilung. Das Ganze dieser Momente konstituiert den vollen existenzialen Begriff der Wissenschaft." Die Frage ist also, wie die von Heidegger angesprochenen Momente einer auf dem digitalen Entwurf des Seins basierenden Wissenschaft sich konstituieren. 

Vielleicht können wir das Wort Ge-Wissen im Anklang zum Heideggerschen Ge-Stell  als die Sammlung aller Weisen des Her-Stellens von Wissen verwenden, wobei die Nähe zum moralischen Gewissen durchaus erwünscht ist! Was unser Verhältnis zum Ge-Wissen betrifft, kann dieses nicht nur die Form des begründenden und vorhersagbaren Wissens haben, sondern vielleicht die der flüchtigen angeliai, der messages, ein angeletisches Verhältnis zum Seienden im Ganzen läßt auch das Wissen als message zum Zweck des Gewinns und des Ge-Wissens sein, ohne aber alle messages durch das Sieb des begründenden Wissens (episteme) zu sortieren. Während die Massenmedien das digitale Medium zur Botschaft selbst machen, gemäß der Devise "The medium is the message" (M. McLuhan),  gilt es jetzt auf der Basis der digitalen Weltvernetzung das Verhältnis von Medium und Botschaft zeitlich und räumlich zu entkoppeln. 

Das bedeutet zunächst soviel wie Einkehr in ein angeletisches Verhältnis, d.h. in die Freiheit, eine Botschaft zu senden oder zu empfangen oder nicht. Die Sprache ermöglicht uns, in einem Feld von Möglichkeiten/Formen zu handeln. Begriffe sind kein Abbild der Welt, sondern Möglichkeiten unseres Handelns. Information ist für uns wißbare Form über die Gestaltenfülle der Dinge. Da wir in einen Selbstformungsprozeß des Universums eingebettet sind, ohne dass wir das Ganze zu erfassen vermögen, hat unsere Begrifflichkeit — unsere In-formation: also die Art und Weise, wie wir in-formiert werden und wie wir Dinge wissend in-formieren  — eine eigentümliche Unschärfe, die sich nicht aufheben läßt. Wir können die Dinge — Kantisch gesprochen — nicht so fassen, wie sie ‘an sich’ sind. Oder — Heideggerisch gesagt — die Sage übersteigt immer unser Sprechen, und wenn wir die Sprache als Sprache zur Sprache bringen, dann be-wegen wir uns, d.h. machen den Weg, in Richtung auf diese Gestaltenfülle, die wir durch das Setzen von Sprache als Information notwendigerweise reduzieren und somit auch die Dimension der möglichen Gestaltenfülle oder des Seins dessen reduzieren, was ist. Ich verstehe also unter Information genau diese Spannung zwischen Formgebung oder Bestimmung der Form (genitivus subjectivus), also den Prozeß der Erzeugung von In-forma-tionen im Sinne einer Gestaltenfülle einerseits, und andererseits die Bestimmung der Form (genitivus objectivus), also den Prozeß, wodurch wir eine Form sprachlich bestimmen, das Seiende also eidetisch-sprachlich festhalten (24)

Dieses können wir auch in Bezug auf die Sprache selbst tun, worauf sich Heidegger in seinem Vortrag "Der Weg zur Sprache" bezieht. Wo ist aber im Geflecht der Sprache mit sich selbst und im Geflecht der Sprache mit der Welt das "entbindende Band" (a.a.O. S. 243)? Genau in der Bewegung der "Sage" zur "Sprache", d.h. in einer Bewegung, die ent-bindet, oder ent-läßt oder er-eignet, also Möglichkeiten eröffnet, anstatt sie fest-zu-schreiben. Das gilt, meine ich, auch für das Geflecht zwischen Sprache und Welt, sofern nämlich hier die Bewegung von der Welt her in die Sprache ent-lassen wird, so dass wir der Gestaltenfülle in unserem Sprechen von der Welt und in unserem Handeln 'in' ihr so sind, daß wir uns auf das Möglich-sein der Dinge einlassen, sie also von unseren Be-griffen ent-binden, nachdem wir sie so und so auf-gefaßt haben. Es handelt sich also um eine doppelte Bewegung, deren Band auch unsere Wissenschaft und Technik entläßt und uns selbst in das Freisein des Möglichen einläßt. Wir sind zugleich Sender und Empfänger. Über diese botmäßige Struktur des Da-seins spricht Heidegger in seinen letzten Schriften "von" (nicht "über") der Sprache, besonders im Gespräch mit einem Japaner (25)

Es besteht dann die Möglichkeit, dass wir uns nach diesen Vor-gaben — auch im Heideggerschen Sinne der Vor-Struktur des Versehens in Sein und Zeit: Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff — richten. Wenn ‘man’ das tut, dann haben wir sogar auf sozialer Ebene die Verobjektivierung oder digitale Auslagerung des ‘Man’ ins digitale Medium. Entscheidend ist aber, dass diese verobjektivierten Vorverständnisse die Weltoffenheit selbst nicht wahrnehmen können, dass sie also — auch wenn wir sie lernfähig machen und durch den Input des Fragenden/Suchenden dynamisieren  —  für das Vorverständnis der Offenheit selbst, für die Unbestimmtheit als solche, verschlossen bleiben, denn Unbestimmtheit zu programmieren ist ein Widerspruch in sich. Wir können lediglich fuzzy Systeme programmieren, aber das ist wieder etwas anderes. Schließlich sollten wir nicht das Vernehmen der Weltoffenheit mit dieser selbst verwechseln. Sie ist nicht allein unser Werk. 

 



 
EXKURS 1: Über die Entstehung der Zahl 0 

Sind dann 1 und 0 Zahlen oder das, was das Zählen und somit die Zahlen ermöglicht? Wo kommt die 0 her? Van der Waerden berichtet, dass sie in Indien zur Zeit des Buddhismus (ca. 600 v.Chr.) entstand, als die Buddhisten anfingen sich für sehr große Zahlen zu interessieren. Dazu erzählt er folgende Geschichte: 

"Im Buch Lalitavistara kommt folgende Szene vor (Siehe etwa B. Datta und A. N. Singh, History of Hindu Mathematics, Part. I (Lahore 1935)). Prinz Gautama (Buddha) hält beim Fürsten Dandapani um die Hand seiner Tochter Gopa an. Er muss sich nun zuerst mit fünf anderen Freiern im Schreiben, Fechten, Bogenschiessen, Laufen, Schwimmen und Rechnen messen. Er siegt natürlich mit Glanz. Dann stellt der grosse Mathematiker Arjina ihm Fragen: 
"Oh Jüngling, weißt du, wie die Zahlen weitergehen in Hunderten oberhalb koti?" 
"Ich weiss es." 
"Wie gehen die Zahlen weiter oberhalb koti in Hundertern?" 
"Hundert koti heissen ayuta, hundert ayutas niyuta, hundert niyutas kankara, hundert hankaras vivara..." 
So fährt Buddha fort, durch 23 Stufen hindurch. Nach einem Rechenbuch ist koti hundert mal hunderttausend (sata sata sahassa). Die höchste Zahl, die Buddha nennt, ist also 10 zur 7. Potenz . 10 zur 46. Potenz = 10 zur 53. Potenz. Aber in den meisten Rechenbüchern haben die Wörter ayuta und niyuta andere Zahlenwerte, nämlich 10 zur 4. Potenz und 10 zur 5. Potenz. 
Buddha ist noch nicht fertig: Dies ist erst die erste Reihe, sagt er. Darüber kommen noch acht andere Reihen. 
Es ist klar, dass diese Zahlwörter nie zum wirklichen Zählen und Rechnen gebraucht wurden. Es sind reine Spekulationen, wie indische Türme, die in Stufen zu schwindelerregenden Höhe aufgebaut werden." (Van der Waerden, a.a.O. S. 85-86)
Offenbar hängt in Indien die Erfindung der 0 mit der Buddhistischen Leere zusammen. Van der Waerden berichtet aber, dass die griechischen Astronomen sich des Zeichens 0 bedienten. Es scheint so zu sein, dass in der Zeit zwischen 200 und 600 v.Chr. die Inder die griechische Astronomie und mit ihr das Sexagesimalsystem und die Null kennenlernten und beide Systeme verschmolzen. Das indische Zahlensystem wurde durch die Araber im Mittelalter übernommen. Wie dem auch historisch gewesen sei, was dabei interessant ist, ist die Tatsache, dass die 0 ein Unterscheidungszeichen ist, nämlich für die Unterscheidung von 1 und 60 im Sexagesimalsystem. Dazu nochmals Van der Waerden:  "Die wichtigste Ziffer ist die Null. Es ist eine geniale Idee, sich das Nichts zunutze zu machen, indem man ihm einen Namen gibt, ein Symbol dafür erfindet. "It is like coining the Nirvana into dynamos", sagt Halsted. Das babylonische Sexagesimalsystem war unvollkommen, weil die Null fehlte: Zwischen 60 und 1 oder 1/60 war kein Unterschied. Es gab in späteren Zeiten ein Zeichen für eine fehlende Zahl inmitten einer Zahl, aber nicht an ihrem Ende." (Van der Waerden, a.a.O. S. 91) So gesehen ist die Null eigentlich keine Zahl, sondern ein Unterschied, oder eine Information wie wir heute sagen würden, "a difference that makes a difference", wie Gregory Batesons Definition von Information lautet. Dieser Indikator scheint aber in der abendländischen Metaphysik, die das Eine und die Einheit bedenkt, keine Rolle zu spielen, im Gegensatz zum Buddhismus. Heraklit huldigt ihm und Parmenides setzt sich mit aller Kraft zur Wehr gegenüber dem Nichts, jenem Nichts also, das Unterschiede hervorbringt. 


EXKURS 2: Husserl und Rickert über die Zahlen 


Auf zwei Denkpfade im Umkreis Heideggers zu Beginn des 20. Jahrhunderts möchte ich noch kurz eingehen. Zum einen handelt es sich um die Kontroverse zwischen Husserl und Frege bezüglich der Frage, ob 0 und 1 Zahlen sind oder nicht bzw. ob es einen Artunterschied zwischen 0 und 1 und den sonstigen Zahlen besteht. Für Frege besteht kein Artunterschied. Auf die Frage: Wieviel Monde hat dieser Planet? Kann man mit der Zahl 0 oder 1 genauso gut antworten wie 2 oder 3. Für Husserl dagegen antworten Zahlen auf die Frage "wieviel". Genausowenig wie die Antworten "nirgendwo" und "niemals" zu Orten oder Zeiten gehören, gehören also 1 oder 0 zu den Zahlen. Gleichwohl sieht Husserl auch "gute Gründe" warum wir sie, wenn nicht logisch so doch sprachlich und wissenschaftlich zu den Zahlen zählen. So gibt es also für Husserl einen Zahlbegriff im engeren und einen im weiteren Sinne. Er spricht von einer "Übertragung" des Zahlbegriffs auf 0 und 1, wodurch dann, wie mir scheint, das Problem der Analogie entsteht (26)

Zum anderen denke ich an Heinrich Rickerts "Das Eine, die Einheit und die Eins" (27). Dort unterscheidet Rickert zwischen drei Sphären, nämlich die der "psychophysischen Wirklichkeit", die des Logischen und die des Mathematischen. Der Begriff des 'Einen' und der Begriff der 'Identität' gehören zum "rein Logischen". Ferner auch der Begriff der 'Andersheit'. Denn so wie die Form ihr anderes, den Inhalt, "fordert", so fordert, allgemein gesagt, das Eine das Andere. "Das Eine und das Andere" können aber nicht 'gezählt' werden, sondern gehören zusammen: "Einen Satz der Identität gibt es daher streng genommen in völlig adäquater Formulierung nicht." (Rickert, Das Eine, a.a.O. S. 19). Die Tautologie ist im Wahrheit eine "Heterologie". Die Einheit des Einen "und" des Anderen sind als eine Einheit des Mannigfaltigen zu denken. Somit hätten wir die Begriffe "das Eine" und "die Einheit" bestimmt. 

Wesentlich ist aber für Rickert der Unterschied zwischen der logischen und der mathematischen Mannigfaltigkeit. Logische Mannigfaltigkeit nichts mit Zahlen zu tun hat: "Der Sache nach gibt es beim rein logischen Gegenstand allein das Eine und das Andere, und damit ist seine Mannigfaltigkeit vollkommen erschöpft." (Rickert, Das Eine, a.a.O. S. 35). Das Eine, ebensowenig wie das Andere, ist keine Zahl und hat auch keine "Stelle" wie die Zahl. Das Eine und das Andere lassen sich nicht vergleichen: "Identität schließt deshalb Andersheit aus, während Gleichheit sie fordert." (ebda. S. 36) Er zitiert Thomas von Aquin ("aequalitas diversorum est") und Meister Eckhart ("Gleichheit steht in Unterschied"). Nicht nur physische und psychische Objekte, sondern auch Zahlen sind nur partiell identisch und fallen deshalb unter "denselben" Begriff, auch wenn sie nicht identisch sind. Das Gleichheitszeiten beim Satz der Identität (A = A) verwischt diesen Unterschied. Diese Formel ist, so Rickert, nicht tautologisch, sondern "heterologisch" und ist deshalb zur Darstellung eines rein logischen Faktors ungeeignet. Wie aber läßt sich dann das Eine vom Anderen unterscheiden? Mit Hilfe eines "Mediums" oder einer "Stelle", wobei im Falle der logischen Stellen diese "vollständig mit dem Einen und dem Anderen zusammen(fallen), so daß das Eine nicht an der einen Stelle, das Andere nicht an der anderen Stelle ist, sondern die eine und die andere Stelle selbst bildet." (ebd. S. 38) Dieses eigentümliche Verhältnis wird durch das Wort "und" ausgedrückt. 

Im Gegensatz zu einem solchen heterogenen Medium (das verbindende und trennende "und") (H. Rickert), das die logische "Einheit des Mannigfaltigen" ermöglicht, haben wir bei der Zahl und insbesondere bei der Eins mit einem Gegenstand in einem "homogenen Medium" zu tun. Rickert erläutert dieses Medium zunächst am Beispiel von Gegenständen, die in der Zeit und im Raum verschiedene "Stellen" einnehmen können und dabei, obwohl gleich, sich voneinander unterscheiden können. Er hebt aber die Homogeneität überhaupt hervor: Wir haben bei den Zahlen bloß mit einem "noch" einer weiteren Stelle zu tun. Dadurch verlassen wir die Sphäre des rein Logischen: "Wir drehen uns nicht mehr im Kreise" (ebd. S. 61). Raum und Zeit sind zwar noch nicht da, aber die "Reihe". Dieses erste "alogische Element" erlaubt uns keine Ordnung, sondern nur eine "Fülle" oder "Menge" von Elementen. Das zweite "alogische Element" zur Bestimmung der Zahl ist für Rickert "das Quantum", das er als "eine Art von Qualität" definiert. Zahlen sind also raum- und zeitfrei, bedürfen aber eines "homogenen Mediums". 

Rickert erwähnt zwar "das Problem der Null", aber er läßt die Frage offen, ob die Null "eine Zahl, wie die Eins, oder nur eine Zahlstelle ist." (ebda. S. 69). Er unterscheidet zwischen dem Begriff der Eins oder den Zahlbegriffen überhaupt, den Zahlstellen und den Zahlen selbst. Zahlstellen und Zahlbegriffe lassen sich nicht zählen. Jeder Begriff ist mit sich selbst identisch. Es gibt aber die Exemplare der Eins. Gäbe es sie nicht, hätte der Satz 1 = 1 keinen Sinn. Zusammenfassend schreibt er: 

"Die erste und die zweite Stelle kann man nicht so addieren, daß sie zusammen irgendeiner Stelle gleichen, sondern man kann nur sagen, daß eine Stelle und noch eine Stelle zusammen so viel wie zwei Stellen sind. Auch daß die zweite Stelle größer als die erste, die dritte größer als die zweite ist, gibt keinen Sinn. Die Zahl darf niemals als bloßes Stellenzeichen definiert werden, jedenfalls die  Zahl nicht, mit der man rechnen kann. [...] Hier war nur zu zeigen, daß die Zahl ist etwas anderes ist, als ihr Begriff und als die Stelle des homogenen Mediums, an der sie sich befindet, und die durch sie geordnet wird." (ebda. S. 70-71) Schließlich geht Rickert kurz auf den Begriff des "Einzigen" im Sinne der "Gegensatzlosigkeit" ein, jenseits also von der mathematischen (durch "Stelle" und "Quantum" bestimmten) und logischen (durch "und" bestimmten) Einheit. Das All-Eine hätte keine Stelle und auch kein Quantum und nichts könnte ihm entgegengesetzt werden:  "Als reine "Identitätsphilosophie", die überlogisch sich gestalten müßte, hätte der Monismus die Aufgabe, in einem philosophischen System das ewig Andere aus der Welt zu schaffen, jenes Andere, auf dem wie wir gesehen haben, alles gegenständliche Denken überhaupt, also auch alle Wissenschaft beruht." (eda. S. 74) Man sieht hier nicht nur die Grenze des Logischen, sondern auch die Grenzen des Mathematischen in bezug nämlich auf das "qualitativ bestimmte Reale", das sich als ein "heterogenes Kontinuum" darstellt (ebda. S. 79). Konsequenterweise lehnt Rickert den Gedanken "einer universalen Mathematik als Logik" ab (ebda.). Die Abhandlung schließt mit dem Unterschied zwischen dem "Sein des Logischen" und dem des "Existierens", "das entweder ein ideales oder ein reales Existieren ist." (ebda. S. 80). Womit wir bei Heideggers Frage nach den unterschiedlichen Seinsweisen und nach der Seinsfrage überhaupt angekommen wären. 
 

  

 
   
  

ANMERKUNGEN

1. Martin Heidegger: Platon: Sophistes. Frankfurt a.M. 1992, Gesamtausgabe (GA) Bd.19 
2. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode Tübingen 1975, 4. Aufl. S. 450 
3. B. L. Van der Waerden: Erwachende Wissenschaft. Ägyptische, Babylonische und griechische Mathematik. Basel und Stuttgart 1956. 
4. Martin Heidegger: Was heisst Denken? Tübingen 1971, 3.Aufl., S. 82 ff. 
5. M. McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man. New York 1964. 
6. Avital Ronell: The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech. University of Nebraska Press 1989. 
7. Karl Rahner: Geist in Welt. München 1957. 
8. R. Capurro: Beyond the Digital 
9. R. Capurro: Hermeneutik der Fachinformation. Freiburg/München 1986. 
10. R. Capurro: Ich bin ein Weltbürger aus Sinope - Vernetzung als Lebenskunst. in: P. Bittner, J. Woinowski Hrsg.: Mensch - Informatisierung - Gesellschaft. Münster 1999, S. 1-19. 
11. C.F. von Weizsäcker: Sprache als Information. In: ders.: Die Einheit der Natur. München 1974, S. 51. 
12. M. Heidegger: Der Weg zur Sprache. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Hrsg.: Die Sprache, München 1959. 
13. R. Capurro: Heidegger über Sprache und Information. In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981) 32, S. 333-343. 
14. R. Capurro: Einführung in den Informationsbegriff. 
15. M. Heidegger, E. Fink: Heraklit, Frankfurt 1970, S. 26 
16. C..F. v. Weizsäcker: Information und Imagination. In: C.F.v. Weizsäcker, G. Mann, H. Weinrich, Th. Sieverts, L. Kolakowski: Information und Imgination. München 1973. 
17. Oskar Becker: Größe und Grenze der mathematischen Denkweise. Freiburg/München 1959, S. 171. 
18. Jacques Derrida: Apories. Mourir - s'attendre aux 'limites de la vérité', Paris 1996. 
19. Karl Marx: Das Kapital. Stuttgart 1969, S. 15. 
20. Massimo Negrotti: The Theory of the Artificial. Cromwell Press, Wiltshire 1999. 
21. I. Nonaka, H. Takeuchi: The Knowledge-Creating Company: How Japanese Companies Create the Dynamics of Innovation. New York/Oxford, Oxford University Press 1995. Vgl. auch G. von Krogh, K. Ichijo, I. Nonaka: Enabling Knowledge Creation. Oxford 2000. 
22.Carlos B. Gutiérrez: Die Kritik des Wertbegriffs in der Philosophie Heideggers. Inaugural-Dissertation. Universität Heidelberg 1976
23. Vgl. M. Eldred (Hg.) Twisting Heidegger: Drehversuche parodistischen Denkens Cuxhaven 1993. Vgl. v.Vf.: Sein und Zeit und die Drehung ins synthetische Denken. In: M. Eldred (Hg.): Twisting Heidegger, a.a.O. S. 51-65 
24. Vgl. R. Capurro: Information. Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs. München 1978. 
25. M. Heidegger: Aus einem Gespräch von der Sprache. In: M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1975. Vgl. R. Capurro: Heidegger über Sprache und Information. In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981) 32, S. 333-343.  
26. Edmund Husserl: Philosophie der Arithmetik. Text nach Husserliana XI, Gesammelte Schriften, Hrsg. E. Ströker, Bd. 1, Hamburg 1992, S. 129-134. Husserls "Philosophie der Arithmetik" wurde 1891 veröffentlicht. Sie war eine Überarbeitung seiner Habilitationsschrift "Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen", die Husserl 1887 der philosophischen Fakultät der Friedrichs-Universität-Halle-Wittemberg vorlegte. Der im Vorwort angekündigte Band II "Eine neue philosophische Theorie der Euklidischen Geometrie" ist nicht erschienen. 
27. Heinrich Rickert: Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs, Tübingen 1924, Zweite, umgearbeitete Auflage. Diese Schrift ist interessanterweise "Meinen Fachgenossen und Schülern in Japan zugeeignet". Im Vorwort verweist Rickert auf das Interesse von Kitaro Nishida sowie von japanischen Gelehrten, die nach Heidelberg kamen, um bei ihm zu studieren. Rickert setzt sich in diesem Vorwort für die Auffassung von Philosophie als Wissenschaft (und nicht als "Weltanschauung") ein, über kulturelle Grenzen hinaus.

Letzte Änderung: 3. März  2017
  
 
 
    

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