LAUDATIO

ZUR VERLEIHUNG DER EHRENDOKTORWÜRDE

AN FRAU PROF. EM. DR. CHRISTIANE FLOYD


"WIR WOLLEN EIN MENSCHLICHES MAß EINHALTEN"

CHRISTIANE  FLOYDS ETHISCHES VERSTÄNDNIS DER INFORMATIK


Paderborn, den 27. Oktober 2017


Rafael Capurro


  
 
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Foto (Universität Paderborn, Johannes Pauly): v. l.: Prof. Dr. Ingrid Schirmer, Universität Hamburg, Prof. Dr. Dr. h. c. Stefan Jähnichen, Technische Universität Berlin, Prof. em. Dr. Dr. h. c. Christiane Floyd, Prof. Dr.-Ing. Reinhard Keil, Dekan der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik, Universität Paderborn, Prof. Dr. Birgit Riegraf, Vizepräsidentin für Lehre, Studium und Qualitätsmanagement, Universität Paderborn, und Prof. em. Dr. Rafael Capurro, Hochschule der Medien Stuttgart.

Erschienen in: Paderborner Universitätsreden, hg. von Peter Freese, PUR 147, Dezember 2017, 19-28.

30.10. 2017 Pressemitteilung
Erste deutsche Informatikerin Prof. em. Dr. Christiane Floyd erhält Ehrendoktorwürde der Universität Paderborn.


 

Liebe Christiane, dear Christiane,
 

beide Sprachen gehören zu Deinem Wesen. Deutsch, Deine Muttersprache, mit Deinem unverwechselbaren österreichischen Klang. Englisch, die Sprache Deines Faches und Deines Privatlebens. Auf Englisch ist jenes Buch "Software Development and Reality Construction" verfasst, dass Du zusammen mit Heinz Züllighoven, Reinhard Budde und Reinhard Keil-Slawik herausgegeben hast. Es ist das Ergebnis der von der TU Berlin und der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung organisierten und der VW Stiftung gesponserten Tagung, die 1988 in Schloß Eringerfeld stattfand. Das Buch, 1992 erschienen, ist heute so aktuell wie vor fünfundzwanzig Jahren.[1] Diese Konferenz war die gelungenste und bei mir bis heute nachwirkende Tagung an der ich teilgenommen habe. Der erste Satz bringt Deine Botschaft deutlich zum Ausdruck:

"This is a book about human questions in computer science. Questions such as: What are we actually doing in our work? What assumptions do we rely on? What claims can we really meet? How do we view human beings in relation to computers? What is the impact of the computer in use? How can we promote quality? What kind of social changes do we bring about? To what extent is information technology conducive to human development? The authors of this book share the conviction that a deeper understanding of these issues is essential for guiding responsible action in science and design." (S. 3)

In Deinem Beitrag "Human Questions in Computer Science" schreibst Du:

"We focus on software, since we consider  it to be pivotal in the intertwining of computer technology and the human world. Through software we tailor computers to meet specific purposes, through software we model mental processes to be simulated on the computer, through software we establish the conditions and constraints for people working with computer based systems. Software is a product with unique attributes, and its development calls for new ways of working together that we do not yet fully understand." (S. 15)

Die Tagung war eine Inszenierung bei der InformatikerInnen auf der Bühne des theatrum mundi ihre Stücke darboten und zugleich selbst Zuschauende waren. Die Wiedergabe dieser Inszenierung in Buchform wird eingeleitet von Raffael's "Schule von Athen", in deren Mitte, gleich unterhalb von Platon und Aristoteles, ein PC mit einem Wort auf dem Bildschirm, nämlich "THINK", platziert ist.

Ich habe die folgenden Sätze von Donald E. Knuth und Deine Erwiderung lebhaft in Erinnerung:

"I have always believed that one of the best ways to learn is a process of trial and error. Indeed, one of my favorite poems is the following 'grook' by Piet Hein:

The road to wisdom?

Well, it's plain

and simple to express:

Err

and err

and err again

but less

and less

and less."[2]

Worauf Du erwidertest:

"The road to wisdom?

Well, it's plain

and simple to explore:

Love

and love

and love again

but more

and more

and more."[3]

Ich erinnere mich, dass das 1986 erschienene Buch von Terry Winograd und Fernando Flores: "Understanding Computers and Cognition. A New Foundation for Design" so etwas wie eine Initialzündung für ein ethisches Umdenken in der Informatik war. Der Satz aus dem Vorwort "[...] in designing tools we are designing ways of being"[4] war für mich, der von der Hermeneutik herkam, eine Überraschung, denn ich erwartete keine hermeneutischen Einsichten, sofern diese mit dem Verstehen und der Gestaltung des Lebens selbst und nicht nur mit Texten zu tun haben, auf der Seite einer sich rein technisch verstehenden Informatik. Ich fand diese Einsicht im Einklang mit Christianes Verständnis von software development im Sinne einer gemeinsam mit anderen zu verstehenden Gestaltung menschlichen Seins. Sie hat mit diesem Ansatz der Informatik als eine wissenschaftliche Disziplin sowie der Tätigkeit der Informatikerinnen und Informatiker eine neue Grundlage gegeben.

Was heißt verantwortungsvoll programmieren und die Welt gestalten? Nichts anderes als der Entwurf einer möglichen digitalen Lebenswirklichkeit auf der Basis eines vorausgehenden und diesen Entwurf ausdrücklich begleitenden Verstehens. Verantwortungsvolles Programmieren gibt es nur zu zweien, so wie es Wahrheit nur zu zweien gibt, um den Titel eines Buches über Hannah Arendts "Briefe an die Freunde," herausgegeben von Ingeborg Nordmann, zu paraphrasieren.[5] Mit Christianes Augen gesehen ist software development im Heideggerschen-Arendtschen Verständnis ein Wahrheitsgeschehen, geprägt durch wechselseitige Schätzung zwischen Menschen im Hinblick auf das gute Leben. Was ist "Sein und Zeit" anders als ein zwischen diesen beiden Liebenden entstandenes Buch, in dem es um die Bestimmung von existentieller Wahrheit geht?[6] So gesehen kann eine klassische Definition von Wahrheit folgendermaßen umgewandelt werden: veritas est adaequatio intellectus ad vitam. Du, Christiane, hast kommende Generationen von InformatikerInnen und Nutzern die Augen für die Bedingungen einer gelingenden menschlichen Seinsweise mit Bezug auf ein dialogisch verfasstes digitales In-der-Welt-sein geöffnet. Diese Laudatio, die ich die Ehre habe zu halten, ist ein Dank, und ganz besonders mein Dank dafür, was Du uns als verantwortungsvolle Hochschullehrerin vorgedacht und vorgelebt hast. Was ist eine Laudatio? Antwort: Eine Liebeserklärung. In meinem Namen sowie im Namen der hier Anwesenden und der vielen, die nicht mit uns hier und heute feiern können, möchte ich Dir diese Liebeserklärung in Form einer Laudatio überreichen.

Was heißt es Informatik als eine Weise ethischen Denkens und Handelns zu verstehen? Es ist kein von Außen auf das Denken und Tun der InformatikerInnen aufgesetzter Moralkodex und auch kein bloßer Appell an deren moralisches Gewissen, obwohl beide ihre Berechtigung haben. Es ist vielmehr die Einsicht in das Wesen des Informatikdenkens und -handelns aus einer Sicht, die sich auf das Ganze des gemeinsam zu gestaltenden politischen Raums richtet und stets diese Ganzheit in konkreten Projekten nicht aus dem Blick verliert. Das Gelingen dieser Sichtweise und der Weg dorthin stehen nicht von Anfang an fest, sondern werden gesucht und erprobt und bleiben stets revidierbar. So verstanden hat das Denken und Handeln der InformatikerInnen und Nutzer eine geschichtliche Dimension: Sie öffnen sich im Heute den Anforderungen und Möglichkeiten des Kommenden mit steter Rücksicht auf Segnungen und Irrungen des Gewesenen. Diese ethische Bestimmung der Informatik bedeutet eine Absage an den Glauben in welche Form auch immer von technischem Determinismus, besonders wenn partikulare Interessen eine scheinbare Form des Allgemeinen annehmen. Dieser Glaube hat Konsequenzen, die weit über das unmittelbare Handeln hinausgehen. Er ist eine schiefe Sicht, wenn die aufeinander bezogenen Dimensionen des Ethischen, Politischen und Ökonomischen mit ihren jeweiligen Maßstäben, gegeneinander ausgespielt werden. Diese schiefe Sicht versperrt Wege zu einem gelingenden Ganzen des sozialen Lebens, indem sie diese Dimensionen isoliert, so dass jede einen alleinigen Herrschaftsanspruch über die jeweils anderen erhebt.

Deine Leitfrage nach den Grenzen des verantwortbaren Computereinsatzes will diesen Glauben erschüttern.[7] Sie ist häretischer Natur. Mit Häresie (Griechisch: hairesis = Wahl) verstehe ich die Infragestellung von, zum Beispiel, herrschenden wissenschaftlichen "Paradigmen"  (Th.S. Kuhn).[8] Demnach waren Newton und Einstein Häretiker oder, anders ausgedrückt, sie waren Wissenschaftler, die wagten, die Grundlagen ihres Faches in Frage zu stellen. Häresien sind nicht ganz ungefährlich wie die Geschichte zeigt, selbst wenn diejenigen HäretikerInnen, die als solche durch die jeweils Herrschenden gebrandmarkt wurden, später als VertreterInnen eines offenen kritischen Geistes erkannt und anerkannt wurden. Eine im ethischen Sinne gute HäretikerIn hält gegenüber der hybris der Unangreifbarkeit und Maßlosigkeit, hinter der sich Partikularinteressen verbergen, einen mutigen und besonnenen Blick auf theoretische und praktische Wahlmöglichkeiten, die es gemeinsam mit anderen abzuwägen gilt.

Dein erster Leitsatz zur Gestaltung informationstechnischer Informationssysteme lautet:

Wir wollen ein menschliches Maß einhalten.

Es folgen:

Wir wollen Menschen nicht mit Maschinen gleichsetzen.

Wir wollen die Gemeinschaft zwischen Menschen fördern.

Wir wollen verantwortliches Handeln ermöglichen.

Wir wollen nicht mit dem Computer töten.

Wir wollen unsere Körperlichkeit anerkennen.

Wir wollen nicht die Kompetenz unserer Mitmenschen stehlen.

Wir wollen kein falsches Zeugnis ablegen über die Leistungsfähigkeit von Computern.

Wir wollen nicht begehren, unsere Mitmenschen zu überwachen.

Wir wollen nicht begehren, die Arbeit unserer Mitmenschen zu verstümmeln.[9]

Das sind Leitsätze die aus der Perspektive einer Ethik herkommen, in deren Mittelpunkt nicht das Sollen der modernen Ethiken, sondern das Wollen steht, eine Perspektive, der sich auch Michel Foucaults "Technologies of the Self" verdankt.[10] Dieser wiederum leitet seine Einsichten von den an Sokrates anknüpfenden griechischen und römischen hellenistischen Schulen der Lebenskunst (techne tou biou, ars vitae) ab.[11]
 

Wer können und wollen InformatikerInnen sein? Christiane Floyds Frage überschreitet die auf das Was-sein orientierte Selbstverständnis der Informatik und bestimmt das Wesen der Informatik aus einer ethischen Perspektive, in der die Differenz zwischen Wer- und Wassein entscheidend ist. In einem mit dem australischen Philosophen Michael Eldred, dem deutschen Rechtsanwalt Daniel Nagel und mir geschriebenen Buch mit dem Titel "Digital Whoness" haben wir in der Einleitung folgendes Gedicht von Alan Alexander Milnes Winnie-the-Pooh vorgestellt:

"On Wednesday, when the sky is blue,
And I have nothing else to do,
I sometimes wonder if it's true
That who is what and what is who."
[12]

Nicht nur Terry Winograd und Fernando Flores stehen Christiane Floyds ethischer Bestimmung der Informatik zur Seite, sondern auch Pioniere wie Norbert Wiener, Joseph Weizenbaum oder Hubert Dreyfus, und alle TeilnehmerInnen der Konferenz in Schloss Eringerfeld, unter ihnen, ganz besonders, Heinz von Förster. Christianes Ansatz, das Programmieren aus ethischer Perspektive zu verstehen, zielt darauf, den Absolutheitsanspruch der Computerisierung in Frage zu stellen und diese Infragestellung lebendig zu halten. Der Herrschaftsbereich des Digitalen hat sich inzwischen auf das gesamte gesellschaftliche Leben ausgebreitet. Das Menschsein wird im Sinne von homo digitalis verstanden.[13] Die herrschende Deutung des Seins lautet: nur das ist, was digitalisierbar ist, das heißt, alles was ist, wird als digitalisierbar verstanden.[14] Kristen Nygaard fasst das Programmieren so wie Christiane Floyd als eine "social activity" auf.[15] Verantwortungsvoll programmieren heißt, vom Verstehen einer zwischenmenschlichen Situation ausgehen und darauf stets Vor- und Rücksicht nehmen. Programmieren ist eine Weise des Verstehens und Gestaltens des Menschseins in einer gemeinsam geteilten Welt. Die Umkehrung dieser Auffassung würde bedeuten, dass nur das verstanden und gestaltet werden kann, was programmierbar oder algorithmisierbar ist. Letzteres ist eine Annahme, die, zum Beispiel, dem Glauben an die algorithmische Berechenbarkeit des autonomen Fahrens zugrunde liegt.[16]

Diese Kritik am Herrschaftsanspruch der Informatik und, weiter gefasst, des Seins als des Digitalisierbarseins stößt auf heftigen Widerstand nicht nur seitens der Wissenschaft, sondern auch der IT-Wirtschaft. Es erfordert Mut, das heißt, eine ethische Tugend, die Frage der Legitimität dieses Anspruchs ontologisch und ethisch überhaupt zu stellen. Eine solche Frage erfordert auch Besonnenheit, das heißt, eine Bewusstheit, dass das, was man anstößt, auch anstößig bleiben soll und nicht dogmatisch missverstanden wird. Sie muss von dem getragen werden, was das menschliche Zusammensein bindet, nämlich jene Kraft, die Platon eros und Aristoteles philía nennen. Ohne diese soziale Bindungskraft bleiben wir gedanken- und tatenlos. Die herrschende Tendenz in menschlichen Dingen ist die Trägheit und die Verteidigung überkommener Ansichten, Gebietsansprüche, Deutungshoheit sowie Blindheit in Bezug auf das, was man übersehen oder überhört hat. Man bequemt sich mit einer überlieferten Antwort und hält anstößige Fragen, die mit der Suche nach neuen Sprachformen und Begrifflichkeiten verbunden sind, für überflüssig, irrational, gefährlich und wie die sonstigen ausschließenden, diffamierenden, ignorierenden und immunisierenden Formen des akademischen hate speech alle heißen, wie Pierre Bourdieu vorbildhaft analysiert hat.[17] 

Wenn wir den Unterschied zwischen Wer- und Was-sein als den für die Informatik grundlegenden ethischen Unterschied auffassen, verstehen wir Christianes Wege als die Suche nach dem, was InformatikerInnen eine maßvolle Orientierung in ihrem Denken und Handeln gibt. Der Unterschied zwischen Wer- und Was-sein ist heute anstößiger denn je. Alles scheint sich um Daten zu drehen, allem voran die heutige Gestalt der Ökonomie, die auf der digitalen Verdinglichung nicht nur menschlicher Arbeit, sondern auch menschlicher Sozialität basiert und sich diese für ihre partikularen Zwecke dienstbar macht. Aber nicht die digitale Verdinglichung an sich ist das Problem, sondern die Blindheit gegenüber jener ethischen Sicht, von wo aus wir anstößige Fragen stellen können. Es gehört zum Wesen eines verantwortungsvollen Wissenschaftlers, überkommene Vorurteile und Theorien in Frage zu stellen und die Lust am Denken jenseits von etablierten Mustern bei den Studierenden zu wecken. Es macht auch das Wesen des verantwortungsvollen politischen Denkens und Handelns aus, Fragen nach dem Sinn des Zusammenlebens insgesamt zu erörtern, die stets in der Gefahr sind, nur parteipolitisch verstanden zu werden und so den Teil für das Ganze zu halten.

Softwareentwickler und -nutzer neigen dazu, sich mit ihren Daten zu verwechseln und dabei das zu übersehen, was Hannah Arendt "das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten" nennt.[18] Sie schreibt:

"Fast alles Handeln und Reden betrifft diesen Zwischenraum, der ein jeweils anderer für jede Menschengruppe ist, so daß wir zumeist miteinander über etwas sprechen und einander etwas weltlich-nachweisbar Gegebenes mitteilen, für das die Tatsache, daß wir unwillkürlich in solchem Sprechen-über auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden sind, von sekundärer Bedeutung scheint. Dennoch bildet diese unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des "objektivsten", Miteinanderseins, daß es ist, als sei der objektive Zwischenraum in allem Miteinander, mitsamt der ihm inhärenten Interessen gleichsam, von einem ganz und gar verschiedenen Zwischen durchwachsen und überwuchert, dem Bezugssystem nämlich, das aus Taten und Worten selbst, aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg einander richten und sich gegenseitig ansprechen. Dieses zweite Zwischen, das sich im Zwischenraum der Welt bildet, ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht und sich in keiner Weise verdinglichen und objektivieren läßt; Handeln und Sprechen sind Vorgänge, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen. Aber dies Zwischen ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, wobei die Metapher des Gewebes versucht, der physischen Ungreifbarkeit des Phänomens gerecht zu werden."[19]

Hannah Arendt und Christiane Floyd denken "zu zweien" nicht nur über die Sprache, sondern von ihr. Ludwig Wittgenstein hat in einem oft zitierten Satz am Schluss des "Tractatus" geschrieben: "7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."[20] Sprechen wir aber nicht schon davon, wenn wir sagen, dass wir nicht darüber sprechen können? Martin Heidegger hat in einem Text mit dem Titel "Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden", der anlässlich des Besuchs von Prof. Tezuka von der Kaiserlichen Universität Tokyo im Jahre 1953/54 entstand, diesen Unterschied in unserem Verhältnis zur Sprache ebenfalls erörtert.[21] Dabei kommt auch eine Deutung zwischenmenschlicher Kommunikation im Sinne eines Verhältnisses von Boten und Botschaften zum Vorschein, die von Bedeutung für die Wahrnehmung unseres heutigen digitalen Lebens in message societies ist.[22] Was könnte dringender sein, als gerade im Zeitalter von digitalen Boten und Botschaften, wo menschliche Kommunikation sich von ihrer Verdinglichung her zeigt, jene anstößige Frage Christiane Floyds über die Grenzen der Verantwortbarkeit des Computereinsatzes immer wieder lebendig zu halten, das heißt, neu zu denken?

Sie hat dies auch ganz praktisch in einem Projekt über "IT Capacity Development in the Addis Ababa Prison at Kaliti" vorgezeigt, in dem es darum ging ein Gefängnisinformationssystem zu entwickeln. Dieses Projekt zeigt in aller Deutlichkeit, wo die Grenzen eines verantwortbaren Computereinsatzes sind, nämlich dort, wo Menschen nur als Daten gelten und das Bezugsgewebe ihres Lebens keine Rolle bei der Mitgestaltung ihres Zusammenseins spielt. In diesem äthiopischen Spiegel können wir uns, InformatikerInnen und Nutzer, täglich anschauen, um festzustellen, ob wir tatsächlich Verantwortung für das, was wir tun oder nicht tun, tragen. Die wissenschaftliche Laufbahn sowie das Leben selbst von Christiane Floyd soll uns dafür ein Vorbild sein. In diesem Sinne freuen wir uns, dass die Universität Paderborn Christiane Floyd mit dem Doctor Honoris Causa ehrt und sind ihr für ihren Mut und ihre Besonnenheit dankbar.



[1] C. Floyd, H. Züllighoven, R. Budde, R. Keil-Slawik (Eds.): Software Development and Reality Construction. Berlin u.a.: Springer 1992.

[2] Donald E. Knuth: Learning from our Errors. In: C. Floyd et al., a.a.O., S. 28.

[3] Zitat nach: Heinz Züllighoven: Alice in Wonderland. In: C. Floyd et al., a.a.O. S. 443.

[4] Terry Winograd, Fernando Flores: Understanding Computers and Cognition. A New Foundation for Design. Norwood, NJ: Ablex 1986, xi (dt. Übers. Erkenntnis Maschinen Verstehen von L. Voet mit einem Vorwort von Wolfgang Coy. Berlin: Rotbuch Verlag 1989.

[5] Ingeborg Nordmann (Hg.): Hannah Arendt. Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. München, Zürich: Piper.

[6] Vgl. Silvio Vietta: "Etwas rast um den Erdball..." Martin Heidegger Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik. Paderborn: Fink 2015, 57-64.

[7] C. Floyd: Wo sind die Grenzen des verantwortbaren Computereinsatzes? In: Informatik-Spektrum 8, 1985, 3-6.

[8] Th. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.

[9] C. Floyd: "Science and Ethics", in: R. Rilling, H. Spitzer, O. Greene, F. Hucho, G. Pati (eds.): Challenges. Science and Peace in a Rapidly Changing Environment. Marburg 1992, 172-189. Zitat nach: R. Capurro: Die Frage nach der professionellen Ethik. In: P. Schefe, H. Hastedt, Y. Dittrich, G. Keil (Hg.): Informatik und Philosophie. Mannheim: Wissenschaftsverlag 1993, 138.

[10] Luther H. Martin, Huck Gutman, Patrick H. Hutton (eds.): Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault. Amherst: The University of Massachusetts Press 1988.

[11] Vgl. R. Capurro: Informationstechnologien und Technologien des Selbst. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40, 1992/93, 293-304.

[12] Vgl. R. Capurro, Michael Eldred, Daniel Nagel: Digital Whoness. Identity, Privacy and Freedom in the Cyberworld. Heusenstamm: Ontos / Berlin: de Gruyter 2013, 9.

[14] Vgl. R. Capurro: Homo Digitalis, a.a.o. 3-15.

[15] K. Nygaard: Programm Development as a Social Activity. In: H. J. Kugler (ed.): Information Processing 86. Amsterdam: North-Holland 1986. Vgl. R. Capurro: Ethik und Informatik. Die Herausforderung der Informatik für die praktische Philosophie. In: Informatik-Spektrum 1990, 13, 311-320.

[16] Vgl. R. Capurro: Fahrer entlasten, nicht ersetzen. In: Flotten management 1/2017, Februar/März, 76-77.

[17] Pierre Bourdieu: Homo Academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.

[18] Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München, Zürich: Piper 1983, 171.

[19] H. Arendt, a.a.O. 173.

[20] Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 85.

[21] Martin Heidegger: Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden. In: ders.: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske 1975, 149.

[22] Vgl. Rafael Capurro und John Holgate (ed.): Messages and Messengers. Angeletics as an Approach to the Phenomenology of Communication. München: Fink 2011.


Letztes update: 15. November  2017

 
 
     

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