STELLT DIE KI-FORSCHUNG DEN KERNBEREICH DER INFORMATIK DAR?

Rafael Capurro

  

  
Zuerst veröffentlicht in: J. Retti, K. Leidlmaier Hrsg.: Proceedings der 5. Österreichischen Artificial-Intelligence-Tagung, Igls/Tirol, 28.-31. März 1989, Berlin: Springer 1989, S. 415-421.


 
 
 

1. Es scheint, daß die KI-Forschung den Kernbereich der Informatik nicht darstellt. Denn die Informatik befaßt sich zwar mit der Entwicklung von Hard- und Software, aber die KI-Hard- und Software-Entwicklung bilden lediglich eine zu hoch eingeschätzte Teilentwicklung, ja sogar eine Randerscheinung der Informatik.

2. Außerdem ist die Informatik eine solide moderne wissenschaftliche Disziplin. Die KI-Forschung dagegen verfolgt unrealistische Ziele, die eher in den Bereich der science fiction fallen.

3. Außerdem ist der Gegenstand der KI-Forschung, wie es bei Joseph Weizenbaum heißt (J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Kap. 8), ethisch nicht zu verantworten. Also sollte sie nicht weiterverfolgt werden.

4. Außerdem stellt die KI-Forschung, wie es bei T. Winograd und F. Flores heißt (T. Winograd, F. Flores: Understanding Computers and Cognition, Part I und II) eine durch die "rationalistische Tradition" bedingte Verzerrung von Grundbegriffen dar, die dem menschlichen Wirklichkeitsbereich eigen sind. Also begeht die KI-Forschung eine metabasis eis allo genos und kann deshalb nicht zum Kernbereich der Informatik gehören.

5. Außerdem geht die KI-Forschung, wie es bei H.L. Dreyfus hießt (H.L. Dreyfus: Die Grenzen künstlicher Intelligenz, 1985, Vorwort), von falschen methodischen Voraussetzungen (Darstellung von Regeln und Merkmalen) aus. Also kann sie methodisch den Kern der Informatik nicht darstellen.

Aber dem steht entgegen, daß es heißt (Aristoteles, Politik I, 4, 1253b), daß

"jeder Diener gewissermaßen ein Werkzeug ist, das viele andere Werkzeuge vertritt. Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug auf einen Befehl hin, oder einen solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte,  wie man das von den Standbildern des Daidalos oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt, von denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron der Kithara schlüge, dann bedürften weder die Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven."

Die Schaffung solcher Diener ist die Hauptaufgabe der Informatik und Gegenstand der KI-Forschung. Also bildet die KI-Forschung den Kernbereich der Informatik.

Ich antworte, man müsse sagen, daß zur Bestimmung einer Wissenschaft zwei Bedingungen erfüllt werden müssen, nämlich ihr Worüber oder Gegenstand und ihr Worunter, d.h. der besondere Gesichtspunkt, unter dem der Gegenstand betrachtet wird. Außerdem muß geklärt werden, ob der Gegenstand eigentlich oder nur nebenbei zu dieser Wissenschaft gehört. Zunächst aber ist festzustellen, daß die Informatik eher den Status einer Kunst (techne, ars) als den einer Wissenschaft besitzt. Das gilt vor allem im Software-Bereich, da hier noch keine grundlegenden Theorien für diese Tätigkeit gefunden wurden.

Was den Gegenstand der Informatik anbelangt, ist zu sagen, daß diese Wissenschaft, so wie die anderen auch, sich in einem geschichtlichen Prozeß der Selbstbestimmung befindet, in dem außer den Phasen der Normalität "Revolutionen" (Th.S. Kuhn), d.h. Neubestimmungen auf das Worüber und Worunter, stattfinden. Mir scheint, daß eine solche Neubestimmung sich zur Zeit in der Informatik vollzieht: Ihr Gegenstand soll nicht mehr primär der Computer und die Software, sondern - der Mensch sein. Anzeichen dafür ist u.a. die zentrale Bedeutung, die dem Nutzer bei der Planung, Entwicklung und Beurteilung von Informationssystemen zukommt. Nun, ist der Mensch bekanntlich auch Gegenstand anderer Wissenschaften, etwa der Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Medizin, Jurisprudenz usw.

Die besondere Hinsicht, worunter die Informatik den Menschen betrachtet, scheint mir die der Mitteilung von Wissen, sei es zur gegenseitigen Unterrichtung - was also mit dem Begriff "Information" ausgedrückt wird -, sei es zur Gestaltung der gemeinsam "mit-geteilten" Welt, sofern dabei primär der Computer eingesetzt wird, zu sein (Vgl. v.Vf.: Hermeneutik der Fachinformation, Freiburg/München 1986). So soll also nicht der Mensch und seine Welt dem Computer und seiner Software, sondern diese jenem angenähert bzw. dienstbar gemacht werden. Würde sich die Künstliche-Intelligenz-Forschung sowohl in ihrem 'engen Anspruch' (narrow claim) - nämlich gewisse menschliche Tätigkeiten, die zu ihrem Vollzug "Intelligenz" erfordern, zu simulieren - als auch in ihrem 'weiten Anspruch' (wide claim) - nämlich auf einen anderen Weg als den der natürlichen Reproduktion, Grundweisen menschlichen Existierens, wie etwa Sprache, Bewußtsein, Intentionalität, Gewissen, Liebe, metaphysische Bedürfnisse, Vorwissen des eigenen Todes usw. unser "In-der-Welt-sein" also, an einem Produkt so erscheinen zu lassen, daß sie das Sein desselben ausmachen würden - als der eigentliche Versuch einer solchen Annäherung oder In-Dienst-Stellung verstehen, könnte sie dann mit Recht den Kernbereich der Informatik bilden.

Die Gefahr besteht natürlich dabei, daß nicht der Mensch und die von ihm verantwortlich zu gestaltenden (bisher meistens dadurch zerstörten) (Um-) Welt in den Mittelpunkt der Informatik rückt, sondern das Hirngespinst eines Menschenersatzes, wodurch also sowohl das ausgesprochene Worüber und Worunter der Informatik ad absurdum geführt wären. Unter dem Vorwand eines falsch verstandenen Humanismus, könnte die Informatik ihrerseits lediglich den "natürlichen" Menschen in ihren Mittelpunkt rücken wollen. Der "natürliche" Mensch ist aber derjenige der "unfertig" ist, bzw. der stets sich und seine Welt gestaltet und dabei bedacht sein muß, sie eben nicht zu zerstören, sondern zu neuen Formen und Erscheinungen zu verhelfen.

So gehört also die Künstliche-Intelligenz-Forschung gewissermaßen zur Spitze oder zum Kern dieses Bereiches, der seinen Gegenstand sozusagen in der zweiten Potenz reflektiert. Hier wie in den anderen Disziplinen, in denen der Mensch den Gegenstand bildet, ist die fachspezifische Reflexion nicht nur von einer "fachübergreifenden", sondern auch von einer "fachüberschreitenden", d.h. philosophischen Reflexion untrennbar. Erst eine solche Metareflexion kann zumindest auf der theoretischen Ebene gewährleisten, daß der "künstliche" Mensch sich weder in die Utopie seiner angeblichen "Natur" noch in die meistens totalitäre Vorstellung eines super man flüchtet. So gesehen, wäre die Informatik und ihr Kern, die Künstliche-Intelligenz-Forschung, nicht nur eine Wissenschaft, sondern eine Kunst, die den Menschen stets im Raum seiner offenen Möglichkeiten, also in seiner Freiheit, betrachtet, eine "ars liberalis" also, die auch in ihren kühnen "mechanischen" Entwürfen stets die Grenze zu einer "ars magica" zu wahren vermag.

Auf das Erste ist also zu sagen, daß die Informatik dadurch entweder weiter innerhalb des alten "Paradigmas" - in dem der Computer bzw. die Software den Kern bildeten - bleibt, oder die KI-Forschung lediglich bei sich duldet. In beiden Fällen vermag sie nicht ihrem sich jetzt abzeichnenden Gegenstand gerecht zu werden.

Auf das Zweite ist zu sagen, daß die Gegenüberstellung zwischen einer "modernen wissenschaftlichen Disziplin" und der KI-Forschung als bloße science fiction selbst unwissenschaftlich bzw. vorurteilsbeladen ist. Das Argument entspricht einer Immunisierungsstrategie, worunter sich nicht selten handfeste lebenspraktische Interessen (etwa Besetzung von Lehr- bzw. Leerstühlen, Diffamierung des "Gegners" usw.) verbergen.

Auf das Dritte ist zu sagen, daß die ethische Verantwortung gegenüber unserem Tun im Bereich der Informatik durch philosophische Reflexion stets geschärft werden muß. Das geschieht nicht zuletzt indem nicht etwa eine Maschine, sondern der Mensch in den Mittelpunkt dieser Wissenschaft rückt. Weizenbaums Mahnung bezüglich des "Vergessens" "fachübergreifenden" Reflexion in diesem (sowie in anderen) Bereich(en), sollte stets berücksichtigt werden (vgl. v.Vf.: Die Verantwortbarkeit des Denkens. Künstliche Intelligenz aus ethischer Sicht, 1988).

Auf das Vierte ist zu sagen, daß Winograd/Flores' Kritik der "rationalistischen Tradition2 der Entlarvung mechanistischer Kategorien in ihrer inadäquaten Anwendung auf die Weisen menschlichen In-der-Welt-seins dient. Es bleibt dabei die Frage offen, inwiefern unsere Hard- und Software-Systeme sich am Maßstab dieses In-der-Welt-seins "messen" lassen, d.h. inwiefern der Mensch durch einen "künstlichen" Einblick in sich selbst jene Grundlosigkeit seines Daseins im technologischen Zeitalter zu erfahren vermag (vgl. v.Vf.: Von der Künstlichen Intellingez als einem ästhetischen Phänomen, 1988).

Auf das Fünfte ist zu sagen, daß Dreyfus selbst die Möglichkeit "intelligenter Computer" offen läßt. Seine methodische Kritik zielt letztlich auf die Anwendung des herkömmlichen Paradigmas der Informatik (regelgeleitete Software) als Leitfaden für die KI-Forschung. Gerade wenn der Mensch Gegenstand einer Wissenschaft wird, kommen die unausrottbaren Schwächen des Reduktionismus deutlich hervor.


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Letzte Änderung: 10. August  2017



 
    

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