SPRENGSÄTZE

Hinweise zu E. Lévinas "Totalität und Unendlichkeit"

 
Rafael Capurro
  
 
 
 
Erschienen in: prima philosophia, April - Juni 1991, Bd. 4, Heft 2, 129-148.

 

  
INHALT

I. Lebenserfahrungen und Denkwege  
a) Lebenserfahrungen  
b) Denkwege 

II. Sprengsätze  
a) Vor-Worte  
b) Bei-Worte zum Vor-Gang der Untersuchung  
c) Die Ökonomie des Selbst und die Stiftung der Pluralität 

III. Nach-Worte  

Anmerkungen  
Werke von E. Lévinas (Auswahl)  
Literatur  

  

 

 
  
  
I. LEBENSERFAHRUNGEN UND DENKWEGE

a) Lebenserfahrungen

Emmanuel Lévinas wurde 1906 in Kaunas (Litauen) geboren und stammt einer strenggläubigen jüdischen Familie /1/. Die hebräische Bibel, Puschkin und Tolstoi bilden seine frühen geistigen Quellen. Er erlebt als Kind in Charkow (Ukraine), wohin seine Familie 1914 umgezogen war, die russische Revolution [Wolzogen 1986]. 1923 beginnt er seine philosophische Ausbildung in Straßburg. Er studiert 1927/28 bei Husserl in Freiburg, die letzten zwei Semester bevor Heidegger sein Nachfolger wurde, sowie ein Semester bei Heidegger selbst von dem er sagt:  
    "Das Wunder der Phänomenologie ist Sein und Zeit. Alles, was dort gesagt wird, die Applikation der phänomenologischen Methode, ohne gerade auf das konstituierende Bewußtsein zurückzukommen: die Seiten über die Befindlichkeit, das Sein zum Tode all das ist ein Wunder." [Wolzogen 1986] 
Von Heidegger, sein Widersacher in Totalität und Unendlichkeit (TU), sagt er ferner:   
    "Heidegger ist für mich der größte Philosoph des Jahrhunderts, vielleicht einer der ganz Großen des Jahrtausends; und doch bin ich sehr betrübt darüber, denn niemals kann ich vergessen, was er im Jahre 1933 war, selbst wenn er es nur eine kurze Periode lang war. Was ich an seinem Werk bewundere, ist Sein und Zeit. Das ist ein Gipfel der Phänomenologie. Die Analysen sind genial. Was den späten Heidegger betrifft, den kenne ich viel weniger. Was mich erschreckt, ist auch die Entfaltung einer Reflexion, in der das Menschliche zur Äußerung einer anonymen oder neutralen Intelligibilität wird, der die Offenbarung Gottes untergeordnet ist, im "Geviert" stehen die Götter im Plural." [Lévinas 1986, 39]
Nach eigenem Zeugnis ist die Phänomenologie und nicht die jüdische Tradition die eigentliche Quelle oder "Ausgangspunkt" seiner Philosophie [Krewani 1983, Biographie]. Das Judentum bleibt freilich der außerphilosophische "Ursprung" seines Denkens /2/.  

Lévinas promovierte 1930 bei Jean Wahl an der Sorbonne mit der These Theorie de l'intuition dans la phénoménologie de Husserl, die von Jean Hering, einem protestantischem Theologen und engem Freund Husserls, angeregt wurde. Es war die erste große Arbeit über Husserl in Frankreich, und sie stand unter Heideggerschem Einfluß. 1931 erschienen, mit Mitwikung Lévinas, Husserls Méditations Cartésiennes, die prägend für die französische Phänomenologie wurden. Zu Lebzeiten Husserls gab es diese Schrift nur in französischer Übersetzung (Deutsch erst 1950). Im Mittelpunkt der fünften Meditation steht die Frage der Intersubjektivität. Die Konstitution des Anderen wird von Husserl in Analogie zur Erfahrung des eigenen Leibes vollzogen.   

1939 wird Lévinas, der inzwischen die französische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, einberufen. Er gerät 1941 in deutscher Gefangenschaft. Seine gesamte litauische Familie fiel den Verfolgungen der Nazis zum Opfer. Es sind gewiß diese Erfahrungen, die zur Infragestellung eines egologischen, sich in sich verschließenden Denkens führten. Der Krieg bildet den Ausgangspunkt von Totalität und Unendlichkeit. Der Ursprung dieses Ausgangspunktes dürfte das biblische Tötungsverbot sein.  

Nach dem Krieg wurde er Leiter der "Ecole normale Israelite orientale", eine Anstalt zur Lehrerausbildung. 1946/47 hielt er Vorlesungen an dem von J. Wahl gegründeten Institut philosophique, die unter dem Titel "Le temps et l'autre" 1948 erschienen. Er beginnt zu dieser Zeit auch mit der Exegese des Talmuds.

1961 erschien seine Habilitationsschrift Totalité et infini. Er wurde 1962 Professor an der Universität Paris-Nanterre und folgte 1973 einem Ruf an der Sorbonne. 1964 erscheint Jacques Derridas Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas [Derrida 1971], dass mit dem Satz aus Joyces Ulysses endet:   

    "Welches ist die Berechtigung, welches ist der Sinn der Kopula in diesem Satz des vielleicht hegelischsten aller modernen Romanciers: "Jewgreek is greekjew. Extremes meet".
Lévinas wurde 1976 emeritiert.  
  

b) Denkwege

In der umfangreichen Untersuchung von Waldenfels über die Phänomenologie in Frankreich gehört Lévinas, neben Sartre, Merleau-Ponty und Ricoeur, zu den Kernfiguren dieser philosophischen Bewegung [Waldenfels 1987]. Strasser [Strasser 1987] unterscheidet drei Phasen in Lévinas' philosophischer Entwicklung. 

Die erste Phase umfaßt die Veröffentlichungen zwischen 1930 und 1950. Sie läßt sich mit dem Titel "Kritik der Ontologie" gekennzeichnen. Über Ausgang bildet die Dissertation über Husserls Theorie der Intuition (1930) sowie kritische Veröffentlichungen über Husserl und Heidegger (En découvrant l'existence avec Husserl und Heidegger 1949). Dabei distanziert sich Lévinas sowohl vom phänomenologischen Idealismus Husserls als auch von Heideggers Fundamentalontologie. Er sucht den Weg von der Existenz zum Existierenden (De l'existence à l'existant 1947). Denn das Sein, die Serie des "es gibt" ("il y a"), erhält erst einen Sinn im Sich-Verhalten des Existierenden zum Anderen. Daher auch Lévinas' spätere Deutung der Platonischen Formel vom "jenseits des Seins" (epékeina tes ousías Polit. 509 b), im Sinne des ethischen Verhältnisses zum (ganz) Anderen (TU 437-38).   

Mit diesem letzten Hinweis treten wir in die zweite Phase, in deren Mitte das Werk Totalité et Infini. Essai sur l'extériorité (1961) steht, ein. Der Kerngedanke ist die Kritik der bisherigen Ontologien im Sinne totalisierender Seinslehren, bei denen das ethische Verhältnis zum Anderen vergessen bleibt. Diese von den Ontologien vergessene Dimension wird "Exteriorität" genannt. Es ist eine radikale, metaphysische Dimension. Anstelle der totalisierenden Ontologien entwirft Lévinas eine Metaphysik der Exteriorität, er faßt Ethik als erste Philosophie auf. Strassers Kennzeichnung dieser Phase lautet: "Metaphysik statt Fundamentalontologie".  

Zur dritten Phase gehört vor allem das Werk Autrement qu'être ou au-delà de l'essence (1974). Für Lévinas selbst stellt diese Phase die eigentliche Wende oder die zweite Phase seiner Philosophie dar, ja er spricht sogar von einer vorkritischen und einer kritischen Phase [Krewani 1983, S. 19]. In ihr sucht Lévinas die Spur des Unendlichen, die göttliche Transzendenz, jenseits der Sprache der Ontologie. Er sucht sie nicht im Logos des Gesagten ("dit"), sondern im Sagen ("dire"), in der "Ent-stellung" ("dé-position") oder "Ent-situierung" ("dé-situation") des Subjekts, das für den Anderen im wörtlichen Sinne ver-antwortlich ist, indem es sich exponiert" ("exposition") /3/. Die "Exposition" ist, im Gegenzug zur Intentionalität des Bewußtseins, eine leibliche Bewegung ("Kinästhese") zum Anderen hin. Strasser kennzeichnet diese Phase mit dem Ausdruck "Ethik als Erste Philosophie".  

Wenden wir uns aber jenem Werk zu, dass die Mitte dieses Denkweges darstellt. In der inneren Auseinandersetzung mit der Ontologie bringt er vielleicht am prägnantesten die Sprengkraft des ethischen An-Satzes zum Ausdruck.  

  

II. SPRENGSÄTZE
  
Im Vorwort der 1987 erschienenen deutschen Übersetzung von Totalité et infini (1961) schreibt Lévinas:  
"Das vorliegende Buch, das sich unter phänomenologischen Einfluß weiß und den Geist der Phänomenologie für sich in Anspruch nimmt, ist aus einer langen Beschäftigung mit den Texten Husserls und aus einer unablässigen Aufmerksamkeit auf "Sein und Zeit" entstanden. Weder Martin Buber noch Gabriel Marcel sind dem Text fremd, der auf Franz Rosenzweig vom Vor­wort an verweist. Das Buch beansprucht zudem, im zeitgenössischen Denken, eine Treue zum bahnbrechenden Werk Henri Bergsons, das eine Reihe entscheidender Positionen bei den großen Lehrern der Phänomenologie möglich machte." (TU 7) /4/
Der Hinweis auf Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung [Rosenzweig 1988] gibt zugleich den entscheidenden Wink für den Grundgedanken von Totalität und Unendlichkeit nämlich "der Widerstand gegen die Idee der Totalität" (TU 31). So wie Rosenzweig die Idee der Totalität des Deutschen Idealismus von innen heraus sprengt, so sprengt auch Lévinas den selbständigen Diskurs des abendländischen Logos, der in der Heideggerschen Ontologie kulminiert /5/.  

Paradoxerweise geschieht diese Sprengung des Logos nicht nur in der Nachfolge der Phänomenologie Husserls und Heideggers, sondern vor allem durch einen wiederholten Rekurs auf Descartes und, in einer freilich nicht unproblematischen Umdeutung, auf die erwähnte Platonische Formel. Descartes und Platon, das sind zwei Denker, die von Heidegger und Lévinas, wenngleich auf je verschiedene Weise, destruiert werden. Was dabei entsteht, ist ein höchst bedeutsamer Dia-log, ein Unter-schied, bei Heidegger im, bei Lévinas zum Logos des Seins. Was in Totalität und Unendlichkeit gesprengt wird, ist aber nicht bloß ein theoretisches Denkgebäude, sondern nicht mehr und nicht weniger als der Kerngedanke der neuzeitlichen Ethik, nämlich die Autonomie des freien Subjekts oder, metaphysisch ausgedrückt, die Selbstwerdung des Subjekts als Rückkehr zu sich selbst.
 

a) Vor-Worte

Welcher ist der Ausgangspunkt von Totalität und Unendlichkeit? Es ist jener 'Punkt' nämlich, an dem der philosophische Diskurs zu Ende geht, nämlich der Krieg. Denn im Krieg tritt die "harte Wirklichkeit" anstelle der Worte und Bilder ein (TU 19). Der Krieg, und mit ihm die Politik, ist das Gegenteil der Moral. Wenn im Krieg die Wirklichkeit ausbricht, dann ist er das ontologische Ereignis 'par excellence'. Für die Kriegsteilnehmer ein wohl zynischer Ausdruck bedeutet die Kraftprobe des Krieges vor allem "Gewalt" ("violence") im Sinne des Verlustes der eigenen Tatkraft und Identität und somit Unmöglichkeit Abstand zu nehmen. Der Krieg verschlingt alles in sich:   
    "Das Gesicht des Seins, das sich im Krieg zeigt, konkretisiert sich im Begriff der Totalität." (TU 20)
Nun ist aber 'Totalität' nicht irgendein Begriff, sondern derjenige, der die abendländische Philosophie beherrscht. Diese setzt dem Krieg den "Frieden der Imperien" gegenüber. Sie gibt der Politik den Vorrang vor der Moral. Demgegenüber sieht Lévinas in der "Eschatologie", im "messianischen Frieden", dasjenige Phänomen, das uns jenseits der Totalität führt. Der Ausdruck für dieses die Totalität transzendierende Verhältnis ist das "Unendliche". Der Maßstab des Wahren ist also nicht, wie für Hegel, das Ganze in seiner geschichtlichen Entwicklung, sondern ein dieses Ganze Transzendierende ("par delà la totalité", "un surplus toujours extérieur à la totalité"), das sich aber zugleich innerhalb der Totalität kundtut, indem es zur Verantwortung aufruft. Dieser Gesichtspunkt eines Jenseits, das augenblicklich, und nicht am Ende eines Prozesses, einbricht, ist die Grunderfahrung, die Lévinas in Totalität und Unendlichkeit thematisiert. Eine solche Erfahrung entspringt aber nicht einer eschatologischen Vision, sondern sie vollbringt eine solche:   
    "Die Ethik ist eine Optik. Aber sie ist ein bildloses 'Sehen', ein 'Sehen' ohne die dem Sehen eigenen Vermögen der synoptischen und totalisierenden Objektivation; sie ist eine Beziehung oder eine Intentionalität, die ganz anderer Art ist, und die zu beschreiben sich eben diese Arbeit bemüht." (TU 23)
Befinden wir uns aber dabei nicht im religiösen und somit außerphilosophischen Bereich? Geht es hier um Glauben statt um Wissen? Es wäre in der Tat so, wenn diese Erfahrung sich gänzlich außerhalb der Totalität eignen würde. Für Lévinas geht es aber darum zu zeigen, wie sich diese Erfahrung des Nicht-Wissens sich als solche in einer Situation der Totalität zeigt:  
    "Eine solche Situation ist das Erstrahlen der Exteriorität oder der Transzendenz im Antlitz des Anderen." (TU 25)
Wie aber vermag das Endliche das Unendliche in sich aufzunehmen? Hier greift Lévinas Descartes' Idee des Unendlichen auf. Denn diese Idee überschreitet das Denken und setzt dieses in Beziehung zum absolut Anderen. Anstelle einer autonomen endlichen Subjektivität, sucht Lévinas nicht, wie etwa die Postmoderne, ihre Auflösung, sondern ihren unendlichen Ursprung und stellt diese aus der Unendlichkeit hervorgehenden Subjektivität dem Gesetz des Krieges gegenüber.  
    "Dieses Buch stellt die Subjektivität als etwas dar, das den Anderen empfängt, es stellt sie als Gastlichkeit dar." (TU 28)
Maßstab des Denkens ist nicht die Adäquation zum Objekt, sondern dieser geht die "Inadäquation" zu dem voraus, was den Rahmen des Gedachten "sprengt" ("faire éclater les cadres d'un contenu pensé", TU 29). In Anschluß an die (mittelalterliche) Tradition stellt Lévinas dem Begriff des Denkens den des "Aktes" voraus. Durch den Bezug des Aktes zum Unendlichen überschreitet das Bewußtsein sowohl die Sphäre des Gedachten als auch die Möglichkeit einer Rückkehr zu sich selbst, wie sie etwa Odysseus versinnbildlicht. Für das Begehren ("désir") des Unendlichen steht Abraham Pate. Letzteres ist nicht ein Begehren, das sein Ausgangspunkt im Selben hat, sondern eines, das sich als Anruf des Anderen ereignet.   

Von diesen Prämissen ausgehend, grenzt Lévinas seine Optik von der der Heideggerschen und Husserlschen Phänomenologie ab. Denn das Ziel dieser Philosophie ist nicht die Entbergung des Seins. Diese Entbergung wird nicht bei der Beziehung des Selben zum Anderen vorausgesetzt /6/. Lévinas sprengt aber auch den noetisch-noematischen Rahmen der Husserlschen Phänomenologie, obwohl oder gerade dadurch, dass er sich dieser Methode bedient, um ein Jenseits der sinnstiftenen Subjektivität aufzuzeigen. Gerade weil Exteriorität radikal ist, wählt er den Ausdruck "Metaphysik" für die Bestimmung seines Unternehmens, das jenseits des theoretischen Verhältnisses führt. Dieses "Jenseits" steht aber nicht jenem theoretischen Verhältnis gegenüber, sondern "hier steht eine Beziehung mit dem absolut Anderen oder die Wahrheit; der Königsweg der metaphysischen Transzendenz ist die Ethik." (TU 32) Theorie und Praxis sind, mit anderen Worten, Modi der metaphysischen Transzendenz. Die transzendierende Intentionalität Husserls hat, so Lévinas,

    "diesen Übergang von der Ethik zur metaphysischen Exteriorität möglich gemacht." (TU 33)
In den Schlußsätzen des Vorwortes gibt Lévinas indirekt darüber Auskunft, dass die im Untertitel gewählte Bezeichnung für die Form des Unternehmens, nämlich ein "Versuch über die Exteriorität" (Essai sur l'extériorité), keineswegs im Sinne eines zusammenhanglosen "essays", sondern als eine "streng gegliederte" "recherche" zu verstehen ist. Das System soll ja nicht verlassen, sondern von innen heraus gesprengt werden. Die Exteriorität soll nicht jenseits, sondern innerhalb der Erfahrung erscheinen. Vor-Worte sind aber eigentlich "Ver-sprechungen", die das Sagen nicht ersetzen, sondern versagen.  
  

b) Bei-Worte zum Vor-Gang der Untersuchung

Im Folgenden kann es nicht darum gehen, den Gang selbst durch Nach-Worte zu ersetzen, sondern ihn durch Einblicke zu begleiten. Es geht also eher um Bei-Worte. Diese sind Einblicke eines Fremden. Sie sind unentbehrlich zumal, wenn jene Frage verneint werden soll, die sich Lévinas stellte, als er die Arbeit bereits geschrieben hatte:   
"Und kann man von einem Buch sprechen, als hätte man es nicht geschrieben, als wäre man sein erster Kritiker?" (TU 33)
Man kann es nicht, denn Selbst-kritik bleibt immer Selbst-kritik. Das Selbst kann nicht das Lesen des Anderen ersetzen. Somit sind wir aber schon am Anfang oder Vor-Gang des Weges.

Vor diesem ersten Abschnitt warnt Lévinas den Leser. Der Weg ist dürr, trocken und unbequem. Zugleich aber ist er der Horizont aller darauffolgenden Untersuchungen. Er führt über folgende Gipfel: Metaphysik und Transzendenz, Trennung und Rede, Wahrheit und Gerechtigkeit, Trennung und Absolutes.

'Metaphysik', das ist zunächst ein Begehren, ein Streben nach "ganz Anderem, nach dem absolut Anderen." (TU 35). Diese allgemeine Kennzeichnung der Metaphysik weist unmißverständlich auf Platon hin und auf ihn beruft sich Lévinas auch ausdrücklich, wenn er dieses Streben nach der "Dimension des Hohen" stets in der Gefahr sieht, von den allzumenschlichen Bedürfnissen, vom Hunger und von der Angst, verraten zu werden. Lévinas deutet die Metaphysik im Sinne einer Bewegung, die nicht beim Begehrenden selbst bleiben kann, sondern über dieses hinaus will, zum Anderen hin. So bilden also das Selbe ("le même") und das Andere ("l'autre") eine Beziehung ganz besonderer Art. In der Hegelschen Phänomenologie, Lévinas' erste kontrastierende Folie für die Herausarbeitung der eigenen Optik, vermag das Ich sich im Anderen wiederzufinden, indem es die Unterschiede aufhebt. So vermag das Ich im Leib und im Haus, in der Arbeit, im Besitz und in der Ökonomie heimisch zu werden, indem es seine Möglichkeiten zu einer umfassenden Totalität entfaltet. Wäre also jene metaphysische Beziehung lediglich ein Vorstadium einer solchen Totalität? Oder, anders gefragt, ist eine Beziehung zum Anderen möglich, die dieses Andere "als Anderes anerkennt", und zwar jenseits einer bloßen formalen Andersheit? (TU 43). Das ist Lévinas' Kernfrage in diesen Untersuchungen.

Es ist eine metaphysische Frage, denn sie ist die Frage nach dem absolut Anderen, mit dem ich also keine Totalität, kein "Wir", keine gleichmäßige Mehrheit, bilden kann. In der metaphysischen Beziehung bleibt die Distanz zwischen der Selbstheit des Selben oder dem "Ich" ("Je") und dem Anderen bewahrt. Eine solche Beziehung zum Anderen kann sich aber, so Lévinas, nur als eine Beziehung "Von-Angesicht-zu-Angesicht" ("face-à-face") ereignen (TU 45). Inwiefern? Insofern als die Termini sich nicht durch eine Operation des Verstandes synthetisieren lassen. Das geschieht aber nur, wenn wir Lévinas in seine Einsicht nach-folgen, dass eines der Termini, nämlich das Ich, diese Bewegung vollzieht, von sich also aus-geht, sein Denken überschreitet zu dem hin, was es widersteht, nämlich zum Angesicht eines Anderen. Diese Operation vollbringt dann nicht die Vereinnahmung eines Gegenstandes im Denken, sondern sie vollzieht sich als Sprechen.

Eine so verstandene die Totalität des Selbstdenkens metaphysisch-negierende Bewegung unterscheidet sich von der negierenden Bewegung des Denkens dadurch, dass diese sich stets im Diesseits "ici-bas", so Lévinas im Anklang an das Heideggersche "Dasein" abspielt, während jene die Grenze zum absolut Anderen überschreitet. Die abendländische Ontologie als Logos des Seins und ihr Gipfel, die Heideggersche Ontologie, ist für Lévinas diejenige Theorie, in der das Andere auf das Selbe zurückgeführt wird. Aber die Theorie kennt auch, in der Form der Metaphysik, einen anderen kritischen Weg, nämlich die Möglichkeit des Selben sich durch den Anderen in Frage stellen zu lassen. Diese Möglichkeit heißt Ethik, "in ihr", so Lévinas, "erfüllt sich das kritische Wesen des Wissens." (TU 51). Gegenüber dem Primat des Selben im Sinne der Ontologie, hebt Lévinas dem des Anderen, der Metaphysik als Ethik, hervor. Das Primat des Selben führt zur Ungerechtigkeit, zum Gehorsam gegenüber dem Anonymen, ja zur Tyrannei. Aber nicht die Freiheit, sondern die Gerechtigkeit, nicht das Sein als Totalität, sondern das Seiende als das Getrennte, hat den Vorrang, im Sinne auch des höheren Ranges.

In Anschluß an Descartes' Idee des Unendlichen unterscheidet Lévinas zwischen derjenigen Intentionalität, die den mentalen Akt vom Gegenstand trennt und die, im Falle seines Besitzes, zur Aufhebung des Seins des Gegenstands führen kann, und derjenigen, des Begehrens ("désir"), die das Endliche transzendiert. Dieser Unterschied zwischen "Objektivität" und "Transzendenz" ist also grundlegend. Er vollzieht sich in der Begegnung "face-à-face" mit dem Anderen, dann nämlich, wenn dieser meine Vorstellung stets überschreitet, sie sprengt, so dass das Begehren des Besitzes sich in ein Begehren des Unendlichen verwandelt:   

"Denn die Gegenwart vor einem Antlitz, meine Orientierung auf den Anderen hin, kann die Gier des Blickes nur dadurch verlieren, dass sie sich in Großmut verwandelt, unfähig, den Anderen mit leeren Händen anzusprechen. Diese Beziehung über die Dinge, die von nun an der Möglichkeit nach gemeinsam sind, d.h. fähig, gesagt zu werden - ist die Beziehung der Rede. Die Weise des Anderen sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. Diese Weise besteht nicht darin, vor meinem Blick als Thema aufzutreten, sich als ein Ganzes von Qualitäten, in denen sich ein Bild gestaltet, auszubreiten. In jedem Augenblick zerstört und überflutet das Antlitz des Anderen das plastische Bild, das er mir hinterläßt, überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem Maß ihres ideatum ist - die adäquate Idee. Der Antlitz manifestiert sich nicht in diesen Qualitäten, sondern "kath'autó". Das Antlitz drückt sich aus." (TU 63)
So führt also die vom Ich ausgehende Bewegung der spontanen Freiheit zur Infragestellung eben dieser subjektiven Freiheit hin. Wenn es einen Gedanken gibt, das dem gesamten Denken Lévinas' zugrundeliegt und in seiner Unerschöpflichkeit immer wieder zum Denken, vor allem aber zum Handeln, auffordert, dann ist es der des Antlitzes ("visage") oder genauer, des "Angesicht-zu-Angesicht" ("face-à-face").

Die Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen ist also nicht im Sinne einer "Korrelation" oder Entgegensetzung zu verstehen. Soll sie als ein Verhältnis aufgefaßt werden, das sich jeder Integration widersetzt, dann muß sie anders bestimmt werden. Wird aber eine solche Trennung nicht bloß erdacht? Für Lévinas gründet seine Frage in der konkreten ethischen Erfahrung:

"Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu fordern das Recht habe, nicht verglichen werden." (TU 67)
Dieses Verhältnis ist also asymmetrisch. Ich kann den Anderen nicht mit meinem Maßstab messen und ich kann mich selbst auch nicht mit den anderen "ver-gleichen". Das bedeutet, dass ich auch über mich selbst nicht in der Weise verfügen kann, die mir erlauben würde, mich im Ganzen zu sehen, so dass bei diesem Über-Blick zugleich den Durch-Blick zu anderen "Psychismen" hätte. Es ist also mein Sein selbst, das sich der Totalisierung widersetzt. Dieser Widerstand, der aus der "Idee des Unendlichen" im Cogito entsteht, wird aber vom Denken erst nachträglich entdeckt. Zunächst scheint das Cogito in der Totalität der Geschichte einzugehen. Dem widersetzt sich aber der Psychismus, als ob sein Leben sich eigentlich auf einer anderen Ebene abspielen würde. Hier stellt sich für Lévinas nicht die Frage nach einem Leben nach dem Tode, sondern nach der Nichtintegrierbarkeit der eigenen Zeit in die historische Zeit. Diese Erfahrung des eigenen inneren Lebens oder der Innerlichkeit im Sinne ihrer Nichtintegrierbarkeit in einer geschichtlichen Totalität ist die Quelle für Lévinas' Auffassung eines Verhältnisses zum Anderen, das keine Totalität sondern eine Pluralität bildet. Kennzeichnend für diese Pluralität ist die Trennung im Sinne der Asymmetrie der Beziehungen. Wie radikal der Begriff der Trennung gemeint ist, zeigt sich darin, dass das Cogito fähig ist, sich der Dimension des Unendlichen gegenüber in einem Verhältnis des Glaubens oder des Nicht-Glaubens zu sehen. Daher auch die Bezeichnung der Trennung als "Atheismus" (TU 75). Ein so, d.h. nachträglich, zu seiner Ursache sich verhaltender Psychismus nennt Lévinas "Wille". So ist also das Verhältnis des Selben zum Anderen, des Psychismus zur Idee des Unendlichen, eine radikale Trennung, die sich in der Möglichkeit der Wahrheitssuche und somit auch des Irrtums vollzieht. Diese Suche ist ein Begehren und zwar jenseits des eigenen Glücks:  
"Das Begehren ist das Unglück des Glücklichen, ein verschwenderisches Bedürfnis." (TU 82) 
Das Begehren ("désir") übersteigt also das Ich in seinem egoistischen Genuß ("jouir"), in seinem Glück ("bonheur"). Das Platonische Begehren, mit seiner Ablehnung des Mythos vom Androgynen, bietet hier den Anhaltspunkt für die Erfahrung, die Jenseits des (als Totalität aufgefaßten) Seins führt.

Dieser Bestimmung eines transzendenten Verhältnisses steht die der "gegenständlichen Erkenntnis", im Sinne von einer "Entdeckung" des Wirklichen, gegenüber. Was sich in der Trennung als "an sich" ("kath'auto") offenbart bzw. sich ausdrückt, ist das sprechende Antlitz des Anderen:

"Die Augen, die unverhehlbare Sprache der Augen, brechen durch die Maske hindurch." (TU 89)
Von hier aus öffnet sich die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Beziehung, in der die Gesprächspartner trotz ihres Verhältnisses durch die Sprache einander asymmetrisch bleiben. Hier liegt m.E. ein Ansatzpunkt für eine Kritik der "idealen Kommunikationsgemeinschaft" à la Apel/Habermas. Lévinas grenzt seinen Ansatz nicht nur etwa von Heidegger, sondern auch von Dürckheim sowie von Marcel und Buber - dessen "Du" sowohl Dinge als auch Menschen meint - ab, wiewohl letztere seinem Denken näher stehen. Die Sprache ist nicht etwa das Medium gesellschaftlicher Beziehungen, sondern sie ist primär "Anruf" des Anderen, der keinen Gegenstand meines Verstehens werden kann. Sie ist auch nicht, Hegelianisch aufgefaßt, ein für das Bewußtsein äußeres Ergon,
"denn die objektive Exteriorität des Werkes liegt schon in der Welt, die von der Sprache, das heißt, von der Transzendenz, gestiftet wird." (TU 94)
Die Gemeinschaft der "face-à-face" Redenden gründet also nicht in einer universellen Vernunft, denn eine solche Vernunft braucht letztlich keine Kommunikation und Pluralität. Eine Gemeinschaft, die den Anderen nicht unter-drückt, sondern ihm zum Ausdruck kommen läßt, ist plural, sie ist eine Gemeinschaft "ethischer Art" (TU 69). Was aber fordert konkret der Andere?   
"Die Nacktheit seines Antlitzes setzt sich fort in der Nacktheit des Leibes, der friert und der sich seiner Nacktheit schämt. In der Welt ist die Existenz "kath' auto" eine Misere. Hier besteht zwischen mir und dem Anderen eine Beziehung, die über die Rhetorik hinaus ist. (...) Die Nacktheit des Antlitzes ist Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen, heißt, einen Hunger anerkennen. Den Anderen anerkennen heißt geben. Aber man gibt dem Meister, dem Herrn, man gibt dem, den man in einer Dimension der Erhabenheit mit 'Sie' anredet. (...) Den Blick des Fremden, der Witwe und des Waisen, ich kann ihn nur anerkennen, indem ich gebe oder verweigere; ich bin frei zu geben oder zu verweigern, aber der Weg führt notwendig durch die Vermittlung der Dinge" (TU 102-105) /7/. 
Die Universalität der Sprache ist also ihre Möglichkeit, mit dem Anderen eine Gemeinschaft zu stiften, endet aber nicht mit der Stiftung einer abstrakten Objektivität sondern dadurch, dass wir den Anderen empfangen. Lévinas betont, dass das ethische Verhältnis nicht im Sinne einer mystischen oder numinosen Beziehung aufgefaßt werden darf. Die Beziehung bleibt im Kern "atheistisch". Denn auch die Epiphanie des Göttlichen im Antlitz des Anderen bedeutet nicht, dass der Andere eine Inkarnation Gottes wäre. Für Lévinas stellt die Beziehung von Mensch zu Mensch ein absolutes Primat gegenüber etwa den ästhetischen Beziehungen zum Erhabenen dar. Die Beziehung "von-Angesicht-zu-Angesicht" ist "irreduzibel", sie führt zu keiner Ganzheit, sie ist, paradox ausgedrückt, eine "Beziehung ohne Beziehung" ("rélation sans rélation") (TU 110).  

Das führt zur Kritik jener neuzeitlichen Auffassung von Freiheit, die ihre Erfüllung in einer immer größer werdenden Spontaneität sieht. Messen wir uns aber am Unendlichen, indem wir den Anderen empfangen, dann wird die Autonomie der Freiheit in Frage gestellt. Dieser Empfang vollzieht sich als "Scham". Wovor schämt sich die sich in-Frage-stellen-lassende Freiheit? Vor ihren totalitären und mörderischen Absichten.

"Die Rede und das Begehren, in denen der Andere als Gesprächspartner gegenwärtig ist, als derjenige, dem gegenüber ich nicht können kann, den ich nicht töten kann, bedingen diese Scham (...) Die Moral beginnt, wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst zu rechtfertigen, als willkürlich und gewalttätig empfindet. Ineins damit beginnt die Erforschung des Intelligiblen, aber zugleich zeigt sich die kritische Natur des Wissens, der Rückgang eines Seienden hinter seine Bedingung." (TU 116)
Damit besteht also der Grund des Wissens im Sinne von Kritik zunächst in der ethischen Forderung, den Anderen zu empfangen, d.h. meine Freiheit in Frage stellen zu lassen. Die Kritik führt nicht zur Analyse und Sicherung meiner Vermögen, sondern zu deren Infragestellung. Ein moralisches Wesen ist also ein atheistisches Wesen, das fähig ist, sich zu schämen. Erst kommt also die Gerechtigkeit und dann die Wahrheit. Der höchste Ausdruck der Exteriorität ist die Idee der Schöpfung (ex nihilo) eines solchen moralischen Wesens. Die Gegenüberstellung der ontologischen immanentistischen Tradition und des metaphysischen Gedankens der Transzendenz kommt im letzten Sprengsatz am Schluß dieses ersten ab-gründigen Ganges zum Ausdruck:   
"Das Denken und die Freiheit entstehen für uns aus der Trennung und aus der Rücksicht auf den Anderen diese These ist das Gegenteil des Spinozismus." (TU 149)
Von hier aus werfen wir weitere fremde Ein-Blicke zunächst in die Struktur des Selben dann aber, erneut, in die des Anderen.   
 

c) Die Ökonomie des Selbst und die Stiftung der Pluralität

Die Trennung des Selben als Innerlichkeit bildet keine Vorstufe zu einer späteren Einheit mit dem Anderen. Denn es kommt darauf an, zwischen den Beziehungen der "eigentlichen Transzendenz" und denjenigen, die diesen nur "analog" sind, zu unterscheiden, wobei die Pointe der Analysen darin besteht, zu zeigen, wie die letzteren, also die Beziehungen, in der ich mich als getrennt konstituiere, nur von den ersten her, also von der metaphysischen Trennung des Anderen, zu deuten sind (TU 151). Zu diesen letzteren gehört das "Leben von..." im Sinne des Genusses ("jouissance").

Wir sahen, das für Lévinas Genuß und Glück nicht mit "Begehren" ("désir") zu verwechseln sind. Inwiefern zeigt sich aber im Glück ("bonheur") so etwas wie eine Analogie zur "eigentlichen Transzendenz"? Insofern nämlich, als wir mit Glück eine erfüllte Beziehung zu dem, was "was ich tue und was ich bin" bezeichnen (TU 156). Glück ist also nicht die bloße Erhaltung meines natürlichen Seins, sondern geht über dieses hinaus und in seinem jähen Ereignis zeigt sich seine Unabhängigkeit von der Dauer. Das Bedürfnis ("besoin") als Quelle des Reichtums das Platonische Verhältnis von "penia" und "poros" (Symp. 203-204) , seine Erfüllung im Glück, zeigt die Möglichkeit einer Transzendenz eben dieser Bedürfnisse, die auf die Trennung des Individuums hin zielen. Für Lévinas gründet aber das Bedürfnis im Begehren, denn das Andere des Selbst ist der Leib. Sobald aber das Selbst die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse erreicht, öffnet es sich dem Geistigen, da mit jener Erfüllung die Zeit keineswegs vollendet ist. Diese zeigt sich dann als "grenzenlose Zukunft". Sie kommt von jenseits des erfüllten Bedürfnisses, nämlich vom grenzenlosen Begehren (TU 163). Ferner widersetzt sich das Ich der Einordnung unter dem Allgemeinen als das Individuelle:

"Das Ich ist in ausgezeichneter Weise Einsamkeit." (TU 165) 
Auch die Gegenstände, die Dinge und das Zeug, gehören zum Bereich des Genusses, den dieser   
"umgreift alle Beziehungen mit den Dingen. (...) Den Genuß einer Sache und sei sie ein Werkzeug besteht nicht nur darin, sie dem Gebrauch, für den sie hergestellt ist, zuzuführen die Feder dem Schreiben, den Hammer dem einzuschlagenden Nagel , der Genuß besteht auch darin, sich mit dieser Tätigkeit zu plagen oder daran Freude zu haben." (TU 188)
Das Glück des Genusses erfüllt sich für das Ich bei sich zu Hause, indem es erfülltes, wenngleich flüchtiges Leben ("carpe diem") findet. Auch hier sucht also der Genuß die Trennung. Schließlich gehört auch die Arbeit, "dank derer ich frei lebe, indem ich mich gegen die Ungewißheiten des Lebens versichere" (TU 209) zum Bereich des Genusses.   

Lévinas faßt den bisherigen Weg folgendermaßen zusammen:   

"Die Trennung, der Atheismus, diese negativen Begriffe, ereignen sich durch ein positives Geschehen. Ich, atheistisch, bei sich, getrennt, glücklich, geschaffen sein, dies sind Synonyme. Egoismus, Genuß und Sinnlichkeit und die ganze Dimension der Innerlichkeit sind Artikulationen der Trennung; sie sind erforderlich für die Idee des Unendlichen oder für die Beziehung mit dem Anderen, die sich vom getrennten und endlichen Seienden aus einen Weg bahnt." (TU 211)
Das Wohnen gehört somit für Lévinas zum Wesen des Ich. Denn das Haus ist nicht bloß ein Mittel, ein Werkzeug, sondern der Ort, in dem sich das Bewußtsein inkarniert ("l'incarnation de la conscience" TU 219), als der Ort der Zuflucht und als Vollzug der Innerlichkeit. An diesem Ort trifft Lévinas "das Weibliche" ("le féminin"). Worauf versammelt sich die Sammlung, wenn die Existenz immer abhängig von etwas bleibt? Ist es nicht bloß die Zufriedenheit mit dem Genuß? Lévinas weist auf eine weitere, nämlich auf eine positive Abstandnahme vom Genuß, es ist "eine Dimension der Innerlichkeit im Ausgang von der intimen Vertrautheit, in die das Leben eintaucht!" (TU 221). Diese Intimität ist aber eine "Intimität mit jemandem", die Sammlung ("recueillement") ist ein Empfang ("accueil") (ibid.).  

Ist aber die Gegenwart des Anderen nicht Trennung und Transzendenz? An dieser Stelle gipfelt sozusagen die Paradoxie zwischenmenschlicher Beziehungen. Denn "gleichzeitig" mit der Gegenwart des Anderen in seinem Antlitz vermag er/sie (!) seine/ihre Gegenwart "in seinem Rückzug und in seiner Abwesenheit" zu offenbaren." Diese unscheinbare Anwesenheit oder scheinbare Abwesenheit ist das Wesen der Diskretion:   

"Und der Andere, dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist, von der aus sich der gastfreundliche Empfang schlechthin, der das Feld der Intimität beschreibt, vollzieht, ist die Frau. Die Frau ist die Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit des Hauses und für das Wohnen." (TU 222) 
Dementsprechend ist das sprachliche Verhältnis nicht das "Sie" ("vous") der transzendenden Beziehung zu einem Höheren, sondern das "du" ("tu") der Vertrautheit. Ein solches Du steht aber nicht einem Sie gegenüber, sondern es "schließt alle Möglichkeiten einer transzendenten Beziehung mit dem Anderen ein." (TU 223). Es gibt wenige philosophische Texte, in denen ein männlicher Philosoph sich über das Wesen des Weiblichen das Wesen des Männlichen bleibt Unausgesprochen /8/ so frag-würdig äußert, zumal aus der Sicht der Frauenemanzipation, für die eine solche Gleichsetzung von Weiblichkeit und Frau-sein und ihre Verortung im Haus kaum annehmbar sein dürfte /9/. Dass dies nicht ganz so ist, zeigt Lévinas in seiner "Phänomenologie des Eros" (TU 372 ff). Das Weibliche ("féminité") wird dort auf der einen Seite als das Zärtliche ("tendre") und Zerbrechliche ("fragile"), auf der anderen Seite aber und zugleich (!) als ein "Gewicht an Nicht-Bedeuten" ("ce poids de non-signifiance"), was aber "schwerer ist als das Gewicht des formlosen Wirklichen" bestimmt (TU 375). Das Weibliche ist das Jungfräuliche, das "ewig Weibliche", "was noch nicht ist", ein "Weniger als nichts", "das jenseits der Zukunft verschlossen ist und schlummert und daher ganz anders schlummert als das Mögliche, das sich der Antizipation preisgibt." (TU 376). Das Gegenteil vom Weiblichen ist also nicht das Männliche sondern das Mögliche. Das Weibliche ist ein anderer Name für das absolut Andere. Der Ort der Epiphanie des Weiblichen ist aber das Antlitz der Geliebten, das weibliche Antlitz also. Dieses ist zweideutig, indem es das Unsagbare zugleich sagt und verschweigt. In der erotischen Prophanierung verschweigt sich die Zweideutigkeit selbst. Das Seiende, das sich im Antlitz der Frau präsentiert, ist zweideutig:   
"Es ist Gesprächspartner, Mitarbeiter und Chef von überlegener Intelligenz; es dominiert sehr oft die Männer in der männlichen Zivilisation, in die es eingetreten ist; zugleich aber ist es Frau, die als Frau behandelt werden will, gemäß den unwandelbaren Regeln der zivilen Gesellschaft." (TU 386) 
Das Antlitz der Frau zeigt also auf der einen Seite Offenheit, auf der anderen Seite aber eine Anspielung auf jenes "Weniger als nichts". Eros ist jene Bewegung des Begehrens jenseits des Antlitzes und nähert sich 
"im Schwindel dem Verborgenen oder dem Weiblichen, dem Nicht-Persönlichen, aber das Persönliche geht darin nicht unter." (TU 387)
Das Verborgene, das Weibliche, das ist der Widerstand gegen die soziale Beziehung, gegen die Eingliederung in die Gesellschaft. Eros sucht die Trennung und will lediglich "Glied einer Gesellschaft zu zweit" sein (ibid.). Dabei verschmelzen sich aber das Selbe und das Andere nicht, sondern sie zeugen "jenseits eines jeden möglichen Entwurfs, jenseits eines jeden sinnvollen und intelligenten Könnens" - das Kind (TU 390). Lévinas nennt diese Transzendenz die "Transzendenz der Fruchtbarkeit" (TU 397).   
"Die Sexualität ist in uns weder Wissen noch Können, sondern die eigentliche Pluralität unserer Existenz." (TU 405)
Eine solche Pluralität ist also, etwa gegenüber einer bloßen Pluralität, asymmetrisch und unabschließbar. Sie ist nicht ko- sondern sozusagen "de-relativ". Ihre "Termini" werden wesenmäßig von einem Dritten durchbrochen. Denn das, was die Koexistenz Von-Angesicht-zu-Angesicht offenbart, ist stets ein Drittes. Dieses aber nicht an sich, sondern nur indem es die Ko-relation sprengt und es als wahre nicht aufhebbare Pluralität stiftet.  

Der Sprengsatz ist das Antlitz des Anderen. Dieses ist die "bleibende Öffnung" (TU 283), die sich dem totalisierenden dialektischen oder ontologischen Diskurs unmittelbar widersetzt. Für die kompromißbereite und Fairneß suchende Moderne ist der Andere vor allem die Grenze meiner Freiheit. Die Gerechtigkeit besteht darin, gegenteilige Durchsetzungsinteressen in Einklang zu bringen. Ganz anders bei Lévinas: "Das Seiende, das sich ausdrückt, setzt sich durch; aber er tut dies, indem es mich in seiner Not und seiner Nacktheit in seinem Hunger um Hilfe angeht, ohne dass ich für seinen Anruf taub sein könnte. Dergestalt, dass das Seiende, das sich durchsetzt, mit dem Ausdruck meine Freiheit nicht begrenzt, sondern, indem es meine Güte hervorruft, fördert." (TU 287-88). Somit hat die Sprache primär eine ethische und nicht eine ontologische Funktion. Es ist außerdem eine prosaische Sprache, d.h. sie hat im ethischen Verhältnis keine mystische Funktion. Ferner, ruft die Idee des Unendlichen nicht, wie etwa bei Kant, aus dem Gewissen des autonomen Subjekts, sondern aus dem Angesicht des Anderen. Die Beziehung mit dem Anderen ist die erfahrbare Beziehung mit seiner Transzendenz.  

Sowenig wie Lévinas das Wesen des Weiblichen vom Biologischen her deutet, sowenig deutet er die Gesellschaft vom Genetischen her, aus ihrem Entstehen im Evolutionsprozeß. Das bedeutet nicht die Negation eines "genus humanus", das als biologische Gattung bestimmt werden kann. Die Einheit aber, die durch die Sprache gestiftet wird, ist sozusagen eine Einheit 'sui generis'. Sie ist eine Gemeinschaft ("communauté") in der die Menschen Brüder, d.h. miteinander verwandt sind. Diese Bruderschaft wird aber nicht etwa durch Ähnlichkeit oder durch eine kausal verstandene Vaterschaft gestiftet:   

"Sie ist die Stiftung einer Einzigkeit, mit der die Einzigkeit des Vaters eins ist und nicht eins ist." (TU 390)
Denn, wie wir sahen, bildet der Sohn als Frucht des väterlichen Eros keineswegs bloß eine Verlängerung des väterlichen Ich, sondern bleibt ihm in der Beziehung zugleich äußerlich:   
"Er ist einzig für sich selbst, weil er einzig ist für seinen Vater." (TU 408)
Der Begriff der "Mutterschaft" wird eingeführt, aber lediglich in Zusammenhang mit dem Hüten des Kindes (TU 407). Sowohl die Nichtberücksichtigung des mütterlichen Ich als auch die Betonung des väterlichen Eros und des männlichen Sohnes sind einseitig. Streng genommen ist auch der Gedanke einer Verwandlung der Gesellschaft ("société") in eine Gemeinschaft von Brüdern ("communauté fraternelle") eine romantische Idee, bei Lévinas ist sie eine "eschatologische" Optik. Denn der Unterschied zwischen der Gemeinschaft der Gattung und der brüderlichen Gemeinschaft ist so wenig aufhebbar, wie der zwischen der politischen Gesellschaft und der brüderlichen Gemeinschaft. Dieser letzte Unterschied ist kein Plädoyer für eine amoralische Politik, genausowenig wie der erste die biologische Einheit der Gattung mit der durch die Sprache gestiftete asymmetrische Beziehung verwechselt. Allerdings hat Lévinas recht, wenn er, auf dem Fundament der "Asymmetrie des Interpersonalen" (TU 311), Konsequenzen für die politische Gestaltung der Gesellschaft ziehen will. Ich meine, dass das Antlitz des Anderen durchaus gesellschaftspolitisch zu verstehen ist: Es sind die Leiber und Gesichter der Hungernden, die das satte Selbst einer Gemeinschaft oder einer Gruppe von Ländern in Frage stellen. Auch in dieser Begegnung ist das Dritte gegenwärtig, als jene Dimension nämlich, die die Ebene der bilateralen Beziehungen und Verträge sprengt. Diese Dimension sprengt die Logik des Krieges und die des Handelns. Im Falle des Krieges fehlt jede Beziehung. Der Handel ist wiederum eine Versachlichung des Anderen. Beide, Krieg und Handel, legen die Schwäche des Willens dar:
"Das Gold und die Drohung zwingen den Willen dazu, nicht allein seine Produkte, sondern sich selbst zu verkaufen. Oder auch: Der menschliche Wille ist nicht heroisch." (TU 335)
Letztlich ist es die Sterblichkeit, die "die Setzung eines Für-sich, das nicht schon dem Anderen ausgeliefert und daher nicht schon Ding wäre" verhindert (TU 345). Die Wahrheit des sterblichen Willens ist aber nicht die Furcht vor dem Tod, sondern "die Furcht, einen Mord zu begehen." (TU 359), oder positiv und formelhaft ausgedrückt:   
"Für den Anderen sein heißt - gut sein." (TU 382). Der eigentliche Vollzug des Seins ist Exteriorität. Sein heißt, "von Außen auf uns zu als Getrennter oder Heiliger als Antlitz" (TU 421)
Für die metaphysische Logik des Seins sind das Endliche und das Unendliche zwei Pole, die zu einer Totalität des Realen gebracht werden. Für Lévinas aber ist das Sein nicht Totalität sondern Exteriorität. Das Sein ist also primär das Sein des Seienden (genitivus subiectivus) oder, anders ausgedrückt, das Seiende hat den Vorrang vor dem Sein als Totalität. Was ist, ist die Beziehung zwischen getrennten Seienden, die "rélation sans rélation", das "Von-Angesicht-zu-Angesicht", wodurch das Dritte ein-bricht. Dieser Einbruch sprengt das "Sein als Panorama" (TU 443), die Ontologie des Neutrums. Existieren heißt "über das Sein hinausgehen" (TU 438). Dieses Ausser-sich-gehen ist Beziehung zum Anderen "als Dienst und als Gastlichkeit" (TU 435)
"Im Gegensatz zur Tradition des Spinozismus ereignet sich dieses Überschreiten des Todes nicht in der Universalität des Denkens, sondern in der pluralistischen Beziehung, in der Güte des Seins für den Anderen, in der Gerechtigkeit." (TU 438)
 

III. NACH-WORTE


Ich schließe diese Ein-Blicke in Totalität und Unendlichkeit mit einem Hinweis auf die Rezeption der Philosophie Lévinas in Lateinamerika sowie mit einer Bemerkung zum Thema Heidegger-Lévinas. Mit dem ersten Hinweis möchte ich auf die sozialphilosophische Wirkung in der konkreten Situation eines ausgebeuteten Kontinents aufmerksam machen. Bei dem zweiten geht es mir um die Frage des Verhältnisses zwischen Ethik und Ontologie.

Lévinas selbst hat sich über die Wirkung seiner Philosophie in Lateinamerika sowie auf die Frage nach einer Synthese mit dem Marxismus folgendermaßen geäußert:   

"Ich kannte Dussel, der mich ehedem auch zitierte, und der heute dem politischen -, sogar dem geopolitischen Gedanken viel näher steht. Auf der anderen Seite habe ich eine sehr sympathische südamerikanische Gruppe kennengelernt, die an einer "Philosophie der Befreiung" arbeitet Scannone des näheren. Wir haben hier eine Konferenz abgehalten, mit Bernhard Casper, meinem Freund, dem Freiburger Theologieprofessor, und katholischen Philosophen aus Südamerika. Es gibt da einen interessanten Versuch, auf den südamerikanischen volkseigenen Geist zurückzukommen; im übrigen steht dahinter ein grosser Einfluß Heideggers in der Art, dem 'Rhythmus' der Entwicklung, in der Radikalität der Fragestellung. Ich bin sehr glücklich, sehr stolz auch, wenn ich ein Echo in dieser Gruppe finde. Das ist eine Zustimmung 'von unten'. Das bedeutet, dass es Leute gibt, die auch 'das' gesehen haben." [Lévinas 1986, 42]
Bezüglich des Marxismus betont Lévinas, dass in diesem nicht allein das Moment der Eroberung, sondern auch das "Erkennen des Anderen" (ibid.) gibt, und dass für ihn eine der größten Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dass eine solche Bewegung den Stalinismus gebracht hat: "Das ist die Endlichkeit" (ibid.). Aber zurück zu Lateinamerika. In seiner "Ethik der Gemeinschaft" [Dussel 1988] deutet Dussel das "Antlitz" des Anderen im Sinne der unterdrückten Völker und faßt von hier aus die Praxis der Exteriorität als Praxis der Befreiung auf. Das führt u.a. dazu, die totalisierende Vorstellung einer dialektischen Praxis, von außerhalb ("aná") des Horizonts des Systems, "analektisch" also, zu durchbrechen. Eine solche Sprengung geschieht auch hinsichtlich der Vor­stellung einer "idealen Kommunikationsgemeinschaft" (K.-O. Apel). Denn für Dussel hat die "reale Kommunikationsgemeinschaft", die mehr ist als bloße Argumentationsgemeinschaft, nämlich ethisch-interpellierende Lebensgemeinschaft, das Primat gegenüber dem abstrakt-transzen- dentalen Logos. [Dussel 1990].

Scannone seinerseits /10/, denkt die ethische Dimension in ihrer Inkarnation im "Angesicht der Armen", wobei er diese Inkarnation auch in ihrer konkreten kulturellen Dimension im Sinne des Mestizentums Lateinamerikas auffaßt. Sowohl diese Betonung der symbolischen Dimension als auch eine nicht totalisierende Kategorie des "Wir" des Volkes, grenzen diesen Ansatz von dem des Lévinas und führen diesen explizit auf der Ebene einer konkreten sozialpolitischen inkarnierten und das heißt pluralen Reflexion hin.

Zum Verhältnis Heidegger-Lévinas glaube ich, dass der eigentliche Widersacher in "Totalität und Unendlichkeit" nicht Heidegger, sondern - Spinoza ist /11/. Denn der Duktus der Heideggerschen Seinsfrage besteht gerade darin, die totalisierenden Entwürfe der Metaphysik in Frage zu stellen. Die Existenz, das "Dasein", ist wiederum kein Neutrum, sondern ein Sein nicht nur "mit", sondern auch "für" den Anderen, dass sich als "Draußen-sein" vollzieht und somit die Vorstellung einer in sich abgekapselten Psyche sprengt. Denn Heidegger kennt nicht bloß das von Lévinas hervorgehobene "Besorgen" sondern die "vorspringend- befreiende Fürsorge" als wohl ethische Dimension des "Mitdaseins". Interessanterweise nimmt Lévinas in einem Martin Buber gewidmeten und 1963 veröffentlichen Essay [Lévinas 1963], Heidegger gegenüber Buber in Schutz und zwar in dem Sinne, dass Lévinas den Heideggerschen Begriff der "Fürsorge" als die materielle Sorge um den Anderen versteht. Dabei übersieht er auch hier den Unterschied zwischen der "einspringend-beherrschenden" und der "vorspringend-befreienden Fürsorge" /12/. Auch Buber mißdeutet die "Fürsorge" im Sinne einer äußeren und nicht einer "wesentlichen Beziehung" des Selbst gegenüber dem Anderen [Buber 1962]. Der Mensch vollzieht sich bei Heidegger, so Buber, solipsistisch im Selbstsein /13/. In diesem Sinne betont er in seiner Erwiderung an Lévinas, dass er den geistigen Zugang zum Anderen zwar nicht im Sinne einer "rein geistigen Freundschaft", wohl aber als ein Sichöfnen dem "eigentümlichen Seelenprozeß" des Anderen versteht. Denn, so Buber gegen Lévinas:  

"Wenn alle wohlbekleidet und wohlgenährt wären, wüde das eigentliche ethische Problem erst ganz augenscheinlich werden." [Buber 1963, 618]. 
Demgegenüber bildet die "vorspringend-befreiende Fürsorge", etwa für M. Boss, die Grundlage für das "daseinsanalytische" therapeutische Handeln [Boss 1975]. Der gemeinsam also ethisch mit-geteilte Offenheitsbereich ist auch der zu bedenkende Ort des informationstechnischen Handelns [Capurro 1986]. Die Sprengung der Metaphysik der Präsenz, der Einbruch des Dritten also, wird bei Heidegger durch die stets sich entziehende und als solche sich in der Endlichkeit des Existierens manifestierende Dimension der "Lethe" als Herz der "A-letheia" angezeigt. Sowenig wie für Lévinas die Ethik im Sinne universeller Soll-Sätze verstanden wird, sowenig führt die Seinsfrage zu einem ethik-freien Diskurs. Heidegger bedenkt die Ethik im Sinne des menschlichen Wohnens ("ethos" mit Eta), des endlichen Aufenthaltes des Menschen, der in seinem Handeln wesensmäßig für den Anderen "schuldig" bleibt. Die Größe des phänomenologischen Ansatzes von Lévinas besteht aber freilich darin, diese Erfahrung des Schuldig-seins in der Beziehung "von-Angesicht-zu-Angesicht", als nominale Beziehung also, thematisiert zu haben. Wenn Heidegger die Seinsfrage aus ihrer Leere bzw. Abstraktheit herausholt, dann nicht um eine neue Seinslehre zu gründen, sondern, ganz im Sinne von Vattimos "schwachem Denken" [Vattimo 1990], um sie zur Auflösung zu führen. Wenn sich dann die Dimension der Grundlosigkeit auftut, dann wird diese eben nicht mehr durch ein "il y a" ausgefüllt, sondern dieses wird von jener ausgehöhlt. Von hier aus sucht Heidegger ein Gott jenseits der Metaphysik der Präsenz, aus der Erfahrung der Grundlosigkeit des "Es gibt". Weist vielleicht Lévinas auf das Gemeinsame im phänomenologischen Denken hin, wenn er im Vorwort seines kritischen Werkes Autrement qu'être ou au-delà de l'essence (S. 10) schreibt:
"Mais entendre un Dieu non contaminé par l'être est une possibilité humaine non moins importante et non moins précaire que de tirer l'être de l'oubli où il serait tombé dans la métaphysique et dans l'ontothéologie."
  
ANMERKUNGEN

1. Zu seiner Biographie vgl. [Schmidt/Schischkoff 1982; Krewani 1983, Biographie; Strasser 1987].  

2. Auf den Unterschied zwischen "Ursprung" und "Ausgangspunkt" des Philosophierens macht P. Ricoeur aufmerksam. Vgl. Huizing 1988, 19, der auf Lévinas' Diktum verweist, wonach "jedes philosophische Denken auf vorphilosophischen Erfahrungen" ruht.  

3. Die Berechtigung der Rede von einer "Kehre" im Denken Lévinas ist nicht unproblematisch. Vgl. [Huizing 1988, 126].  

4. Alle TU-Zitate beziehen sich auf [Lévinas 1961/1987].  

5. Lévinas spricht auch von einer "Unterbrechung" (nicht "Abbruch"!) des Denkens. Vgl. [Funk 1989, 101]. 

6. In der deutschen Übersetzung steht für "dévoiler" bzw. "dévoilement" sowie "découverte", "erschließen" bzw. "Erschlossenheit", was "ouverture" heißt. Mit "dévoiler" ist wohl das Heideggersche "Entbergen" gemeint. Die "Erschlossenheit" im Sinne des "Draußen-seins" des "Daseins" steht näher der "Exteriorität", so wie auch der Begriff des "sich offenbaren" im Sinne des Heideggerschen Phänomenbegriffs. Lévinas stellt der "Erkenntnis" des Anderen durch den Selben, die "Offenbarung" ("révélation") des Anderem zum Selben gegenüber (TU 30). Nicht nur der Übersetzer, sondern Lévinas selbst begeht hier ein "qui pro quo", zumal Heidegger keineswegs darauf zielt, "dem Sein durch die Vorstellung gleichzukommen" (ibid.), sondern stets auf die Abkünftigkeit der erkenntnismäßigen Aufklärung verweist.

7. Vgl. [Strasser 1987, 234]: "Der Fremdling, die Witwe, die Waise sind Ausnahmen von der gebräuchlichen sozialen und juridischen Regel. Die biblischen Worte sollen die Einzigartikeit des Einzelnen und seiner Situation paradigmatisch verdeutlichen. Kein einziges gangbares Prinzip paßt auf seinen Fall. Wird der Einzelne aufgrund solch eines universalen Prinzips verurteilt, dann widerfährt ihm Unrecht."

8. In [Lévinas 1986, 36] weist Lévinas auf die Trennung des Menschlichen in 'Mann' und 'Frau' und auf die Andersartigkeit im Weiblichen (wieso nicht im Männlichen?) hin: "die Frau ist weder kontradiktorischer noch konträrer Gegensatz zum Mann, noch wie die übrigen Gegensätzlichkeiten. Das ist nicht wie der Gegensatz von Licht und Finsternis. Die Unterscheidung ist keine zufällige, und es gilt, den Platz all dessen in Hinsicht auf die Liebe zu bestimmen." Die Liebe, das ist Eros und Agape: "Vor dem Eros ist das Angesicht" (ibid.). Wenn das Weibliche "die Andersartigkeit selbst" ist (ibid.), dann scheint es wiederum jenseits des Unterschiedes Mann/Frau zu sein, als das Andere schlechthin. Das Weibliche ist dann ein anderer Name für die Idee des Unendlichen. Zu einer Ontologie der Geschlechterdifferenz, die diese nicht 'ver-gleicht', sondern von der sie geschichtlich-geschicklich unterscheidenden Selbigkeit im Sinne eines sie transzendierenden Dritten denkt vgl. M. Eldred, Der Mann (Frankfurt 1989).  

9. In Lévinas 1986, 36, weist Lévinas auf die Trennung des Menschlichen in 'Mann' und 'Frau' und auf die Andersartigkeit im Weiblichen (wieso nicht im Männlichen?) hin: "Die Frau ist weder kontradiktorischer noch konträrer Gegensatz zum Mann, noch wie die übrigen Gegensätzlichkeiten. Das ist nicht wie der Gegensatz von Licht und Finsternis. Die Unterscheidung ist keine zufällige, und es gilt, den Platz all dessen in Hinsicht auf die Liebe zu bestimmen." Die Liebe, das ist Eros und Agape: "Vor dem Eros ist das Angesicht" (ibid.). Wenn das Weibliche "die Andersartigkeit selbst" ist (ibid.), dann scheint es wiederum jenseits des Unterschiedes Mann/Frau zu sein, als das Andere schlechthin. Das Weibliche ist dann ein anderer Name für die Idee des Unendlichen. 

10. Zu J.C. Scannone vgl. [Capurro 1990 und 1991].  

11. Zum Verhältnis Heidegger-Lévinas vgl. [Derrida 1972] und [Huizing 1988]  

12. Lévinas schreibt: "Buber erhebt heftigen Einspruch gegen den heideggerschen Begriff der Fürsorge, der Sorge um den Anderen, die für den deutschen Philosophen der wahre Zugang zum Anderen sein soll. Sicherlich darf man bei Heidegger nicht Menschenliebe und soziale Gerechtigkeit lernen wollen. Aber die Fürsorge als Antwort auf eine wesentliche Not ist ein Zugang zur Andersheit des Anderen. Sie wird dieser Dimension der Höhe und des Elends gerecht, durch die sich das Verhältnis viel besser kennzeichnet als durch die Umfassung. Man darf sich fragen, ob Nacktheit kleiden und Hunger stillen nicht der wahre konkrete Zugang zur Andersheit des Anderen ist - und zwar echter als die ätherische Luft der Freundschaft. Ist Zwiesprache ohne Fürsorge möglich?" (S. 131-132).

13. Buber schreibt: "In der bloßen Fürsorge bleibt der Mensch, auch wenn er vom stärkstem Mitleiden bewegt wird, wesentlich bei sich; er neigt sich handelnd, helfend dem Anderen zu, aber die Schranken seines eigenen Seins werden dadurch nicht durchbrochen; er erschließt dem Anderen nicht sein Selbst, sondern gibt ihm seinen Beistand; er erwartet ja auch keine wirkliche Gegenseitigkeit, ja er erwünscht sie wohl kaum, er "geht", wie man sagt, "auf den Anderen ein", aber er begehrt nicht, dass der Andere auf ihn eingehe. (...) Der einzelne Mensch trägt bei ihm das Wesen des Menschen in sich und bringt es zum Dasein, indem er zu einem "entschlossenen" Selbst wird. Das Selbst Heideggers ist ein geschlossenes System." (S. 366-369).

  
 
 
   
  
WERKE VON E. LEVINAS (AUSWAHL)

Vgl. [Strasser 1987; Lévinas 1967/1983]  

La théorie de l'intuition dans la phénoménologie de Husserl (Paris, 1930) 
 

De l'évasion. In: A. Koyré, H.C. Puech, A. Spaier, Hrsg.: Recherches philosophiques, t. V. Paris, 1935, S. 373-392). 
 

De l'existence à l'existant (Paris, 1947).
 

Le temps et l'autre. In: J. Wahl, Hrsg.: Le choix, le monde, l'existence (Paris 1948) (Die Zeit und der Andere. Hamburg, 1984).
 

En découvrant l'existance avec Husserl et Heidegger (Paris, 1949, 2. Stark vermehrte Ausgabe 1967) (Die Spur des Anderen, Freiburg/München, 1983).
 


Totalité et infini. Essai sur l'extériorité (Den Haag, 1961) (Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München, 1987).
 

Martin Buber und die Erkenntnistheorie. In: Martin Buber, Hrsg. von P. A. Schilpp und M. Friedmannn. (Stuttgart, 1963) S. 119-134. 
 

Difficile liberté. Essai sur le judaisme (Paris, 1963).
 

Quatre lectures talmudiques (Paris, 1968).
 

Humanisme de l'autre homme (Montpellier, 1972) (Humanismus des anderen Menschen. Hamburg, 1989).
 

Autrement qu'être ou au-delà de l'essence (Den Haag, 1974, 4. Aufl. 1988).
 

Sur Maurice Blanchot (Montpellier, 1975).
 

Noms propres (Montpellier, 1976).
 

Du Sacré au Saint. Cinq nouvelles lectures talmudiques (Paris, 1977).
 

L'au-delà du verset. Lectures et discours talmudiques (Paris 1982).
 

De Dieu qui vient à l'idée (Paris, 1982) (Wenn Gott ins Denken einfällt. Freiburg/München, 1985).
 

Ethique et infini. Entretiens avec P. Nemo (Paris, 1982).
 

Franz Rosenzweig. L'étoile de la redemption. In: Esprit (1982) S. 157-165. 
 


Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe. Gespräch mit E. Lévinas. In: Information-Philosophie 5, (1985) S. 18-25; (1986) S. 34-43 (Orig. in: Concordia 4/1984, Lévinas in Gespräch mit R. Fornet und A. Gomez).

 

LITERATUR

Boss, M.: Grundriss der Medizin und der Psychologie (Bern 1975).

Buber, M.: Werke. I. Band: Schriften zur Philosophie. (München/Heidelberg 1962) S. 360-380. 
 
-: Antwort. In: P.A. Schilpp, M. Friedman, Hrsg.: Martin Buber (Stuttgart 1963) S. 619-620.  

Burggraeve, R.: Emmanuel Lévinas. The Ethical Basis for a Human Society. (Löwen: Center for Metaphysics and Philosophy of God, Institute of Philosophy 1981) (mit umfangreicher Bibliographie)
.

Capurro, R.: Hermeneutik der Fachinformation (Freiburg/München 1986)
.
-: J.C. Scannone. In: J. Nida-Rümelin, Hrsg.: Philosophen der Gegenwart (Stuttgart 1991).  
-: Ethik und Weisheit des Volkes. In: R. Fornet-Betancourt, Hrsg.: Ethik und Befreiung (Aachen 1990) S. 97-107.  

Casper, B.: Illéité. Zu einem Schlüsselbegriff im Werk von Emmanuel Lévinas. In: Phil. Jahrb. 91 (1984) S. 273-288. 
 

Derrida, J.: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas. In: ibid. Die Schrift und die Differenz (Frankfurt a.M. 1972) S. 121-235. 
 

Die Entstehung der französischen Phänomenologie. In: Information-Philosophie, Dezember 1987, 5, S. 54-57.


Dussel, R.: Ethik der Gemeinschaft (Düsseldorf 1988).

-: Die "Lebensgemeinschaft" und die "Interpellation des Armen". Die Praxis der Befreiung. In: R. Fornet-Betancourt, Hrsg.: Ethik und Befreiung (Aachen 1990) S. 69-96.  

Eldred, M.: Der Mann (Frankfurt a.M. 1989). 
 

Funk, F.: "Man muß das Denken unterbrechen!" Emmanuel Lévinas: Philosoph des diachronischen Bruchs. In: W. Schirmacher, Hrsg.: Zeitkritik nach Heidegger (Essen 1989) S. 89-105. 
 

Huizing, K.: Das Sein und der Andere (Frankfurt a.M. 1988).
 

Krewani, W.N.: Einleitung: Endlichkeit und Verantwortung. Anhang: Biographie. In: E. Lévinas: Die Spur des Anderen (Freiburg/München 1983). 
 


Rosenzweig, F.: Der Stern der Erlösung. (Frankfurt a.M. 1988, Erstausgabe 1921). 
 

Schmidt, H.: Philosophisches Wörterbuch (Neu bearb. v. G. Schischkoff, Stuttgart 1982). 
 

Strasser, S.: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas' Philosophie (Phaenomenololgica 78. Den Haag 1978).
 
-: Buber und Lévinas. Philosophische Besinnung auf einen Gegensatz. In: Revue intern. de philosophie 32 (1978) S. 512-525.  
-: Emannuel Lévinas: Ethik als erste Philosophie. In: Waldenfels, B.: Phénomenologie in Frankreich (Frankfurt a.M. 1987), S. 218-265.  

Vattimo, G.: Das Ende der Moderne (Stuttgart 1990).


Waldenfels, B.: Phänomenologie in Frankreich (Frankfurt a.M. 1987).
 


Wolzogen, Chr. v.: Im Angesicht des Anderen. FAZ 25.1.1986, Nr. 21. 
 

  

Letzte Änderung: 6. März  2020

 

 
    

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