DAS INTERNET UND DIE GRENZEN DER ETHIK

Eine neue Informationsethik stellt sich den Ergebnissen der Medienwirkungsforschung


Rafael Capurro 

 
 
 
Vortrag im Rahmen der 2. Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Medienwirkungsforschung (DGMF), Frankfurt a.M. 6.-7. Oktober 1998. Erschienen in: M. Rath, Hrsg.: Medienethik und Medienwirkungsforschung, Wiesbaden 2000, S. 105-126.

 

 

INHALT
   

I. Einleitung    
II. Von Kant zu Habermas und darüber hinaus    
III. Ansätze zur einer neuen Informationsethik    
IV. Ausblick    

Literatur
   
 

 
 
Kurzfassung

'Vom face to face zum interface‘: Unter diesem Motto läßt sich die Erweiterung ethischer Reflexion stellen, die die neuen Medien und ihre globale Vernetzung gegenwärtig bewirken. Eine neue moderne Form universalen ethischen Dialogs scheint greifbar nah. Nimmt man diese mediale Revolution ernst, so kann man sogar von einer – etwa gegenüber Kant und Habermas – neuen Informationsethik sprechen, welche sowohl die Grenzen der Gedankenfreiheit des gedruckten Wortes (Kant) als auch die eines zwar universal ausgerichteten aber durch die Massenmedien verunreinigten und fremdbestimmten Dialogs (Habermas) sprengt. Obwohl das Internet die Vision eines zugleich universalen und dezentralen, d.h. selbstbestimmten Mediums zu verwirklichen scheint, ist die Frage nach Chancen und Grenzen eines ethischen Dialogs in und über dieses Medium noch offen. Der von der UNESCO initiierte und durch den Fachbereich Informationswissenschaft der Universität Konstanz betreute Dialog VF-INFOethics (VF = Virtual Forum) stellt einen Versuch zur Erforschung dieser Frage dar.
 
   
        

I. EINLEITUNG
  

'Vom face to face zum interface': Unter dieses Motto läßt sich die mediale Veränderung ethischer Reflexion stellen, bewirkt durch die Neuen Medien und ihre globale Vernetzung. Eine neue Form universalen ethischen Dialogs scheint greifbar nah. Nimmt man diese mediale Revolution ernst, so kann man sogar von einer – etwa gegenüber Kant und Habermas – neuen Informationsethik sprechen, welche sowohl die Grenzen der Gedankenfreiheit des gedruckten Wortes (Kant) als auch die einer  "von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic!), von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit" (Habermas 1995) sprengt. 


Der Ausdruck face to face deutet auf die Auffassung von Emmanuel Lévinas hin, wonach das Ethische nicht auf einer abstrakten Norm, sondern auf einem unmittelbaren und leibhaftigen Verhältnis face à face – das Medium des Ethischen ist für Lévinas das Gesicht selbst – gegründet ist (Lévinas 1987). Ich will damit nicht behaupten, daß durch die technische Medialisierung zwischenmenschlicher Beziehungen die leibhaftige Begegnung und die strukturelle Bedeutung dessen, was Lévinas "das Gesicht" nennt, obsolet geworden wären. Aber ich meine, daß sowohl die Massenmedien (Rundfunk und Fernsehen) als auch Individualmedien wie das Telefon und die weltweite Vernetzung durch das Internet, ja daß die verschiedenen Hybridformen dieser neuen Medien untereinander und mit den klassischen Medien (Oralität, Printmedien) uns vor neue ethische Fragen stellen, die das Paradigma des face à face in einem anderen Licht erscheinen lassen. Mit anderen Worten, die Frage des Mediums steht heute für die Ethik erneut im Mittelpunkt der Reflexion.  
 

Bereits am Beginn der abendländischen Denktradition finden wir den Übergang vom oralen Medium - personifiziert in der Figur des öffentlich und ‚face to face‘ argumentierenden Sokrates – zur schriftlichen Darstellung eben dieses Mediums in den platonischen Dialogen und wir finden dort eine Reflexion über diesen Übergang. Bekanntlich hat Platon auf die Schwächen der Schrift aufmerksam gemacht. Bei Aristoteles scheint das Vertrauen in die Schrift größer zu sein, wenngleich viele seiner Schriften, nicht zuletzt seiner ethischen, im Kontext der mündlichen Lehre und ihrer pädagogischen Ziele eingebettet sind. Pierre Hadot hat überzeugend gezeigt, daß der Hauptcharakter der ganzen antiken (griechisch-römischen) Philosophie in ihrem Bezug zur konkreten individuellen und sozialen Lebensgestaltung besteht. Die philosophischen Schriften stehen im Dienste dieser Aufgabe (Hadot 1991). Das Medium Schrift hat gegenüber der Oralität eine dienende Funktion. Öffentlichkeit wird primär oral hergestellt. Eine ethische Grundforderung lautet deshalb die ‚Freiheit der Rede‘ (parrhesia) wie sie z.B. von den Kynikern kultiviert wurde (Capurro 1995: 108   

Das unterscheidet die antike von der modernen Informationsethik, so wie diese zum Beispiel durch Immanuel Kant formuliert wird. In der Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Kant 1968, AA VIII) unterscheidet Kant zwischen dem "öffentlichen Gebrauch" und dem "Privatgebrauch" der eigenen Vernunft. Er schreibt:  
 

"Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? Welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf." (AA, S. 37) 
Kant kehrt die Rangfolge der antiken medialen Verhältnisse um. Das kommt in seinem Gebrauch der Termini ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ zum Ausdruck. Öffentlichkeit wird, im Gegensatz zur Antike, "durch Schriften" (ebd.) hergestellt. Der orale Charakter des "Privatgebrauchs" – in unserer heutigen Terminologie ist der amtliche Gebrauch der Vernunft ‚öffentlich‘ – wird von Kant dadurch betont, wenn er schreibt, daß die ihm entsprechende "Gemeinde" "immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung ist." (AA, S. 38) Die Gedankenfreiheit im "öffentlichen Gebrauch" der eigenen Vernunft ist die "wahre Reform der Denkungsart" (AA, S. 36), die eine politische "Revolution", so Kant, niemals zustande bringen kann. Kant erhofft sich aber, daß das "freie Denken" sich auf die "Sinnesart des Volkes" auswirkt, so daß dieses der "Freiheit zu handeln" "nach und nach fähiger wird" und daß jene Denkfreiheit sich "sogar auf die Grundsätze der Regierung" auswirkt, so daß der Mensch, der nicht nur "Theil der Maschine" (AA, S. 37) oder "der nun mehr als Maschine ist" (AA, S. 42), "als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergellschaft" (AA, S. 37), "seiner Würde gemäß" behandelt wird (AA, S. 42). Die Gedankenfreiheit wird um den Preis einer unmittelbaren Einschränkung der Handlungsfreiheit erkauft. Das Medium der (gedruckten) Schriften dient der Vermittlung zwischen dem Allgemeinen der menschlichen Gemeinschaft und dem Besonderen der politischen Sphäre, vorausgesetzt, daß letztere keine Zensur ausübt.   

Nicht die Einschränkung der Freiheit im "öffentlichen Gebrauch" – Kant bezieht sich auf die drei gesellschaftlichen Sphären: Militär ("Offizier"), Kirche ("Geistlicher") und Politik ("Bürger") –, sondern die Einschränkung der Freiheit sich als "Gelehrter" "vor dem ganzen Publikum der Leserwelt" äußern zu können, ist der Aufklärung hinderlich. Die "Gelehrten" sind wiederum nicht im Sinne eines gesonderten Standes zu verstehen, sondern jeder, ob Offizier, Bürger oder Geistlicher, sollte die Möglichkeit haben, als Gelehrter seine Gedanken "öffentlich, d.i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen" (AA, S. 39). Durch den Gebrauch der "eigenen Vernunft" versteht sich der Einzelne "als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft" (AA  37) und genau dies verleiht diesem Gebrauch den Charakter des Öffentlichen. Mit anderen Worten, das Medium der Schriften – Kant lebt im Gutenberg-Zeitalter, die "Schriften" sind keine Handschriften, sondern "Bücher" – ist untrennbar von der Freiheit des Denkens. Oder, anders ausgedrückt, Denken ist ein sozialer und ein medialer Prozeß. Dies wird von Kant in der Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? folgendermaßen ausgedrückt:   

"Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten!" (Kant, AA VIII,  S. 144)

Was ist, nach Kant, ein Buch? In der Metaphysik der Sitten (Rechtslehre § 31, II) gibt er folgende Antwort:  
 
"Ein Buch ist eine Schrift (ob mit der Feder oder durch Typen, auf wenig oder viel Blättern verzeichnet, ist hier gleichgültig), welche eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das Publikum hält.- Der, welcher zu diesem in seinem eigenen Namen spricht, heißt der Schriftsteller (autor). Der, welcher durch eine Schrift im Namen eines anderen (Autor) öffentlich redet, ist der Verleger. Dieser, wenn er es mit jenes seiner Erlaubnis thut, ist der rechtmäßige, thut er es aber ohne dieselbe, der unrechtmäßige Verleger, d.i. der Nachdrucker. Die Summe aller Copeien der Urschrift (Exemplare) ist der Verlag." (Kant 1968 § 31, II) 
Sprechen wird öffentlich durch die Schrift und diese bedarf eines Vermittlers, nämlich des Verlegers. Über den Zusammenhang zwischen Oralität und Schriftlichkeit schreibt Kant anschließend:   
"Schrift ist nicht unmittelbar Bezeichnung eines Begriffs (wie etwa ein Kupferstich, der als Porträt, oder ein Gipsabguß, der als Büste eine bestimmte Person vorstellt), sondern eine Rede ans Publikum, d.i. der Schriftsteller spricht durch den Verleger öffentlich." (ebd.) 
Das Buch ist einerseits "ein körperliches Kunstprodukt (opus mechanicum)" und hat ein "Sachrecht", andererseits aber ist es eine "bloße Rede" des Verlegers, der "im Namen eines anderen (des Autors)" "nachspricht" (praestatio operae). Somit ist das Buch "ein persönliches Recht". Der Autor spricht, indem er im eigenen Namen schreibt und er tut dies durch die Vermittlung eines Verlegers, der ihm "nachspricht", indem er ein "körperliches Kunstprodukt" herstellt. Der Büchernachdruck ist deswegen "von rechtswegen verboten", weil der Nachdrucker keine Vollmacht des Autors hat: Er tut so, als ob das Buch ein bloßes "körperliches Kunstprodukt" wäre, das er nachbilden darf. Ein Buch ist aber nicht nur ein Kunst-Werk (opus mechanicum), sondern der Ausdruck der (freien) (Denk-)Handlungen (praestatio operae) einer Person (Benoist 1995).   

Fazit: Wenn Kant an die Zensurfreiheit denkt, dann denkt er an das Medium Buch, das ein Gegenstand des "Sachrechts" und des "persönlichen Rechts" ist und er denkt insbesondere an Druckschriften, sofern diese paradigmatisch für den Vorgang der – wie er in einem offenen Brief an den Verleger Friedrich Nicolai Über die Buchmacherei schreibt – "fabrikenmäßigen" Vervielfältigung und somit der potentiellen universalen Verbreitung für den universal gewordenen Lesebedarf stehen. Es lohnt sich, Kant hier erneut ausführlich zu zitieren:   

"Die Buchmacherei ist kein unbedeutender Erwerbszweig in einem der Cultur nach schon weit fortgeschrittenen gemeinen Wesen: wo die Leserei zum beinahe unentbehrlichen und allgemeinen Bedürfniß geworden ist.- Dieser Theil der Industrie in einem Lande aber gewinnt dadurch ungemein: wenn jene fabrikenmäßig getrieben wird; welches aber nicht anders als durch einen den Geschmack des Publicums und die Geschicklichkeit jedes dabei anzustellenden Fabrikanten zu beurtheilen und zu bezahlen vermögenden Verleger geschehen kann." (Kant 1968, AA VIII, S. 436) 
Kant reagiert in diesem zweiten offenen Brief An Herrn Friedrich Nicolai, den Verleger verärgert auf den in Nicolais Verlag erschienenen satirischen Roman Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen, in dem die Kantische Philosophie lächerlich gemacht wird, unter anderem durch die Übertragung der Termini a priori und a posteriori durch die Ausdrücke von vorne und von hinten! Er läßt aber die Möglichkeit offen, daß Nicolai nur der Verleger des Romans sei. Hier Kants Antwort:   
"Der, welcher in Fabrikationen und Handel ein mit der Freiheit des Volks vereinbares öffentliches Gewerbe treibt, ist allemal ein guter Bürger; es mag verdrießen, wen es wolle. Denn der Eigennutz, der dem Polizeigesetze nicht widerspricht, ist kein Verbrechen; und Herr Nicolai als Verleger gewinnt in dieser Qualität wenigstens sicherer, als in der eines Autors: weil das Verächtliche der Verzerrungen seines aufgestellten Sempronius Gundibert und Consorten als Harlekin nicht den trifft, der die Bude auffschlägt, sondern der darauf die Rolle des Narren spielt" (Kant 1968, AA, S. 437, Siehe: Anmerkungen des Herausgebers H. Maier, S. 518)
Kant bringt die Grundkategorien der modernen Informationsethik in ihren dualen Spannungen zum Ausdruck: Privatgebrauch vs. öffentlichen Gebrauch der Vernunft, Gelehrtenfreiheit vs. Bürgerpflicht, Oralität vs. (Druck-)Schriften, Freiheit zu handeln vs. Freiheit zu denken, Autor vs. Verleger, Verleger vs. Nachdrucker, Handlung (oder Diskurs) vs. Werk, Freiheit vs. Zensur. 
 

II. VON KANT ZU HABERMAS UND DARÜBER HINAUS 


Ist dieses Kantische duale Konstrukt heute, im Informationszeitalter, zeitgemäß? Jürgen Habermas hat "aus dem historischen Abstand von 200 Jahren" auf einige Grenzen der politischen Philosophie Kants und seiner damit zusammenhängenden - wenngleich nicht so genannten - Informationsethik hingewiesen (Habermas 1995). Habermas nimmt Bezug unter anderem auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden sowie auf die Metaphysik der Sitten (Rechtslehre § 61 ff). Das "Weltbürgerrecht" soll, nach Kant, den "Naturzustand" zwischen den kriegführenden Staaten beenden und zwar in Analogie zum Gesellschaftsvertrag. Dabei hat Kant die Analogie so weit gelten lassen, als er die dem Staat entsprechende Idee einer Weltrepublik durch einen "permanenten Staatenkongreß" (ibid.) ersetzt. Im Licht der Geschichte der letzten zweihundert Jahren kommen aber, so Habermas, drei Entwicklungen entgegen, welche die Kantischen Prämissen reformbedürftig erscheinen lassen. Kant traute nämlich im Hinblick auf den Weltfrieden drei Tendenzen, nämlich der republikanischen Regierungsart, der Kraft des Welthandels und der Funktion der politischen Öffentlichkeit. Dazu bemerkt Habermas:   
  • Kant konnte nicht erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen Staaten entwickeln würden, wo also die Menschen doch nur als "Maschinen" gebraucht wurden. Zugleich aber tendieren demokratischen Staaten sich "weniger bellizistisch" (S. 9) zu verhalten als autoritäre Regime.
  • Der freie Handelsgeist mündete in die kapitalistische Ausbeutung, in Imperialismus und Bürgerkrieg. Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten zu einer Abschwächung der einzelstaatlichen Interessen zugunsten "einer eigentümlichen Diffusion der Macht selber." (ebd. S. 11)
  • Kant rechnete mit der Möglichkeit einer öffentlichen freien Diskussion über das Verhältnis zwischen den Verfassungsprinzipien und den "lichtscheuen" Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so Habermas, "natürlich noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch geprägten, Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum einer vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird." (ebd. S. 11) Kant dachte also, kurz gesagt, an die Öffentlichkeit der "Gelehrtenrepublik". Was er nicht voraussehen konnte, war, so Habermas, "den Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten semantisch degenierten (sic), von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit." (ebd. S. 11) Kant konnte also nicht mit der Informationsgesellschaft rechnen. 

Die von Kant "hellsichtig" (Habermas) antizipierte weltweiten Öffentlichkeit sollte, wie wir gezeigt haben, eine schreibende sein. Es bedürfte allerdings der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts bis am 10. Dezember 1948 die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten. Im Artikel 19 heißt es:  
 
"Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten." (Heidelmeyer 1982)
Allerdings konnte Kant die medialen Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts nicht erahnen. Habermas äußert sich im pejorativen Sinne kulturkritisch, wenn er schreibt:
"Er (Kant, RC) konnte nicht ahnen, daß dieses Milieu einer "sprechenden" Aufklärung sowohl für eine sprachlose Indoktrination wie für eine Täuschung mit der Sprache umfunktioniert werden würde." (Habermas 1995: 11) 
Die "sprechende" Aufklärung war, wohl gemerkt, eine schreibende. Sofern sie die "Weltbürgergesellschaft" bzw. " das ganze Publikum der Leserwelt" und nicht eine transparente "kleinbürgerliche" und "sprechende" Gesellschaft als Adressat hatte, ist (war) sie keineswegs so überschaubar wie sich das Habermas vorstellt. Mit der Wahl des Mediums Buch dachte Kant gerade an die potentielle Universalität der Adressaten jenseits der raum-zeitlichen Einschränkungen oraler Mitteilung an eine "Gemeinde". Kant konnte nicht voraussehen, daß die Welt der Schriften sich zu einer unüberschaubaren "Gutenberg-Galaxis" (McLuhan) entwickeln würde. Habermas ist in dieser Galaxis aufgewachsen.    

Unklar bleibt, inwiefern Habermas 1995 zwischen Massenmedien und Internet "hellsichtig" unterscheidet. Immerhin schreibt er: "diese Weltöffentlichkeit zeichnet sich heute, in der Folge globaler Kommunikation, ab" (Habermas 1995: 11). Es ist nämlich die Frage, ob die elektronische Weltvernetzung – wozu bereits das heutige Internet eine bescheidene Vorstufe sein mag – eine andere Form von Weltöffentlichkeit als die von Kant und Habermas anvisierten, darstellt. Sie ist in der Tat weder Kants "Leserwelt" der Gelehrten noch Habermas’ transparente Kommunikationsgemeinschaft der rational face to face Argumentierenden. Sie vereint die Struktur der Massenmedien mit der der Individualmedien. Dies sind zwei Kommunikationsformen, die noch in Vilém Flussers Kommunikologie auseinandergehalten werden. Flusser unterscheidet nämlich zwischen den dialogischen Medien mit den Strukturen von Kreisen und Netzen und den diskursiven Medien mit pyramidalen, baumartigen und (amphi-)theatralischen Strukturen (Flusser 1996). Während die dialogische Kommunikationsform der Erzeugung von neuen Informationen dient, zielen die diskursiven Medien auf die Verteilung und Bewahrung bestehender Informationen. Das Internet vereint aber die dialogische Struktur des Telefons mit der diskursiven Struktur der Massenmedien. In seiner Konkretion übersteigt es in räumlicher und zeitlicher Hinsicht das universale Verbreitungsideal des Aufklärungsmediums Buch.    

Die Frage nach der Freiheit der Verbreitung – vor allem in Form von Pressefreiheit (freedom of the press), als moderne Fassung der antiken Redefreiheit (freedom of speech) – wird jetzt in Form der Frage nach der Freiheit der Zugänglichkeit zur Weltvernetzung (freedom of access) gestellt. Sie ist die Kernfrage einer postmodernen Informationsethik. Dadurch werden auch zumindest teilweise die modernen Machtverhältnisse umgekehrt: Aufgrund der dezentralen und globalen Struktur des Netzes werden die Sphären der bürgerlichen Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Militär, Kirche) von einem Medium umspannt, das sie nur unzureichend regulieren können. Die globale Vernetzung in der Gestalt des Internet hat weder nur kritisch-aufklärerische Ziele im Sinne Kants noch entspricht sie der Vorstellung einer rationalen Kommunikations- gemeinschaft mit dem Ziel eines universalen Konsensus. Es (das Internet nämlich) aber als eine täuschende, indoktrinierende und sprachlose mediale Öffentlichkeit zu kennzeichnen – Habermas schreibt, daß durch die elektronischen Massenmedien die Aufklärung "sowohl für eine sprachlose Indoktrination wie für eine Täuschung mit der Sprache" (Habermas 1995, S. 11) umfunktioniert wird –, halte ich auch in bezug auf die Massenmedien für eine übertriebene Pauschalierung. Diesen Vorwurf könnte man auch seitens einer oralen Kultur gegenüber der modernen Buchkultur erheben. Er klang schon bei Platon an. Demgegenüber gilt, daß innerhalb eines Mediums wie dem Internet, wo die starre pyramidale One-to-many-Struktur der Massenmedien nicht mehr maßgeblich ist, unterschiedliche Diskussions- und Mitteilungsformen (und –foren) mit verschiedenen kulturell geprägten Rationalitätskriterien und mit veränderbaren Relevanzmaßstäben möglich und wünschenswert sind. Das Internet ist außerdem in bezug auf Oralität und Schriftlichkeit ein Hybridmedium. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Multimedialität, sondern auch auf die Form oder den Stil der Schrift selbst, etwa bei E-Mail sowie bei den unterschiedlichen Formen von Diskussionsforen. Man schreibt wie man spricht – im Gegensatz zum modernen Diktum: ‚Jemand spricht druckreif‘ – und die Zuhörer sind gleichzeitig weltweit verteilt.    

Ich will keineswegs bestreiten, daß sowohl die Massenmedien als auch das Medium Internet weit entfernt sind von dem, was man Informationsgerechtigkeit nennen könnte (Capurro 1998a). Die Spannung zwischen den Informationsarmen und –reichen wird sich womöglich verschärfen, ja sie hat sich in vieler Hinsicht – zum Beispiel in bezug auf die Verteilung von Netzen und Servern – bereits verschärft. Wenn jetzt neben den neuzeitlichen Handelskriegen Informationskriege geführt werden, dann ist Habermas‘ Suche nach einem Grundkonsens auf der Basis einer normativen Übereinstimmung in diesem Bereich eine notwendige Voraussetzung für den anzustrebenden Weltfrieden. Kant stellte, wie wir gezeigt haben, zwei Bedingungen für den fortschreitenden Aufklärungsprozeß, nämlich eine institutionelle (den "permanenten Staatenkongreß") und eine mediale (die zensurfreie Verbreitung von "Schriften"). Für Habermas sollten die Vereinten Nationen der Ort einer universalen rationalen Diskussion sein. Es ist dann die Frage, ob eine UN Informationsagentur notwendig wäre, worauf ich noch zu sprechen komme. In einer solchen Institution können sich die nationalen Partikularinteressen (die einzelnen Informationsmoralen) artikulieren und mögliche cyberwars könnten entschärft werden. Gleichwohl bedarf der Gebrauch der eigenen Vernunft des offenen Mediums der Weltvernetzung als Erweiterung und Überbietung des Aufklärungsmediums Buch. Weltinstitutionen ent- sprechen, mit anderen Worten, Weltforen.   
  
Während in der Aufklärung die staatlichen Moralen den freien Raum des Ethischen nur im Sinne von "Gedankenfreiheit" und nicht von "Handlungsfreiheit" zu gewähren bereit waren, dann stellt heute, im Informationszeitalter, die globalisierte Informations- und Kommunika- tionsstruktur eine zugleich theoretische und praktische Einschränkung der staatlichen Informationsmoralen dar. Eine Umkehrung der Verhältnisse findet statt: Nicht die staatliche Informationsmoral gewährt den freien Raum des Ethischen, sondern der globale Raum des Ethischen bedingt die staatlichen Informationsmoralen. Gedanken- und Handlungsfreiheit lassen sich aber in der globalen Vernetzung nicht mehr voneinander trennen. Handeln heißt immer auch Informationshandeln und dieses findet heute in einem globalen Medium statt, während das Medium Buch eine deutliche Trennung zwischen Theorie und Praxis erlaubte. Wenn aber Freiheit der Maßstab des Universalen ist, ist dann im Internet ‚alles erlaubt‘? Wie steht es bei einem Medium, bei dem es zugleich um Handlungen geht? Die theoretische und praktische Hybridnatur des Mediums Internet und die vielfältigen Spannungen zwischen dieser Konkretisierung des Ethischen und den (staatlichen) Einzelmoralen verlangen nach einer neuen Informationsethik, die sich diesen Fragen stellt.   
   
Ich sehe genau in dieser Hybridnatur des Mediums Internet die Frage nach den Grenzen der Ethik angesiedelt. Dieser Ausdruck ist insofern mißverständlich, als die globale Natur des Internet die einzelnen Informationsmoralen einschränkt, so daß der Titel lauten müßte: Internet und die Grenzen der Informationsmoralen. Das Internet ist aber selber Ausdruck einer sich universal gebenden und wollenden Informationsmoral oder eines Weltinformationsethos. Ethik im Sinne einer Reflexion über Moral läßt sich wiederum nicht von einem bestimmten Medium einschränken. Gleichwohl findet aber ethische Reflexion immer in einem bestimmten Medium statt und wird von diesem mitbestimmt. Die Rede von den ‚Grenzen der Ethik‘ meint in diesem Zusammenhang die Frage, ob ethisch begründete Vorschriften einen normativen Charakter für das Medium Internet haben können, da ein heilloser Krieg der Informationsmoralen kaum eine Alternative sein kann. Anders ausgedrückt: Wo sind die Möglichkeiten und Grenzen der ethischen Reflexion im Hinblick auf die Aufstellung und Begründung einer Internetmoral?   

Diese Frage umfaßt folgende Aspekte:   

  1. Gedankenfreiheit im Netz muß nicht gleich Anarchie oder Anomie bedeuten. Ethische Reflexion kann auf der Basis der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" einen Vorschlag zu einem Minimalkonsens der UN-Mitgliedstaaten erarbeiten und diese können ihn als Basis eines zu praktizierenden Weltinformationsethos annehmen. Das schließt nicht aus, daß die Netgemeinde sich selbst ethische Verhaltensvorschriften gibt, wie das schon der Fall ist. Konfliktfälle und somit Grenzen einer universalistischen ethischen Reflexion finden sich sowohl in jeder dieser Alternativen als auch in ihrem Zusammenspiel. Letzteres halte ich für positiv. Nicht nur die Sphären der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch eine universale auf Konsens ausgerichtete politische Institution bedarf der kritischen Prüfung durch die "eigene Vernunft" (Kant) in einem offenen Medium. Öffentliche Foren im Internet können eine ähnliche Rolle spielen wie die freie Presse in einem Nationalstaat. Das Internet ermöglicht, als universales Medium, und beschränkt zugleich die Ansprüche einer universalistischen Ethik, da es nur Austragungsort und nicht Richtschnur für die Konflikte zwischen den Moralen darstellt. 
  2. Der Gedanke liegt nahe, das Internet als eine, im Sinne Karl-Otto Apels, reale Kommunikationsgemeinschaft zu verstehen, die sich womöglich in Richtung einer "idealen" oder "unbegrenzten" Kommunikationsgemeinschaft hin bewegt oder diese als ihr Apriori voraussetzt (voraussetzen muß) (Apel 1976, Bd. 2) Das Internet ist aber, so wenig wie die Schrift oder sogar die Sprache, kein Medium, bei dem es allein auf rationale Argumentation mit dem ethischen Ziel eines idealen Konsensus ankommt. Dies vorauszusetzen käme der Idee nahe, menschliches Mitsein mit einer engelischen Gemeinschaft "reiner Vernunftwesen" (Kant) zu verwechseln. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Vittorio Hösle in seinem an Hegel orientierten "objektiven Idealismus" dieses Ideal (Apels und Hegels) sogar überbietet, wenn er schreibt: "Für einen objektiven Idealismus ist das Absolute die Totalität der apriorischen Wahrheiten, für einen objektiven Idealismus der Intersubjektivität ist die höchste Bestimmung des Absoluten die Idee einer vernünftigen Intersubjektivität, deren Realisierung das Sittengesetz den endlichen Vernunftwesen unbedingt gebietet." (Hösle 1997: 230)  So gesehen steht das Internet unter dem unbedingten Gebot, die Idee einer vernünftigen Intersubjektivität zu realisieren, was wohl für endliche Vernunftwesen nur bedingt möglich ist. Hier wird letztlich menschliches Handeln als das Handeln eines endlichen Vernunftwesens (oder eines "endlichen Geistes") von und mit Ideen im Medium eines Widerstand leistenden Leibes aufgefaßt. Daher auch die Versuchung in einem Medium, wo Handeln sich als Informationshandeln vollzieht – und ‚Information‘ hat in diesem Kontext wesentlich mit ‚Formen‘ oder ‚Ideen‘ zu tun (Capurro 1978) –, das Ideal einer (absoluten) Kommunikationsgemeinschaft vor- oder zurückzuprojizieren. Auch die vielbesprochene Virtualität dieses Mediums mit der Möglichkeit des Absehens von konkreter Leiblichkeit kann zu pseudoreligiösen Vorstellungen führen (Esterbauer 1998, Capurro 1995). Ich meine aber, daß solche säkularisierten ethischen Ideale – die auf einer hier nicht weiter zu hinterfragenden Geistesmetaphysik beruhen – das Medium Internet überfordern und verfälschen, indem sie es in einem Licht erscheinen lassen, bei dem die konkrete Pluralität von Meinungen und Handlungszwecken zu einem Negativum wird. Internet ist keine Vorstufe eines Netzes reiner Vernunftwesen.     
  3. In Anschluß an Gianni Vattimos "schwaches Denken" können wir im Falle des vernetzten interface von einer Abschwächung der ‚starken‘ Intersubjektivität des face to face (Vattimo 1992) sprechen. Die Cyberkultur des Internet ist (könnte) eine Massenkultur mit menschlichem Antlitz (werden). Die neuen ethischen Sätze finden ihre Grenze im Sinne der alten (Aristotelischen) Abschwächung der (Platonischen) Ethik. So schreibt Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik: 
      "Die Genauigkeit (akribés) darf man nicht bei allen Untersuchungen in gleichem Maße anstreben, so wenig als man das bei den verschiedenen Erzeugnissen der Künste und des Handwerks tut. Das sittlich Gute und das Gerechte, das die Staatswissenschaft untersucht, zeigt solche Gegensätze (diaphorán) und solche Unbeständigkeit (plánen), daß es scheinen könnte, als ob es nur auf dem Gesetz, nicht auf die Natur beruhe. (...) So muß man sich denn, wo die Darstellung es mit einem solchen Gegenstand zu tun hat, und von solchen Voraussetzungen ausgeht, damit zufrieden geben, die Wahrheit in gröberen Umrissen zu beschreiben. (...) Darin zeigt sich der Kenner, daß man in den einzelnen Gebieten je nach Grad von Genauigkeit verlangt, den die Natur der Sache zuläßt, und es wäre genauso verfehlt, wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen, wie wenn man von einem Redner in einer Ratsversammlung strenge Beweise fordern wollte." (Nik.Ethik 1094 b 12-27)
Mit anderen Worten, die irrende, täuschende, umtreibende, "gegensätzliche" und "unbeständige" (Aristoteles) Natur des Menschen ist dem Medium Internet keineswegs fremd, sofern das Netz ein Wohnort des Menschen ist. In der Transparenz und ‚akribischen‘ Genauigkeit des Digitalen kommt stets das Halbdunkel und die beunruhigende Unschärfe der menschlichen Freiheit zum Vorschein. In diesem deshalb ‚un-heimlichen‘ Medium bieten die Homepages nur eine prekäre Behausung. 
 

III. ANSÄTZE ZU EINER NEUEN INFORMATIONSETHIK

Die weltweite digitale Vernetzung stellt die bisherigen Informations- und Kontrollmonopole zumindest teilweise in Frage. Das gilt sowohl für die Möglichkeit der Kontrolle durch Gesetze als auch für die Informationsmonopole der Massenmedien (Presse, Rundfunk, Fernsehen). Wie schwierig und umstritten die Kontrolle des Internet (mit den verschiedenen Diensten: World Wide Web, E-Mail etc.) seitens nationaler und internationaler Gesetzgebung ist, zeigen die bekannten Fälle öffentlicher Zensur bei Internet-Providern. Zugleich wird der dringende Bedarf an politischer Gestaltung offensichtlich, wie die Berichte der Enquete- Kommission Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft (Enquete-Kommission 1997, 1998) sowie die Aktivitäten der Europäischen Union und insbesondere die Programme der DG XIII  zeigen. Die öffentliche Diskussion wird besonders durch die Pornographie-Debatte und auch durch die Möglichkeiten von politischer Subversion und organisierter Kriminalität mittels digitaler Vernetzung geprägt. Während die globalisierte Wirtschaft auf einen weiteren Ausbau der Datennetze verbunden mit einer verschärften Sicherheitskomponente (Stichwort: Kryptographie) drängt, sucht der Gesetzgeber sowohl nach einem besseren Schutz des Einzelnen als auch nach einem gerechteren Zugang zu den elektronischen Märkten. Die Stichworte dazu sind informationelle Selbstbestimmung und informationelle Grundversorgung (Zum folgenden siehe auch: Capurro 1998a).    

Der Informationsmarkt im Sinne der Aufteilung und Verwertung von Medien und Inhalten zwischenmenschlicher Kommunikation macht gegenüber anderen Märkten keine Ausnahme: Es geht hier - wie auch im Falle von Rohstoffen oder industrieller Produktion - um Besitz, Kontrolle und Macht. Die digitale Vernetzung verändert abermals die Rahmenbedingungen der zum Teil über Jahrhunderte gewachsenen gesetzlichen und moralischen Regeln im Umgang mit Schrift, Bild und Ton. Datenschutz und Copyright, Zensur und Kontrolle sowie Zugang zu und Austausch von elektronisch kodifizierten Sendungen aller Art sind Themen, die zur Zeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen zum Teil heftig diskutiert werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei letztlich auf das Maß des Wünschbaren und/oder des Erträglichen. Der klassische Ausdruck für die Suche nach einem Maß menschlicher Handlungen ist Gerechtigkeit. Wie ist Informationsgerechtigkeit im Zeichen der Globalisierung aufzufassen? Ich werde zunächst einen möglichen theoretischen Rahmen für die ethische Diskussion dieser Fragen kurz erörtern (siehe dazu Capurro) und anschließend die Ergebnisse eines UNESCO-Forums über die Frage nach der Kluft zwischen Informationsarmen und –reichen darstellen.

Eine Auswahl der vielfältigen Ressourcen zur informations- und medienethischen Diskussion findet man auf der Ethik-Website der FH Stuttgart, des International Center for Information Ethics (ICIE) sowie in (Wiegerling 1998, Kolb 1998, Capurro 1995a, Capurro et al. 1995b).    

Informationsethik läßt sich als deskriptive und als emanzipatorische Theorie auffassen. Als deskriptive Theorie beschreibt sie die verschiedenen Strukturen und Machtverhältnisse, die das Informationsverhalten in verschiedenen Kulturen und Epochen bestimmen. Als emanzipatorische Theorie befaßt sie sich kritisch mit der Entwicklung moralischen Verhaltens auf individueller und kollektiver Ebene im Informationsbereich. Informationsgerechtigkeit stellt den utopischen Horizont – sie ist eine "regulative Idee" (Kant) - beider Theorieformen dar. Mit anderen Worten, sie hat den Status eines kritischen Korrektivs gegenüber konkreten Ausformungen oder "Lösungen" informationsethischer Konflikte. 

Der Kern einer normativen Informationsethik läßt sich auf der Grundlage einiger Artikel der "Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte" näher bestimmen. Ich meine dabei insbesondere die Achtung vor der Menschenwürde (Art. 1), das Recht auf Vertraulichkeit (Art. 1, 2, 3, 6), das Recht auf (Chancen-)Gleichheit (vor dem Gesetz) (Art. 2, 7), das Recht auf Privatheit (Art. 3, 12), das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 19), das Recht auf Beteiligung am kulturellen Leben (Art. 27), das Recht auf den Schutz der materiellen und geistigen Arbeit (Art. 27). 

Wenn wir uns in bezug auf Informationsgerechtigkeit die Frage stellen: "Wer trägt welche Verantwortung wem gegenüber?", dann kann man diese Frage analytisch auf der Ebene des Einzelnen (Mikroebene), der Institutionen (Mesoebene) und der (Welt-)Gesellschaft (Makroebene) behandeln. Dabei sollte man die Unterscheidung zwischen Moral, Ethik und Recht nicht aus den Augen verlieren. Während Moral (oder Ethos) die gelebten Sitten und Traditionen meint, bezieht sich Ethik auf den kritischen Diskurs über Recht und Moral und Recht auf die staatlich sanktionierten Normen. Ethische Konflikte lassen sich nicht a priori lösen, zum Beispiel durch den Vorrang der Moral gegenüber der Ethik (Fundamentalismus), oder des Rechts gegenüber Ethik und Moral (Legalismus) oder eines bestimmten ethischen Prinzips (ethischer Rigorismus), sondern sie müssen von Fall zu Fall, durch individuelle und soziale Abwägungsprozesse und durch das Zusammenwirken dieser drei Dimensionen entschieden werden. 

So kann man sich zum Beispiel fragen, wie das Recht auf Privatheit eines Informationsnutzers gegenüber Maßnahmen einer Organisation oder gegen rechtliche Eingriffe am (ethisch-)gerechtesten geschützt werden kann (Mikroebene). Oder wie die Verantwortung von Institutionen gegenüber der Gesellschaft bei der Verbreitung von Informationen aussehen soll (Mesoebene). Oder welche Verantwortung der Einzelne gegenüber der Gesellschaft und die Gesellschaft insgesamt gegenüber ihren Mitgliedern bei der Gestaltung des Informationsmarktes übernehmen soll (Makroebene). Auf allen Ebenen können vielfältige Konflikte zwischen Ethik, Moral und Recht auftreten. 

Ein heute besonders "heißdiskutierter" Konflikt bei Fragen der Informationsgerechtigkeit auf Makroebene ist die Kontrolle über die inhaltliche und technische Gestaltung des Cyberspace. Die Diskussion entzündete sich zunächst in den USA in Zusammenhang mit der geplanten rechtlichen Zensur bestimmter Inhalte (Communication Decency Act), wogegen sich die "Internet-Gemeinde", vertreten vor allem durch die Electronic Frontier Foundation (EFF) , heftig wehrte und zwar im Namen von Privatheit, freiem Zugang und freier Meinungsäußerung. Aufgrund der dezentralen Natur des Netzes erweisen sich nicht nur die (rechtlichen) Kontrollversuche, sondern auch die technischen Gestaltungsmaßnahmen als äußerst schwierig. Die Diskussionsbeiträge der diesjährigen Konferenz der Internet Society (ISOC) (Genf, 21.-24. Juli 1998) zeigen die Suche nach einer dezentralen, auf Selbstorganisation basierenden Lösung der (einiger) Probleme im Gegensatz (oder in Ergänzung) zu staatlichen Regulierungsmaßnahmen. 
  

Bernhard Debatin (1998) analysiert die Grenzen der Ethik im Internet anhand von folgenden drei Funktionsbereichen:   

  • Der Funktionsbereich Wissen: Das Internet als gigantischer Wissensspeicher ermöglicht nicht die Herstellung oder das Finden von Wahrheit per Knopfdruck. Die Probleme der Delegation von Such- und Selektionsprozessen an technische Medien sind aber schon aus der ‚Gutenberg-Galaxis‘ (Bibliothekskataloge!) bekannt. Auch die dauernden Modifikationen des Geschriebenen (Digitalisierten) erinnern nicht nur an die Handschriftenkultur, sondern sind m.E. ein Zeichen des oralen Charakters dieses Mediums. Dies gilt auch für die Abschwächung des modernen Begriffs des Autors. Das Medium Internet ermöglicht eher eine andere interface-vermittelte Form von Dialog, bei dem die Meinungen eines ‚Autors‘ nur im Gewebe des Gesprächs verstanden werden können. Debatin hat Recht, wenn er den "Information broker" bzw. den Informationsmanagern eine (den Journalisten vergleichbare) Vermittlungsrolle in diesem Bereich zuweist.
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  • Der Funktionsbereich Freiheit: Die ‚elektronische Agora‘ bringt aufgrund der Interaktivität des Mediums eine neue Dimension für die liberale Demokratie, da sie "eine neuartige Kombination von Individual- und Massenkommunikation" darstellt. Hier sieht Debatin einen Ort und die Chance für eine diskursive Netzöffentlichkeit. Demgegenüber steht die "anarchistische Freiheitsversion" mit dem Anspruch einer eigenen Selbstregulierung, wie sie von der Electronic Frontier Foundation propagiert wird. Schließlich spielt die "wirtschaftsliberalistische Freiheitsidee" eine immer mächtigere Rolle. Die ethisch prekäre Frage lautet dann, wie weit, wer und wo reguliert werden soll.
  • Der Funktionsbereich Identität: Dieser Bereich umfaßt Fragen einer philosophischen Anthropologie bis hin zu elektronisch vermittelten (Cybersex-)Beziehungen und Fällen von wechselnden Identitäten. Eine prekäre Internetethik verweist hier auf die Möglichkeit normativer Selbstregulationen. Wie Debatin betont, lassen sich diese Probleme nicht durch das Recht allein lösen. Auch die Philosophie im Sinne einer ethischen Normierung kann die konkrete Auseinandersetzung nicht ersetzen. Sie kann aber z.B. durch Teilnahme an computervermittelter Kommunikation einen (möglichen) Bezugsrahmen stellen (Debatin 1998).
Bill Clintons Sonderberater in Sachen Cyberspace, Ira Magaziner, befürwortet die Moderatorenrolle der Regierungen und die Selbstkontrolle der Netzteilnehmer. Das bedeutet, auf die obige Unterscheidung bezogen, den Vorrang von Moral (und Ethik) gegenüber Recht. In einem Beitrag für DIE ZEIT mit dem Titel Verfassungsvater des Cyberspace. Die US-Regierung will das Internet durch Selbstkontrolle regulieren – hinter der Idee steckt Clintons Berater Ira Magaziner schreibt Ludwig Siegele:    
"Die Online-Industrie soll sich einen strikten Ehrenkodex geben, Verbraucher etwa darüber aufklären, welche Informationen gesammelt werden und zu welchem Zweck. Unterwirft sich ein Netzdienst solchen Regeln, soll er ein Gütesiegel auf seine Seiten heften dürfen. Bisher ist der Ansatz ein Reinfall. Nach einer Studie der Verbraucherschutzbehörde Federal Trade Commission (FTC) geben nur zwei Prozent der Netzdienste Auskunft darüber, wie sie gesammelte Daten verwenden. Und kein Ehrenkodex bietet Verbrauchern die Möglichkeit, sich zu beschweren." (Siegele 1998)
Wo die Ethik ihre Grenzen hat, versucht das Recht Abhilfe zu schaffen, und umgekehrt. Das Zusammenwirken von Selbstkontrolle und staatlichem Handeln auf technischer Ebene zeigt zum Beispiel der Vorschlag des US Department of Commerce für die Gründung einer Non-for-profit Organisation (IANA = Internet Assigned Numbers Authority), die sich mit dem Management von Internet-Namen und -Adressen befassen soll. Inwiefern tragen solche Maßnahmen zu mehr Informationsgerechtigkeit bei? Die Internet Society ist sicherlich ein besonders geeigneter Rahmen für die Diskussion dieser Fragen. Die von der UNESCO veranstalteten Kongresse und das soeben abgeschlossene virtuelle Forum über Informationsethik sind ebenso geeignet, globale Abwägungsprozesse zu initiieren oder in Gang zu halten.    

Vom 10. bis 12. März 1997 fand der erste UNESCO-Kongreß über ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte der digitalen Information in Monaco statt. Mit Unterstützung der UNESCO organisierte das Institut für Informationswissenschaft der Universität Konstanz ein Virtual Forum-INFOethics (VF-INFOethics), das zunächst in einem Expertenkreis (ca. 50 Teilnehmer), dann aber mit der Möglichkeit allgemeiner aktiver Beteiligung 1997/1998 stattfand. Die Sprache des Forums war Englisch. Im Anschluß an dieses Forum fand eine zweite UNESCO-Konferenz im Oktober 1998 in Monte Carlo statt. Hier die Themen:   

A. Public domain and multilingualism in cyberspace.   
B. Privacy, confidentiality, security in cyberspace.   
C. Societies and globalization.
Die erste Phase des Virtual Forum befaßte sich mit folgenden Themen:   
1. Theoretische Bestimmung von Informationsethik, Rolle der UNESCO   
2. Gesellschaftliche und politische Aspekte der Informationsethik:   
a) Informationsreiche und Informationsarme   
b) Information als öffentliches und/oder privates Gut
3. Ethische Aspekte globaler Informationsmärkte    a) Vertrauen, Eigentum, Gültigkeit von Information   
b) Privatheit, Vertraulichkeit, Sicherheit, Haß und Gewalt im Internet.   
 
Die zweite Phase bezog sich auf die Themen: Privatheit, Informationskluft, Wissenschaft und Ausbildung, Informationsmarkt/öffentliche Aufgaben.   
Da ich selber die Koordination des Themas "Informationsreiche und Informationsarme" übernommen hatte, stellte ich am Ende der ersten Phase die Ergebnisse der Diskussion in Form von Empfehlungen an die UNESCO zusammen. Man findet sie sowie die jeweiligen Einzelbeiträge in der oben angegebenen Website. Ich gebe sie hier in Deutsch wieder:   
  • Ärmeren Ländern bei der Vernetzung helfen, indem vorhandene Ressourcen für eine sinnvolle Nutzung eingesetzt werden. Dadurch sollte auch die Entwicklung von globalen und lokalen Informationskulturen und -ökonomien gefördert werden.
  • Die Entwicklung eines Weltinformationsethos fördern.
  • Konkrete Projekte in informationsarmen Ländern unterstützen, um länderspezifische Informationszentren zu schaffen.
  • Förderung des öffentlichen Bewußtseins über diese Sachverhalte durch virtuelle Foren, Veröffentlichungen und Konferenzen.
  • Ständige, spezifische und detaillierte Information über existierende Informationsaktivitäten in informationsarmen Ländern anbieten.
  • Die UNESCO sollte die Rechte der nicht-Englisch-sprechenden Länder und ihrer ökonomischen Interessen fördern.
  • Die UNESCO sollte sich dafür einsetzen, daß informationsethische Themen in allen Ausbildungsstufen behandelt werden.
  • Die unterstützenden Aktivitäten internationaler Organisationen sollten aufgrund von Basisinitiativen sowie in einer dezentralisierten und koordinierten Form stattfinden.
Vergleicht man diese Empfehlungen mit denen der anderen Diskussionsthemen, stellt man ihren überwiegend pragmatischen Charakter fest. Man nimmt Abstand sowohl von der theoretischen als auch von der praktischen Idee einer "Neuen Informationsordnung" zugunsten der regionalen und/oder kulturellen Eigenregulierung. Wenn man aber den Begriff Ethos im Sinne einer gelebten Moral versteht, dann bieten die Empfehlungen paradoxerweise die Grundlage für eine freie weitgehend sich selbst regulierende Informationsordnung oder eines Weltinformationsethos. Diese Sicht wird zugleich durch die Forderung nach aktiver Unterstützung durch internationale Institutionen ergänzt. Die UNESCO sollte nationalen und privaten Organisationen helfen, öffentliche Informationsquellen – darunter zum Beispiel das kulturelle Erbe eines Landes – elektronisch zu erfassen und zugänglich zu machen. Das ist ein konkreter Weg, um das anfangs erwähnte Stichwort von der informationellen Grundversorgung mit Leben zu füllen. In Sachen Copyright sollte man, so die Empfehlung, nach einem Konsens über eine faire Nutzung suchen. Die Frage ist natürlich wer und wie? Ich war ursprünglich der Meinung, daß eine UN Information Agency als ein dauerhaftes Forum für die Diskussion dieser Fragen dienen könnte. Vermutlich kann die UNESCO diese Aufgabe übernehmen. Das Zusammenwirken mit bereits existierenden Aktivitäten sowohl mit anderen UN-Organisationen als auch mit Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) bis hin zur Internet Society wird uns sicherlich die nächsten Jahre beschäftigen.   

Als Abschluß dieses Abschnittes möchte ich auf unsere eigenen Aktivitäten im Rahmen der Ausbildung von Informationsspezialisten an der FH Stuttgart (HBI) hinweisen (Capurro 1998b). Die HBI organisiert jährlich internationale Workshops zu informationsethischen Fragen, so zum Beispiel über Informationsarmut – Informationsreichtum (1996) , über Ethische Aspekte digitaler Bibliotheken (1997) sowie über Ethik der Cyberkultur (1998) Diese Workshops finden dank der Unterstützung des Referats für Technik- und Wissenschaftsethik an den Fachhochschulen in Baden-Württemberg (RTWE) statt.   
 

AUSBLICK

Die theoretischen und praktischen Probleme einer gerechte(re)n, sich selbst bestimmenden, dezentralen und koordinierten Weltinformation- sordnung oder eines Weltinformationsethos sind von einer kaum zu unterschätzenden Komplexität und lassen sich durch theoretische Ethik-Diskurse sowenig wie durch institutionalisierte auf Konsens orientierte Debatten allein lösen. Gleichwohl gilt, daß Reden und Handeln auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig stattfinden sollten und können. Wenn wir von Erziehung zur Medienkompetenz sprechen, dann ist damit nicht eine bloße Individualethik gemeint, die durch eine Sozialethik oder durch eine Ethik der Institutionen ergänzt werden müßte. Individuum und Gesellschaft sind nicht zwei getrennte Sphären, sondern soziale Strukturen und Einzelhandlungen bedingen sich gegenseitig. Um nicht eine passive Prägemasse für die "in-formierenden" Aktivitäten der Medien zu werden, müssen wir als Individuen und als Gesellschaft lernen, uns Freiräume und "Freizeiten" zu gewähren (Capurro 1995 und 1978). Wir müssen, mit anderen Worten, lernen, uns zu fragen, wer wir sind und wer für was/für wen Verantwortung tragen kann, soll und will (Eldred 1996).   

Der Aufruf zur Selbstkontrolle sollte sich nicht auf Appelle zur Nutzung von Filtering-Software oder zur Einhaltung von Ethik-Kodizes, so nützlich und notwendig auch beides sein mögen, beschränken. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Verleihung des Carl Bertelsmann-Preises 1998 an die kanadische Aufsichtsbehörde für Medien und Telekommunikation (CRTC=Canadian-Radio-television and Telecommunications Commis- sion) und an die amerikanische Initiative zur Selbst-Klassifizierung von Angeboten im Internet (RSACi = Recreational Software Advisory Council on the Internet). Selbstkontrolle sollte als ein Aufruf zur sozialen Wachsamkeit auf der Grundlage einer immer neu zu übenden Sensibilisierung für Situationen der offenen oder verdeckten Ungerechtigkeit oder gar Ausbeutung verstanden werden. Offene ethische Diskurse schließen vielfältige Aktivitäten im rechtlichen und technischen Bereich auf nationaler und internationaler Ebene ein. Die Bewältigung von Komplexität in diesem Bereich kann man nicht billiger haben als durch situationsbezogene Abwägungen und Handlungen bei gleichzeitigem Freilassen und Fördern von nicht-vorhersehbaren Synergieeffekten. Das ergibt ein Wechselspiel zwischen kontingenten (rechtlichen und/oder moralischen) Konsenslösungen und Achtung der kulturellen, ökonomischen und politischen Differenzen.   

Es wäre ein Fehler, wollte man ethische Reflexion auf die Aufstellung und Begründung von Normen einschränken. Mit Recht macht Hans Krämer auf die Einseitigkeit der Ausrichtung der neuzeitlichen Sollens-Ethik und auf die Vernachlässigung der auf die Antike zurückgehenden Tradition der Ethik als Formung des gesamten Lebens aufmerksam (Krämer 1992). So gesehen ist die Frage nach den Grenzen der Ethik im Internet auch die Frage nach der (informationellen) Selbstbegrenzung im Informationszeitalter. Wie läßt sich diese Selbstbegrenzung praktisch vollziehen? Die von Michel Foucault, Pierre Hadot und Paul Rabbow analysierte Tradition der "Technologien des Selbst" (Foucault) – zuletzt durch Wilhelm Schmid in Form einer Philosophie der Lebenskunst auf den Begriff gebracht (Schmid 1998) – bietet hierfür konkrete Anhaltspunkte, um auf je eigene Weise dem Informationsüberfluß gewachsen sein zu können (nicht: um ihn beherrschen zu können) (Capurro 1995a). Es wäre ein Mißverständnis, wollte man diesen Ansatz in die Schublade einer sogenannten individualistischen Ethik ablegen. Denn das Selbst ist nicht ein isoliertes Ich, sondern die je eigene Weise wie wir das Netz der Bedeutungs- und Verweisungszusammenhänge, in denen wir immer schon eingebettet sind, weiter knüpfen. So gesehen ist das Internet ein hervorragendes Medium, um elektronische Strickmuster in Lebensentwürfe hineinzustricken und umgekehrt, freilich ohne das existentielle und technische Risiko des Zerreißens und des Absturzes aufheben zu können. Wir stehen am Anfang dieses Weges.   
  

LITERATUR

Apel, K.O. (1976): Transformation der Philosophie, Frankfurt a.M. 1976,  2 Bde.   

Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. V. G. Bien, Hamburg 1985.   

Benoist, J. (1995): Qu’est-ce qu’un livre? Création, droit et histoire. In: I. Kant: Qu’est-ce qu’un livre? Textes de Kant et de Fichte, traduits et présentés par Jocelyn Benoist, Paris 1995, S. 11-117.   

Capurro, R. (1998a): Informationsgerechtigkeit. In: medien praktisch. Zeitschrift für Medienpädagogik, Heft 88, 1998, S. 42-44.   
- (1998b): Ethik für Informationsanbieter und –nutzer, in: Kolb, A., Esterbauer, R., Ruckenbauer, H.-W. Hg.: Cyberethik. Verantwortung in der digital vernetzten Welt, Stuttgart 1998b, S. 58-72.   
-: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1995a.   
-: Capurro, R., Wiegerling, K., Brellochs, A. Hg.: Informationsethik, Konstanz 1995b   
-: Informationsethik nach Kant und Habermas. In: A. Schramm, Hrsg.: Philosophie in Österreich, Wien 1996, S. 307-310.   
-: Information. Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs, München u.a. 1978.   

Debatin, B. (1998): Ethik und Internet. Überlegungen zur normativen Problematik von hochvernetzter Computerkommunikation.    
In: http://www.uni-leipzig.de/~debatin/German/Netzethik.htm.   

Eldred, M.: Wie ist Informationsarmut möglich? 11 Thesen zum heutigen digitalen Entwurf des Seins.   

Enquete-Kommission Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, Deutscher Bundestag, Hrsg (1997).: Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt, Wettbewerb, Bonn 1997 (Schriftenreihe "Enquete Kommission: Zukunft der Medien", Bd. 1).   
- (1997): Zur Ökonomie der Informationsgesellschaft, Bonn 1997 (Schriftenreihe Bd. 2). Bonn.   
- (1997): Neue Medien und Urheberrecht, Bonn 1997 (Schriftenreihe    
Bd. 3).   
- (1998): Medienkompetenz im Informationszeitalter, Bonn 1997 (Schriftenreihe Bd. 4)   

Esterbauer, R.: Gott im Cyberspace? Zu religiösen Aspekten neuer Medien. In: A. Kolb, R. Esterbauer, H.-W. Ruckenbauer Hrsg.: Cyberethik. Verantwortung in der digital vernetzten Welt, Stuttgart 1978, S. 115-134.   

Flusser, V.: Kommunikologie, Mannheim 1996.   

Habermas, J.: Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstand von 200 Jahren. In: Information Philosophie 5 (1995) S. 5-19.   

Hadot, P.: Philosophie als Lebensform, Berlin 1991.   

Heidelmeyer, W. Hrsg.: Die Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsartikel, Internationale Abkommen, Paderborn u.a. 1982, 3. Aufl.   

Hösle, V.: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1997.   

Kant, I.: Werke. Akademie-Ausgabe, Berlin 1968.   

Krämer, H.: Integrative Ethik, Frankfurt 1992.   

Lévinas, E.: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München 1987.   

Siegele, L.: Verfassungsvater des Cyberspace. Die US-Regierung will das Internet durch Selbstkontrolle regulieren – hinter der Idee steckt Clintons Berater Ira Magaziner, in: DIE ZEIT Nr.34, 13. August 1998, S. 8.   

Vattimo, G.: Die transparente Gesellschaft, Wien 1992.   

Wiegerling, K.: Medienethik, Stuttgart 1999.
 

Letzte Änderung: 18. August  2017
   
 
 
   

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