ETHIK UND INFORMATIK

Die Herausforderung der Informatik für die praktische Philosophie

 
Rafael Capurro
  
 
 
 
Antrittsvorlesung an der Universität Stuttgart, gehalten am 2.5.1990. Zuerst erschienen in: Informatik-Spektrum (1990) 13: 311-320. Erschienen auch in Wolfgang Coy et al. (Hrsg.): Sichtweisen der Informatik. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1992, 343-353. Siehe auch mein Buch: Leben im Informationszeitalter (1995)

 

 

INHALT

Einleitung

1. Das Paradigma der klassischen Informatik
2. Der Mensch als Gegenstand der Informatik  
3. Die Universalität des Symbolbegriffs und die Ansprüche der KI  
4. Die Informatik als hermeneutische Disziplin  
5. Die Herausforderung der Informatik für die praktische Philosophie  

Anmerkungen

Literatur


 
 

Zusammenfassung

Die Diskussion um die ethische Tragweite der Informatik steht in Zusammenhang mit der Frage nach einer Neubestimmung dieses Faches. Gegenüber der herkömmlichen Auffassung als Struktur- und Ingenieurwissenschaft wird die Informatik als hermeneutische Disziplin herausgestellt, mit der Aufgabe der technischen Gestaltung menschlicher Interaktionen mit der Welt. So gesehen überdeckt die Informatik scheinbar den ganzen Bereich der Ethik oder praktischen Philosophie bzw. scheint diesen Bereich überflüssig zu machen. Der Unterschied zwischen der technischen und der ethischen Auffassung menschlichen Handelns ist aber nicht aufhebbar, sondern eine Herausforderung für die philosophische Reflexion sowie für den verantwortungsvollen Einsatz dieser Technik.

Summary

The discussion on the ethical implications of informatics is connection with the question of a new paradigm for this field. According to the classical view, informatics is considered as both a formal and an engineering science. To see it as a hermeneutical science means to consider the technical design of human interactions with the world as its subject domain. This appears to imply that informatics covers the whole field of ethics or practical philosophy and thus makes it superfluous. However, the difference between the tecnical and the ethical viewpoints on human action cannot be eliminated. This difference is a challenge for philosophical reflection as well as for the responsible use of information technology.

  

 
 

Für Hans-Georg Gadamer

EINLEITUNG

Wissenschaften lassen sich nicht ein für allemal bezüglich ihrer Gegenstände und ihrer Methoden bestimmen, sondern sie sind einem Prozeß unterworfen, der nach Thomas S. Kuhn als eine "Struktur" von "normalen" und "revolutionären" Perioden aufgefaßt werden kann [50].  

Dieses Modell stellt, wie Vattimo gezeigt hat [84], die herkömmliche Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Technik auf der einen und Kunst auf der anderen Seite in Frage. Denn das bisherige Unterscheidungskriterium, nämlich die Annahme eines linearen Erkenntnisfortschrittes auf der Basis von letztbegründeter Verifizierbarkeit, kann bestenfalls als ein idealisierter Fall von Geschichtlichkeit verstanden werden. Das Kuhnsche Modell entstammt, so Vattimo, der Sphäre des Ästhetischen, in der das Sichdurchsetzen neuer Paradigmen nicht kumulativ durch Beweise, sondern wahlweise durch Überredungen, d.h. durch eine aktive Teilnahme, durch Interpretationen und Antworten, stattfindet. Damit kulminiert ein Prozeß der Aufwertung des Ästhetischen, der zunächst bis in die Renaissance verfolgt werden kann, aber seine entscheidende Ausprägung und seine philosophiegeschichtliche Antizipation in der im griechischen Sinne technischen Auffassung des Wissens hat.  

Ich meine, daß die zur Zeit geführte Diskussion um eine grundlegende Neubestimmung der Informatik nicht als ein mehr oder weniger beliebiges Beispiel für die Richtigkeit der Kuhnschen Auffassung trivialisiert werden darf. Denn die Bedeutung der Informatik als einer Grundlagendisziplin besteht einerseits in ihrer theoretischen Tragweite, im Sinne einer Wissenschaft, die den eigentlichen technischen Charakter aller anderen Fächer zum Vorschein kommen läßt. W. C. Zimmerli spricht deshalb mit Recht von einer "fortschreitenden Hybridisierung von Wissenschaft und Technik": "Logik ist technisch, Technik logisch." Das bedeutet, daß die Grenzen der Verantwortung zwischen den verschiedenen Akteuren Industrie, Wirtschaft, Hochschule und Politik sich verwischen bzw. daß alle sich über die Folgen ihres techno-logischen Tuns bewußt werden müssen [92].

Zugleich und als Konsequenz dieser Hybridisierung ist es andererseits unbestreitbar, daß die Informatik sich nicht lediglich als eine Grundlagendisziplin im klassischen Sinne, wie etwa Mathematik oder Logik, bestimmen läßt, die sich bloß im Reich der Abstraktionen bzw. Strukturen bewegt und ihre Grenzen dort findet, wo sie angewandt wird. Mit anderen Worten, es scheint gerade so, als ob diese Anwendungen, deren Reichweite nicht eingeschränkt werden kann, ebenfalls zum Kern ihres Selbstverständnisses gehörten. Die Informatik wäre somit die techno-logische Disziplin par excellence.

Wenn dem so ist, dann ist die Frage nach einer paradigmatischen Neubestimmung der Informatik nicht nur von wissenschaftstheoretischer und gesellschaftlicher, sondern auch von philosophischer Bedeutung. Es stellt sich nämlich die Frage, inwiefern dieser zumindest scheinbar universalistische theoretische und praktische Anspruch der Informatik gerechtfertigt ist. Diese Frage ist, wie mir scheint, eine der entscheidenden Herausforderungen, der die Philosophie in unserer Zeit, außer der noch bestehenden Herausforderung durch die moderne Physik, sich gegenübergestellt sieht. Diese Gegenüberstellung, oder, um an Kant zu erinnern, dieser "Streit der Fakultäten", der also kein Krieg, sondern ein "Antagonismus" "zweier miteinander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigter Parteien (concordia discors, discordia concors)" ist [45, A 43] (1), gehört zum Wesen der Philosophie und der Wissenschaften, sofern es ihnen auf Wahrheit ankommt, während die Nützlichkeit "nur ein Moment vom zweiten Range ist." [45, A 25] (2).

So möchte ich also den Streit um die paradigmatische Neubestimmung der Informatik zum Anlaß nehmen, um die der Philosophie hieraus erwachsende Herausforderung einer Wahrheitsprüfung nämlich in bezug auf die Materie des Streites, die nicht mehr und nicht weniger als der Mensch selbst ist in einigen Kernpunkten herauszuarbeiten.

Diese Aussage, daß der Mensch nämlich nicht nur Gegenstand der Philosophie, sondern auch der Informatik wäre, wird gewiß auf Widerspruch stoßen, und es gilt deshalb, sie in ihrem Sinn und Gehalt zu prüfen. Sollte sie standhalten und in ihrem spezifischen Sinn geklärt sein, dann stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, inwiefern der Gesichtspunkt, unter dem die Informatik den Menschen betrachtet, der Sache selbst voll Rechnung trägt. Der Mensch ist für die Philosophie keine Nebensache, vielmehr ist Philosophie

"nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches [...]; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns" [45, A 115-116].
Dieser Text stellt den Beginn eines langen Zitates dar, das Kant einem begleitenden Brief zu einer Dissertation von C.A. Willmans (1797) entnimmt mit dem Hinweis, daß dieser der "Arzneiwissenschaft" sich widmende junge Mann etwas darstellt, "von dem sich auch in anderen Fächern der Wissenschaft viel erwarten läßt" [45,A 116] (3).  

Die "alte Philosophie", so das weitere Zitat, wies dem Menschen einen "ganz unrichtigen Standpunkt" in der Welt an, indem sie ihn   

"zu einer Maschine machte, die, als solche, gänzlich von der Welt, oder von den Außendingen und Umständen, abhängig sein mußte; sie machte also den Menschen zu einem beinahe bloß passiven Teile der Welt." [45, A 116]
Demgegenüber bestimmte die Kritik der reinen Vernunft, daß der Mensch "ursprünglich Schöpfer aller seiner Vorstellungen und Begriffe" und "einziger Urheber aller seiner Handlungen" ist. Mit anderen Worten, Kant zeigte, daß der Mensch zunächst durch Sinnlichkeit und Verstand gekennzeichnet ist. Der Verstand ist ein "aktives Vermögen". Mit Hilfe der Vorstellungen und Begriffe schafft sich der Mensch seine Welt. Ganz im Sinne des modernen Konstruktivismus schreibt Willmans den Verstand auch den Tieren zu, sofern es sich dabei nämlich ebenfalls um ein aktives Verhältnis zu den Wirkungen der Außenwelt handelt. Kant selbst schließt allerdings "nach der Analogie", daß Tiere "nach Vorstellungen handeln". Er faßt ihre "Kunsthandlungen" als "Analogon der Vernunft" auf [46, § 90] (4). Ferner betont Willmans, daß der Verstand "etwas vom Körper Abhängiges", "ein Produkt der Gehirnwirkung" ist. [45, A 125].  

Gerade das Beispiel der Wahnsinnigen zeigt, wie "mit einem anderen Verstande auch eine andere Welt da sein würde" [45, A 120], während aber in Wahrheit der schöpferische Verstand auf die sinnlichen Dinge bezogen bleibt und seine Kategorien auch dort ihre Grenze finden. Der Mensch ist aber nicht bloß als Verstandeswesen ein Handelnder, sondern, und das unterscheidet ihn gänzlich von den Tieren, wesentlich durch seine Vernunft, wobei dann die Gelegenheitsursachen seiner Aktion nicht Gegenstände sind, sondern "Ideen", genauer "das moralische Gesetz". Sowohl als Verstandes- als auch als Vernunftwesen ist also der Mensch ursprünglich ein Handelnder. Handeln das heißt auf Griechisch praxis. So ist also Philosophie als Wissenschaft des vom Handeln her aufgefaßten Menschen ursprünglich praktische Philosophie 

Dieser Ausdruck ist, zumindest für Nicht-Philosophen, heute ungewöhnlich. Dagegen glaubt jeder zu verstehen, was damit gemeint ist, wenn von Ethik die Rede ist. Ethik gehört zweifellos zu den Modewörtern der letzten und vielleicht auch der nächsten Jahre. Es gibt z.B. eine Bioethik und eine Wirtschaftsethik, eine Ethik der Wissenschaften und eine Computerethik. Es gibt Ethik-Kommissionen und -Ausschüsse auf nationaler und internationaler Ebene für die unterschiedlichsten Fragen, und es ist chic, daß das höhere Management sich in Sachen Ethik bei Wochenendseminaren schulen läßt. Genaugenommen stellt aber die Ethik bis hin zur Aufklärung lediglich einen Teil der praktischen Philosophie dar. Diese Tradition, die auf Aristoteles als ihren Begründer zurückblickt, umfaßt alle Bereiche menschlicher Praxis, also Ökonomie, Sozial-, Rechts- und Staatsphilosophie, Anthropologie, Religions-, Geschichts- und Kulturphilosophie [41, 74].  

Praktische Philosophie ist also jener Bereich der philosophischen Reflexion, in dem es um die sittliche Verbesserung des Handelnden geht, wenngleich eine solche Reflexion nicht mit dem tatsächlichen guten Handeln selbst verwechselt werden darf. Aufgabe der praktischen Philosophie ist eine Ausarbeitung der ethischen Dimensionen in den verschiedenen Bereichen menschlicher Praxis. Wenn sie das tut, entfacht sie jenen Widerstreit im Kantischen Sinne mit den einzelnen Disziplinen, die diese Bereiche ebenfalls zum Gegenstand haben, erst aber in der philosophischen Auseinandersetzung zu einer paradigmatischen Bestimmung ihrer Möglichkeiten kommen können.  

Zur Ethik im engeren Sinne gehört die Erörterung all jener Dimensionen, die dem Menschen als ein handelndes Wesen eigen sind, nämlich die Vorzüge des Verstandes, (die dianoetischen Tugenden), und die des Charakters, die ethischen Tugenden, deren Name, so Aristoteles, sich aus dem Begriff Gewöhnung ethos mit Epsilon im Unterschied zu Charakter: ethos mit Etha herleitet [2, 1103 a 14-19]. In einem weiteren Sinne umfaßt aber die Ethik die Frage nach dem guten Handeln nicht nur im individuellen, sondern auch in allen sozial-politischen Bereichen. Man kann im Anschluß an Aristoteles sagen, daß Ethik im engeren Sinne und praktische Philosophie oder Ethik im weiteren Sinne zwar nicht identisch, aber untrennbar sind [8]. In diesem Zusammenhang ist schließlich darauf hinzuweisen, daß für die Gründung der praktischen Philosophie durch Aristoteles die Trennung zwischen ihr und der theoretischen Philosophie von entscheidender Bedeutung ist. Denn dadurch emanzipierten sich gewissermaßen Wissen und Gegenstand der ethischen Reflexion von der theoretischen Allmacht der platonischen Dialektik, sie wird lebensnah und gegenüber dem Diktat absoluter Maßstäbe autonom, ohne daß aber zugleich die ethische Dimension des kontemplativen Lebens (bios theoretikos) geschmälert wird.  

Es geht daraus also klar hervor, daß die Informatik, sofern sie in alle Bereiche menschlicher Praxis eingreift, eine Herausforderung für die praktische Philosophie darstellt. Oder, mit anderen Worten, der Streit, der zur Zeit in der Informatik herrscht, kann als ein ursprünglich philosophischer Widerstreit aufgefaßt werden, wobei es im Kern um das Verhältnis von Ethik und Informatik bei der Bestimmung menschlichen Handelns geht. Wenn wir also nach diesem Verhältnis fragen, dann ist das in der Tat ein weites Feld. Ziel der folgenden Erörterungen ist es, lediglich einige Wegweiser aufzustellen. Wir fangen an mit der Frage nach dem angedeuteten Paradigmenwechsel in der Informatik und lassen uns anschließend auf einige Kernpunkte des Streites ein.  


 
   

1. DAS PARADIGMA DER KLASSISCHEN INFORMATIK


Was ist Informatik? Wir gehen dieser Frage zunächst lexikalisch nach. Das Wort wurde für Erzeugnisse der Firma Standard Elektrik Lorenz Ende der fünfziger Jahre urheberrechtlich geschützt [5] (5). Nachdem das französische informatique durch die Académie Française angenommen wurde, verbreitete sich die Bezeichnung
gegenüber dem schwerfälligen Wort Informationsverarbeitung oder traitement de l'information - in der Bundesrepublik, bis sie Ende der sechziger Jahre allgemein gebräuchlich wurde. Lediglich in den USA setzte sich eine andere Bezeichnung, nämlich computer science, durch. Die DDR dagegen übernahm Informatik als Bezeichnung für die in den siebziger Jahren entstandene Informationswissenschaft oder information science [14, 15, 16]. Schlägt man in einem Fachlexikon nach, dann findet man folgende Definition:   
"Informatik (computer science): Wissenschaft von der systematischen Verarbeitung von Informationen, besonders der automatischen Verarbeitung mit Hilfe von Digitalrechnern (Computer)." [31]
Aus dieser Definition geht hervor, daß die Informatik nicht etwa mit dem Menschen, sondern mit dem Computer zu tun hat. Außerdem besagt diese Definition, daß die Informatik sich zwar mit der "systematischen Verarbeitung von Informationen" beschäftigt und in diesem Sinne ist sie eine formale Wissenschaft, etwa der Logik oder der Mathematik vergleichbar , aber sie tut dies im Hinblick auf die Möglichkeit der Implementierung solcher Strukturen in einer digitalen Rechenanlage bzw. sie tut dies in enger Verzahnung mit Aufbau und Entwicklung solcher Rechenanlagen. Somit gehören also zum klassischen Selbstverständnis der Informatik zwei Momente: Sie ist auf der einen Seite eine Strukturwissenschaft, die sich an der Mathematik und der Logik orientiert, und sie ist zugleich eine Ingenieurswissenschaft, was sich in Bezeichnungen wie Software Engineering, Requirements Engineering, Knowledge Engineering und Systems Engineering niederschlägt [10, 37].

Dieses klassische Selbstverständnis der Informatik stellt sie also sowohl den Naturwissenschaften, bei denen es um Erkenntnis geht, als auch den Geisteswissenschaften, bei denen es um Verstehen geht, gegenüber. Innerhalb dieses klassischen Selbstverständnisses gibt es wiederum die Möglichkeit, Informatik von Informationstechnik zu trennen und einen Gegensatz zwischen theoretischer und praktischer Informatik auf der einen und technischer Informatik auf der anderen Seite zu bilden. Während z.B. F.L. Bauer die Einheit beider Momente neulich hervorgehoben hat [5] gibt es Stimmen, etwa aus dem Bereich Elektrotechnik, welche in einer solchen Einheit eine Vereinnahmung sehen [1, 7, 39]. Trennt man beide Momente und läßt die Informatik nur als Strukturwissenschaft gelten, dann weitet sich ihr Bereich jenseits der technischen (Computer-)Systeme, nämlich auf biologische und soziale Systeme, aus, womit dann die Trennung von den Natur- und Geisteswissenschaften zugleich aufgehoben wird, was auch Bauer zugibt. In diesem Sinne sehe ich auch die im folgenden erläuterte Kritik von W. Hinderer an W. Coy gerechtfertigt.


2. DER MENSCH ALS GEGENSTAND DER INFORMATIK

W. Coy nämlich stellte folgende Definition der Informatik auf: 
"Aufgabe der Informatik ist die Analyse von Arbeitsprozessen und ihre konstruktive, maschinelle Unterstützung." [30, S. 257]
Arbeitsprozesse sind aber nur ein möglicher Anwendungsfall einer sich universell verstehenden Informatik, die, so Hinderer, "unsere kulturelle Entwicklung insgesamt, einschließlich unseres Welt- und Menschenbildes" betrifft [38]. Bei dieser Definition kommt auch besonders zum Ausdruck, wie sehr die Informatik sich bereits als eine Wissenschaft begreift, die sich vom Menschen her versteht und sich auf den Menschen hin orientiert, d.h. diese Definition zeigt an, wie Coy betont, daß ein Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne stattfindet [30, S. 57].  

Die "soziale Bindung" der Informatik kommt ebenfalls in der von Coy zitierten Definition von Kristen Nygaard deutlich zum Ausdruck, sie ist aber bezüglich der Anwendungsfelder umfassender. Sie lautet:   

"Informatics is the science that has as its domain information processes and related phenomena in artifacts, society and nature." [30, S.259; 67]
Die Wende zum Menschen hin ist bereits in Nygaards Überschrift "Program Development as a Social Activity" sowie in der Aussage:   
"To program is to understand!"
unüberhörbar. Mit dieser Veränderung des Selbstverständnisses bezüglich der grundlegenden sozialen Dimension der praktischen Informatik hängt die Infragestellung der überkommenen klassischen Auffassung von der Maschine sowie von der Technik überhaupt als einem neutralen Werkzeug eng zusammen. Diese Auffassung lieferte nämlich die Basis für eine prima facie saubere Trennung zwischen der ethik-freien Arbeit des Ingenieurs und der vom Auftraggeber oder vom praktischen Anwender zu übernehmenden Verantwortung. Diese rationalistische Trennung ist aber inzwischen untragbar geworden. Denn Maschinen sind in ihrem Entwurf und in ihrer Anwendung von ihren Auswirkungen auf den Menschen - von den Auswirkungen auf die Umwelt ganz zu schweigen - nicht abtrennbar. Wir würden uns dabei selbst um eines der wichtigsten Medien zur Selbstdeutung und Selbstgestaltung berauben [3, 4].  

Es ist kein Zufall, wenn gerade solche Aspekte wie Informatik und Gesellschaft, Informatik und Friedenssicherung, Verantwortung der InformatikerInnen bis hin zu den Fragen der Technikfolgenabschätzung und der Informationsgesellschaft den Kernpunkt der zur Zeit geführten Diskussion um eine Neubestimmung der Informatik bilden (6).  

Auch in der in Anlehnung an H. Zemanek entworfenen Theorie der Informatik als Technikwissenschaft von A.L. Luft steht die paradigmatische Kehrtwende zum Menschen im Vordergrund [57, 91]. Denn Luft stellt die klassische Technikauffassung "von innen nach außen", die Trennung also von Produktentwicklung und -nutzung, in Frage und fordert ein neues Technikverständnis "von außen nach innen", d.h. "vom Menschen und seinen Anforderungen" ausgehend,   

"wenn wir die Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolutionen nicht nur als Objekte erfahren, sondern als Subjekte bewußt gestalten wollen." [57, S.10].
Das alte und das neue Technikverständnis haben etwas Gemeinsames: In beiden Fällen geht es nämlich um die Hervorbringung von Werken. Während aber die herkömmliche Technik sich auf stoffliche oder energetische Werke beschränkte, geht es bei der Informatik   
"um die Repräsentation von Wissen in Form von Daten und um die Reduktion geistiger Tätigkeiten auf Algorithmen und maschinell simulierbare Prozesse, d.h. um die Programmierung von Maschinen." [57, S. 14]
Mit anderen Worten, das spezifisch Neue bei der Informatik ist der Entwurf von menschlichen Interaktionssystemen, wobei Luft, ähnlich wie Coy, den Bereich der Arbeit hervorhebt. Es ist kein Wunder, wenn ein auf einem solchen Technikbegriff fundiertes Selbstverständnis der Informatik gerade der Anthropologie und Ethik eine fundamentale Bedeutung beimißt. Dieser Zusammenhang wird um so entscheidender, wenn man bedenkt, daß der Begründer der praktischen Philosophie gerade in der Unterscheidung zwischen poiesis, techne und praxis die Basis für unsere heutige Reflexion über die Zusammenhänge von Ethik und Technik legte. Denn poiesis und techne meinen jeweils das Gestalten von stofflichen Werken bzw. das Wissen um das Hervorbringen eines Endzieles, das außerhalb des Handelnden bleibt. Praxis aber meint jenen Bereich sittlicher Handlungen, der selbstzweckhaft ist und der die allgemeine Norm - das Gute für den Menschen insgesamt - erst in der einsichtigen Beratung in bezug auf den Einzelfall abzuwägen und zu verwirklichen weiß.

Erst auf der Basis einer so verstandenen sittlichen Praxis können poiesis und techne einen menschlichen, d.h. humanitären
und nicht anthropozentrischen oder humanistischen Charakter gewinnen, indem sie vor einen über die notwendige Partialität ihrer Zwecke hinausführenden Horizont gestellt werden. Dieser Horizont ist nichts anderes als die Möglichkeit der gemeinsamen Suche des nicht aufeinander reduzierbaren, aber immer miteinander verflochtenen individuellen, politischen und allgemeinmenschlichen Glücks [9].  
  

3. DIE UNIVERSALITÄT DES SYMBOLBEGRIFFS UND DIE ANSPRÜCHE DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ

Wenn Hinderer die Universalität der Informatik mit Hilfe des Begriffs Symbol zu begründen sucht, dann handelt es sich dabei um einen Begriff, der, wie auch im Falle des Informationsbegriffs, durch eine zunehmende Formalisierung man denke z.B. an Leibniz' Idee einer characteristica universalis die Universalmaschine Computer möglich machte (7). Ein solcher formalisierter, d.h. jeder Bedeutung entleerter Symbolbegriff ist in seiner Logizität ganz und gar ein reines Produkt des menschlichen Geistes. Zudem bedarf er zu seiner unterschiedlichen analogischen Anwendung in den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen einer spezifischen Interpretation, die zwar auf einer Teilidentität beruht, aber nicht reduktionistisch "teleskopisch" oder "fraktal", wie Hinderer sagt - aufgefaßt werden kann. Davon zeugt z.B. die Auseinandersetzung zwischen Programmers ich denke an die "Physical Symbol System Hypothesis" und Konnektionisten im KI-Bereich (8). Vielmehr, kommt gerade in diesem Bereich der Paradigmenwechsel in aller Schärfe, aber auch in der Selbstwidersprüchlichkeit eines programmierten und/oder in seiner materiellen Struktur von uns hergestellten, zugleich aber sich selbst bestimmenden intelligenten Artefakts zum Ausdruck kommt.

Denn hier steht einerseits zweifellos der Mensch in einigen seiner wesentlichen Eigenschaften im Mittelpunkt der Reflexion, und zwar sowohl in bezug auf den schwachen oder engen Anspruch der KI d.h. auf die bloße Simulation intelligenten Verhaltens - als auch auf den starken oder weiten Anspruch d.h. auf die postulierte Isomorphie zwischen "computation" und "cognition" (9). Andererseits aber wird in reduktionistischer Weise der Mensch mit einer scheinbar von seiner Leiblichkeit und Geschichtlichkeit abtrennbaren und in einer anderen Hardware implementierten Intelligenz gleichgesetzt und dieser möglicherweise sogar untergeordnet (10). Spätestens hier tritt in aller Deutlichkeit der Paradigmenwechsel zu der Vorstellung, daß der Mensch Gegenstand der Informatik ist hervor. Um so mehr zeigt sich auch, daß die eigentliche Herausforderung der KI nicht nur technischer, sondern vor allem ethischer Art ist, auch und gerade, wenn die zu erstellende Intelligenz keine menschliche sein soll(te) [21, 22]. Diese Herausforderung wird um so deutlicher, wenn die Vorgabe dieser Systeme nicht ein Programm, sondern, wie Lischka hervorhebt [55, 56], lediglich das "Leibapriori" ist, durch das sie auf hermeneutisch-konnektionistischer Basis sozialisiert werden könnten (11).
 
 

4. DIE INFORMATIK ALS HERMENEUTISCHE DISZIPLIN

Die Wende der Informatik zum Menschen hin vollzieht sich weniger anspruchsvoll, aber deshalb nicht weniger radikal im hermeneutischen (12). Ansatz von T. Winograd und F. Flores (13). Denn gerade das, was im klassischen Selbstverständnis der Informatik ausgeschlossen werden sollte, nämlich der Vorgang der Interpretation als Unterscheidungskriterium zwischen Struktur- und Ingenieurswissenschaften auf der einen und Geisteswissenschaften auf der anderen Seite, wird jetzt der theoretischen, praktischen, technischen und angewandten Informatik zugrunde gelegt. Was die Autoren in Frage stellen, ist genau jene rationalistische Tradition, die den Kern der klassischen Auffassung der Informatik und der von ihr noch teilweise abhängigen KI-Forschung bildet, deren theoretische Bestandteile vor allem in der Trennung zwischen einer Außen- und einer Innenwelt ihre Grundlage fanden. Denn erst die Vorstellung einer objektiven Welt, die durch mentale Repräsentationen abbildbar wäre, gibt die Garantie für eine auf der Basis der symbolischen Formalisierung wiederholbare Implementierung von gewissen Gehirnfunktionen, deren Ergebnis dann Wissen genannt werden kann. Das so Konzipierte kann gespeichert und bei der Lösung von Problemen eingesetzt werden. Wenn dies mit Hilfe des Computers geschieht, dann können wir auch sagen, daß Computer in gewisser Weise intelligent sind, daß sie denken, Experten ersetzen, Wissen speichern usw.  

Winograd und Flores zeigen aber, daß diese Auffassung des Menschen auf einer verzerrten Idealisierung der tatsächlichen Bedingungen unseres "In-der-Welt-Seins" (Heidegger) beruht. Denn wir befinden uns ursprünglich d.h. bevor eine abstrakte Trennung zwischen einer objektiven Außenwelt und einer in sich eingekapselten Subjektivität durchgeführt werden kann in einem unmittelbaren praktischen Umgang mit den Dingen in einer gemeinsam mit-geteilten Welt. Bereits bei dieser phänomenologischen Bestandsaufnahme wird deutlich, welchen Stellenwert dem Menschen als einem Handelnden, dem Praxis-Bezug also, beigemessen wird. Daß es dabei aber nicht um eine pragmatistische, aktionistische oder gar irrationalistische Auffassung geht, zeigt die auf Heidegger und Gadamer sich berufende Einsicht der Verfasser in die hermeneutische Natur dieses Umgangs mit Werkzeugen im alltäglichen Besorgen.

Denn bei dieser praktischen Welterschließung geht es um einen unabschließbaren Prozeß, in dem der Mensch die Welt im Sinne eines nichteinholbaren Horizontes seines zeitlichen Daseins entdeckt und aufgrund dieser Transzendenzerfahrung erst die Möglichkeit zu einer Vielfalt theoretischer Seinsentwürfe gewinnt. Diese praktischen und theoretischen Verstehensprozesse sind wiederum nicht monologisch, sondern in der Sprache eingebettet. Das bedeutet wiederum, daß Sprache das Medium sozialer Verpflichtungen ist ("commitments"). Die Konsequenzen dieser hermeneutischen Reflexion für die Grundlegung der Informatik sind bedeutsam, denn jetzt stehen der Aufbau des Computers und seine Programmierung in einem unlösbaren Zusammenhang mit dem Medium, in dem sie existieren, d.h. mit der Sprache. Computer sind "tools for conversation", womit zwischenmenschliche Interaktionen technisch unterstützt werden können. Das heißt aber wiederum, daß die ethischen Fragen, die eine so vom Menschen her und auf den Menschen hin hermeneutisch fundierte Informatik aufwirft, eben von dieser Wissenschaft nicht behandelt werden können, sondern stets vorverstanden bleiben. Und gemeint ist stets der Mensch in der Welt und nicht der anthropozentrische Wahn einer weltlosen und monologischen Subjektivität, die alles auf sich bezieht, um in der psychischen Repräsentation alles in sich wieder zu finden.  

Mit anderen Worten, gerade im Augenblick, da die Informatik sich in einer paradigmatischen Wende befindet, werden die ethischen Dimensionen in der ganzen möglichen Konkretheit der Informatik-Anwendungen in allen Bereichen menschlichen Handelns offensichtlich. Der Begriff Anwendung führt aber vermutlich hier in die Irre, denn er könnte im Sinne der klassischen Auffassung mißdeutet werden. Es ist jetzt aber nicht so, daß zu Beginn die Entwicklung eines abstrakten Programms steht, das danach angewandt wird, sondern der hermeneutische Ruf Nygaards: "To program is to understand!" bedeutet, daß das Verstehen die Grundlage für die Programmierung bildet. Die rationalistische Umkehrung des Satzes, nämlich "to understand is to program", würde bedeuten, daß die Faktizität und die Situationshaftigkeit unseres Existierens letztlich einholbar wären, was aber eine u.U. gefährliche Illusion ist. Auch der Begriff des Werkzeugs könnte, wie schon angedeutet, in scheinbarer ethischer Neutralität als Maschine mißverstanden werden. Ich meine aber darüber hinaus, daß die Informatik gerade aufgrund ihrer praktisch-ethischen Universalität nicht als "Werkzeugwissenschaft" (Ganzhorn) trivialisiert werden darf bzw. daß die Ausmaße ihrer Erzeugnisse man denke an die sozialen Risiken umfassender Computernetze nicht verniedlicht werden dürfen [37].   

Denn Software-Werkzeuge sind, wie Budde und Züllighoven richtig ausführen [12], nicht kontext- oder wertneutral, sondern sie stellen - so die Autoren in Anschluß an Heideggers Daseinsanalytik - eine Erweiterung und Verdeckung unserer Handlungsmöglichkeiten auf der Basis einer als wiederholbar erkannten Routine dar, wobei diese Möglichkeiten immer schon in einem sozialen Interaktionsprozeß eingebettet sind. Der Werkzeugbegriff hängt eng mit dem Maschinenbegriff zusammen, im Sinne nämlich eines "Umschlagens" (Heidegger) vom "besorgenden" Umgang zur Theorie. Mit anderen Worten, durch die Formalisierung oder Algorithmisierung werden wiederholbare Handlungsaspekte aus ihrem Kontext herausgelöst und ausdrücklich thematisiert (14). Diese Kerntätigkeit des Informatikers ist also erst auf der Basis der vorverstandenen Handlungssituation und im Hinblick auf ihre Rekontextualisierung sinnvoll. Hermeneutisch gesehen sind demnach der Werkzeug- und der Maschinenbegriff komplementär. Der Entwurf von Maschinen mit Hilfe von Programmiersprachen ist nicht aus dem hermeneutischen Zirkel herauslösbar.  

Die Ambivalenz der modernen Technik ist aber nicht im Sinne einer von außen zu treffenden Option zwischen einem richtigen oder falschen Gebrauch eines Werkzeugs zu verstehen, sondern sie beruht darin, wie Hans Jonas richtig bemerkt, daß bei ihren Ergebnissen "manche versittlichend und andere entsittlichend wirken, oder dieselben auch beides, und ich wüßte nicht, wie hier eine Bilanz zu ziehen ist." [44, S. 297] Erst wenn wir die Technik als eine radikale Dimension unseres Existierens auffassen, oder, anders ausgedrückt, erst wenn wir uns gewissermaßen als die ursprünglich Künstlichen, d.h. als die in der Kunst des Lebens Erfahrenen und uns in das eigene und fremde Leben 'ge-wissen-haft' Einfügenden verstehen, werden wir auch anfangen, unsere bisherige "Todestechnik" in eine "Lebenstechnik" (Schirmacher) zu verwandeln (15).

Dies tun wir aber nicht primär in einer 'auto-', sondern in einer 'hetero-poiese', d.h. in einem auf den anderen hin sich richtenden und von ihm/ihr sich beurteilenlassenden in unserem Fall also informationstechnischen (Lebens-) Entwurf möglicher zwischen- menschlicher Interaktionen. Es gilt dann, wie C. Floyd [33, 11] im Anschluß an den radikalen dialogischen Konstruktivismus H. v. Foersters [34] und G. Pasks [70] ausführt, die Einbettung der Softwareentwicklung in menschliche Sinnzusammenhänge hervorzuheben.   

"Ein wesentlicher und immer wieder betonter Aspekt des Konstruktivismus ist," so Floyd, "daß Ethik von der Betrachtung von Erkenntnis und Handeln niemals losgelöst werden kann. (...) Das geschieht nicht durch explizite Angabe von Normen darüber, was man tun soll, sondern das Ethische ist von vornherein mit 'eingewoben', da Erkenntnis und Handeln immer auf mich bezogen sind. In /v. Foerster 73/ findet sich der ethische Imperativ: Handle so, daß die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer werden. Den anderen anzuerkennen, erfordert nach /v. Foerster 73/ eine Entscheidung. Sie veranlaßt uns, aus dem Monolog herauszutreten und in den Dialog einzutreten. Dialog bedeutet, die Perspektive des anderen anzunehmen." [33, S. 9].
Wenn wir also von Ethik und Informatik sprechen, dann meinen wir gerade dieses 'Eingewobensein' unserer informationstechnischen Entwürfe in eine sittliche Dimension. Die Reflexion über diese Dimension ist Aufgabe der Ethik im Sinne der praktischen Philosophie. Das 'und' zeigt an, daß wir es hier mit einem für beide Seiten vorteilhaften "Antagonismus" im Sinne eines Streites "zweier miteinander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigter Parteien (concordia discors, discordia concors)", nicht also mit einem leeren Grenzstreit, zu tun haben.  

Als Fazit können wir festhalten, daß der zu Beginn angesprochene universalistische Anspruch der Informatik in seiner ethisch-praktischen und nur sekundär in seiner theoretischen Reichweite liegt. Mit anderen Worten, der Gegenstand der Informatik nach dem Paradigmenwechsel ist eben der Mensch und zwar in bezug auf die technische Gestaltung seiner Interaktionen in der Welt, wobei eine solche Gestaltung stets in bezug auf eine von der Informatik her nur indirekt thematisierbare, aber stets in sie hineinspielende ethische Dimension aufgefaßt werden muß. Die Informatik stellt sich als eine hermeneutische Disziplin dar, die die bisherigen theoretischen, praktischen, technischen und anwendungsbezogenen Aspekte umfaßt. Diese werden vom ethos her, d.h. sowohl vom moralischen Charakter des einzelnen als auch von der Sittlichkeit der Gemeinschaft, als Handlungsentwürfe legitimiert.

5. DIE HERAUSFORDERUNG DER INFORMATIK FÜR DIE PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Somit ist auch die Herausforderung der Informatik für die praktische Philosophie ausgesprochen, nämlich die Thematisierung und Applikation des ethischen Diskurses in bezug auf die Fragen, welcher der Entwurf und die Implementierung solcher Interaktionssysteme für die durch sie direkt oder indirekt Betroffenen (Auftraggeber, Benutzer, Kollegen) aufwirft.  

Diese Thematisierung hat zu einer breiten Diskussion sowie zu gewissermaßen 'offiziellen' Stellungnahmen seitens der Informatiker geführt. Ich denke dabei z.B. an die Ergebnisse des GI-Arbeitskreises "Grenzen eines verantwortbaren Einsatzes von Informationstechnik" [76] (16). Darin wird nämlich der Universalitätsanspruch der Informatik von der sozialen Dimension her eingeschränkt. Dann steht die Frage nach der Verantwortung im Mittelpunkt, wenn es nämlich darum geht, Informationstechnik "unter der Leitlinie sozialer Zweckbestimmtheit und unter dem Gesichtspunkt des Werkzeugcharakters" zu entwickeln [76, S. 288).

Gerade in Zusammenhang mit der medienartigen Natur der Informationstechnik zeigt sich aber, daß Begriffe wie Maschine oder Werkzeug hier nur analog gelten, und daß die Frage nach der Zuweisung von Verantwortung sich dabei neu stellt. Denn Spannungen zwischen sozialer Zweckbestimmtheit und Werkzeugcharakter, etwa beim Mißbrauch von Zugriffsmöglichkeiten oder bei der Übertragung von Verantwortung vom Entwickler zum Benutzer, können nicht mehr auf der Grundlage der klassischen Technikauffassung gelöst werden. Bereits die Arbeitsteilung bei der Entwicklung führt hier, wie auch in anderen Fällen von Großtechnologie, zu der Frage nach einer kollektiven Verantwortung.   

In diesem Zusammenhang empfiehlt der Arbeitskreis einen dialogischen Ansatz, nämlich das Prototyping, d.h. die ausdrückliche Kooperation mit den Benutzern. Nicht absolut zuverlässige, sondern fehlertolerante Systeme stehen jetzt, nach dem Paradigmenwechsel, im Vordergrund. Die Wissenschaftstheorie unserer Zeit hat gezeigt, daß Wissenschaftlichkeit nur dann gegeben ist, wenn auf Letztbegründung verzichtet wird. Das schwache Vermutungswissen und nicht das starke, auf scheinbar unerschütterliche Beweisen beruhende dogmatische Wissen ist ein entscheidendes Kriterium von Wissenschaft. Dementsprechend lernen wir jetzt, daß die klassische, auf absolute Sicherheit abzielende Technik keine gute Technik ist. Eine auf die soziale Dimension ausdrücklich bezugnehmende logische Technik steht nunmehr unter der Devise: Schwache Technologie ist gute Technologie!  

So stellt also die Frage nach dem "Subjekt der Computer-Ethik" [59] d.h. die Frage, wer die Verantwortung für die Entwicklung, den Einsatz und die Nutzung der Informationstechnik trägt den Rahmen der Herausforderung der Informatik für die praktische Philosophie dar. Denn auf der einen Seite löst sich, zumindest tendenziell, das verantwortungsvolle Subjekt auch und gerade, wenn dieses kollektiv aufgefaßt wird in die vielfachen Vernetzungen auf, so daß es nicht mehr möglich ist, wie es scheinbar im Falle der klassischen Technik der Fall war, zwischen Herstellung und Nutzung klar zu trennen. Während auf der anderen Seite die Frage nach ethischen Kriterien für eine menschengerechte Gestaltung dieser mit universalistischen Ansprüchen sich vollziehenden Technik immer dringender wird.  

Ich glaube deshalb nicht, daß diese Frage primär, wie Martens mit Recht betont, mit Hilfe eines Rückgriffs auf Kants Kategorischen Imperativ gelöst werden kann (17). Es wäre eine petitio principii. Denn der Teufel steckt zwar hier, wie überall in der modernen Technologie, eben im Detail, aber eine "Kasuistik" im Kantischen Sinne [47, A 55-59], d.h. die Übung der Urteilskraft am Einzelfall, setzt bei Kant die Frage nach dem Subjekt als gelöst voraus, die aber in diesem Fall die eigentliche Herausforderung bildet.

Auch das Kriterium der Diskursethik (K.-O. Apel, J. Habermas), nämlich die Voraussetzung einer transzendentalen Kommunikationsgemeinschaft, scheint mir aus demselben Grund zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Eher glaube ich, daß der Begründer der praktischen Philosophie uns Anhaltspunkte gibt, wie eine 'relativistische' Ethik aussehen kann, d.h. eine Ethik, die nicht mit Absolutheitsansprüchen ansetzt, sondern vom Einzelfall ausgeht und die Frage nach dem für den Menschen insgesamt Guten in der jeweiligen Situation immer wieder neu stellt. Das bedeutet nicht, daß die neuzeitliche Frage nach dem Subjekt oder nach der Autonomie des freien Willens überflüssig wäre, sondern diese Frage ist nur nicht losgelöst von einer dialogisch immer schon mit-geteilten also mit den anderen geteilten und deshalb auch (informations-)technisch gestaltbaren und mitteilbaren Lebenswelt zu sehen.

In diesem Sinne fasse ich die aristotelische phrónesis (lat. prudentia) als Vor-Sicht auf [2, bes. Buch VI]. Sie ist die Kerntugend technischen Handelns. Aus diesem Grund haben rationalistische Überlegungen in der Ethik eine nicht wegzudenkende Funktion, und zwar bis hin zur Abfassung universalistischer Ethik-Kodizes. Es hieße aber solche Kodizes in das Gegenteil umkehren, würde man sie als Handlungsanleitungen betrachten, die man nur anzuwenden braucht. Denn ethische Reflexion, so ein wiederkehrender topos bei Aristoteles, kann nur "umrißhaft" stattfinden:   

"Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht," so Aristoteles, "den der gegebene Stoff gestattet. Der Exaktheitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, genausowenig wie bei handwerklich-künstlerischer Produktion."[Nik. Ethik 2, 1094 b 12-14]
Das ist auch ein Grund, warum die Ergebnisse einer scheinbar rein rationalistisch und vorurteilslos verfahrenden Ethik nicht als Handlungsanleitung verstanden werden dürfen (18). Ethische Reflexion und tatsächliche Verwirklichung des Guten sind zweierlei.  

Für Klaus Wiegerling hängt die ethische Herausforderung mit der anthropologischen eng zusammen: "Verändert sich der Mensch in seinem Wesen mit der Herrschaft der neuen Technologie?", fragt er in Anlehnung an Heidegger und fügt anschließend hinzu:   

"Die ethische Herausforderung läßt sich in der Frage formulieren: Führt die Entfaltung der neuen Technologie langfristig gesehen zur Ausschaltung des menschlichen Moralbewußtseins, da die menschliche Freiheit, Grundlage jeder ethischen Überlegung, nur noch als Störfaktor in einer auf Funktionalität ausgerichteten technisierten Gesellschaft angesehen wird? In der ethischen Herausforderung ist freilich auch die politische und ökologische enthalten." [89, S. 134]
So reichen also weder eine reine Pflichtethik noch eine scheinbar vorurteilslos vorgehende rationalistische Abwägung aus, um mit der Herausforderung der Informatik fertig zu werden. Das formale Kriterium einer dialogisch mitgeteilten Lebenswelt ist notwendig, aber nicht hinreichend. Wir suchen also nach Dimensionen gemeinschaftlich (be-)glückender Lebenspraxis, nach menschlichen Existenzformen oder, wie die Tradition sie nannte, nach Tugenden. Ich meine, daß die praktische Philosophie uns auch hier Anhaltspunkte gibt, um gemeinsam und am Einzelfall unsere Urteilskraft zu üben. So sollten wir also bei der informationstechnischen Gestaltung unseres "In-der-Welt-seins" folgendes nicht aus den Augen verlieren:  

1. Gerechtigkeit, d.h. die Achtung vor der Menschenwürde. Damit meine ich in bezug auf die Informatik die Infragestellung der Trennung von Mensch und Technik, die Reduktion menschlichen Handelns auf regelgeleitete Strukturen und die Ausweitung des Blickes auf eine dialogisch erschlossene Welt, in der es gilt, von der konkreten Situation auszugehen und auf die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten des einzelnen stets Rück- und Vor-Sicht zu nehmen.  

2. Tapferkeit, d.h. Solidarität mit den Leidenden und Unterdrückten. Ich meine damit primär Menschen, aber auch die sonstigen von uns allzu oft gequälten Lebewesen. Das bedeutet ebenfalls die Infragestellung der angeblichen Neutralität der Informationstechnik und die Ausweitung des Blickes von der theoretischen auf die konkrete Universalität etwa der ökologischen Fragen, des Dienstes am Weltfrieden, der Linderung des Hungers und der Krankheiten in den ärmsten Regionen dieser Erde.  

3. Besonnenheit, d.h. freiwillige Selbstbeschränkung. Gerade im Falle der Informationstechnik, die unsere Wissensbegierde nicht nur ins Unermeßliche, sondern auch ins Maßlose steigert, gilt es, auf der einen Seite uns selbst Grenzen zu setzen und 'Schongebiete' nicht nur in unserer Arbeits-, sondern auch in unserer sonstigen Lebenswelt zu schaffen und auf der anderen Seite die Möglichkeiten dieser Technik stets auf die Einzelsituation zu beziehen, um sie nicht überdimensional oder gar ausbeuterisch zu gestalten.  

Wie sollen wir aber im konkreten Fall - d.h. also z.B. bei der Entwicklung intelligenter Systeme, bei Fragen der Sicherheit und Zuverlässigkeit von Hard- und Softwaresystemen, bei der Modellierung von Computernetzen, bei militärischen Anwendungen, bei einer immer mehr auch informationstechnisch verwüsteten und kolonialisierten Dritten Welt - wie also sollen wir, d.h. die in der Informatik-Forschung, -Lehre und -Praxis Tätigen, verantwortlich handeln? Oder, anders ausgedrückt, wie sollen wir konkret bei diesem oder jenem Projekt die Rahmenbedingungen der Achtung vor der Menschenwürde, der Solidarität mit den Leidenden und Unterdrückten und der freiwilligen Selbstbeschränkung wirksam werden lassen und ihre Mißachtung vermeiden?  

Genau an diesem Punkt setzt die gemeinsame Übungsarbeit - die "Asketik", wie Kant sie nennt [47, A 57] - unserer Urteilskraft an (19). Wie soll man aber etwas üben, was man nicht vorher, etwa durch ein langwieriges Philosophiestudium, gelernt hat? Auf diese Frage gibt Hans-Georg Gadamer folgende Antwort:  

"Nicht die großen Leitbegriffe einer heroischen Vorbildsethik und ihre 'Tafel der Werte' sind der eigentliche Inhalt der aristotelischen Ethik, sondern die Unscheinbarkeit und Untrüglichkeit des konkreten sittlichen Bewußtseins (os o logos o orthós légei), das seinen Ausdruck in so nichtssagenden und alles umfassenden Begriffen findet wie: was 'sich gehört', was 'anständig', was 'gut und recht' ist. Es ist eine Verkennung, wenn man den Nachdruck, der auf dieser universellen Konkretisierungsformel bei Aristoteles liegt, selber wieder in eine Pseudogegenständlichkeit wendet und etwa darin den speziellen 'Wert der Situation' beschrieben sieht (N. Hartmann). Vielmehr ist das gerade der Sinn der Lehre von der 'Mitte', die Aristoteles entwickelt, daß alle begriffliche Bestimmung der überlieferten Tugendbegriffe nur eine schematisch-typische Richtigkeit besitzt, die aus den legómena geschöpft ist.

Dann aber ist die philosophische Ethik in der gleichen Lage, in der sich ein jeder befindet. Das, was als recht gilt, was wir im Urteil über uns selber oder über andere bejahen oder beanstanden, folgt aus unseren allgemeinen Vorstellungen von dem, was gut und recht ist, gewinnt aber seine eigentliche Bestimmtheit erst in der konkreten Wirklichkeit des Falles, der kein Fall der Anwendung einer allgemeinen Regel ist, sondern im Gegenteil das Eigentliche, um das es geht und für das die typischen Gestalten der Tugenden und die Struktur der 'Mitte', die Aristoteles an ihnen nachweist, nur ein vages Schema darstellen.

Daher ist diejenige Tugend, kraft deren wir diese Mitte treffen und die Konkretisierung leisten, die überhaupt erst das Tunliche als das praktón agathón erweist, die phrónesis, keineswegs eine besondere Auszeichnung dessen, der philosophiert. Vielmehr sieht sich umgekehrt auch der, der über das Gute und Rechte im allgemeinen nachdenkt, auf diesen praktischen lógos genauso verwiesen wie jeder andere, der seine Vorstellungen von dem, was gut und recht ist, in die Tat umsetzen soll. Ausdrücklich erkennt es Aristoteles als den Fehler der Leute (der polloi), sich aufs Theoretisieren zu verlegen (epí ton logon katapheugontes) und, statt zu tun, was recht ist, darüber zu philosophieren. (Eth.Nic B 3: 1005 b 12 ff.)". [36,S. 187-188]
 

 
    
  

ANMERKUNGEN

1. Horaz' Oxymoron über die "zwieträchtige Eintracht der Stoffe" ("rerum concordia discors" Epist. I, 12, 19) nimmt Bezug auf die Lehre des Empedokles über das Entstehen und Vergehen der Dinge aus der Einwirkung von Haß und Liebe auf die vier Elemente.  

2. Im Gegensatz zu einem logischen Widerspruch, geht es bei einem Widerstreit im Kantischen Sinne um die Frage, ob zwei scheinbar sich widersprechende Sätze in unserem Fall also, ob menschliches Handeln bloß technisch bestimmt werden kann oder nicht , auf verschiedenen Diskursebenen anzusiedeln sind. Meine These ist, daß der Streit zwischen Ethik und Informatik ein Widerstreit ist, der nur dann aufgelöst werden kann, wenn zwischen technischem und ethischem Handeln unterschieden wird.  

3. Kant nimmt aber zugleich einen kritischen Abstand in bezug auf die Hauptthese der Willmans'schen Dissertation, nämlich die Ähnlichkeit zwischen dem "Mystizismus" und der "Kantischen Religionsdoktrin".   

4. Der Analogieschluß ist zulässig, so Kant, da Menschen und Tiere "der Gattung nach (als lebende Wesen)" "einerlei" sind. Das Handeln nach Vorstellungen unterscheidet die Tiere von den Maschinen, so Kant gegen Descartes [46, § 90, Anm.]. Der Mensch hat, so Kant, vor den Tieren zwar "den Verstand voraus", aber "das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus) [...] Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben" [47, Tugendlehre § 11].  

5. Der Verfasser weist auf eine frühe Verwendung des Wortes Informatik (1957) durch Karl Steinbuch hin.  

6. Von der Spannweite dieser Fragen zeugen z.B. die Themen der Fachgruppen beim 1989 gegründeten Institut für Informations- und Kommunikationsökologie (IKÖ, Dortmund). Vgl. [23].  

7. Zum Informationsbegriff vgl. die grundlegende Arbeit von H. Völz [85]. Ferner v.Vf. [15, 17]. A.L. Luft legt der Informatik einen im menschlichen Bereich angesiedelten Informationsbegriff zugrunde [57, S. 220]. Zur Wandlung des Symbolbegriffs vgl. [48].  

8. Die Programmers behaupten, daß Erkenntnis durch gezielte symbolische Modellierung des Systems erzeugt werden kann. Intelligenz arbeitet auf der Grundlage mentaler Repräsentationen. Philosophisch steht diese These in der Nähe der "Kübeltheorie des Geistes" (Popper): Der Geist ist ein Kübel, in dem Abbilder der Wirklichkeit gespeichert und verarbeitet werden. Die Frage: für wen? führt zu einem regressus ad infinitum. Die "Physical Symbol System Hypothesis" (H. Simon) sucht einen Ausweg aus diesem Dilemma. Sie besagt, daß intelligente Systeme sich als solche zeigen, wenn sie Symbole verarbeiten. Diese Hypothese setzt die Unterscheidung zwischen einer physikalischen, syntaktischen (oder symbolischen) und semantischen Ebene voraus. Für die Konnektionisten, die in den 60er Jahren an den Rand gedrängt wurden, soll Intelligenz nicht mit Hilfe von Regeln, sondern, nach der Analogie mit den Organismen, durch neuronal-ähnliche Netzwerke künstlich erzeugt werden können. Vgl. [40].  

9. Vgl. die Argumente von Searle [78] für den schwachen Anspruch und die Gegenargumente von Pylyshyn [71], P. S. Churchland [29] und P. M. Churchland [27]. Zur Debatte Searle/Churchland(s) vgl. [28, 79].  

10. Zum Thema Leiblichkeit und KI vgl. [58]. Oeser und Seitelberger sprechen im Extremfall einer Realisierung von Intelligenz ohne jeden materiellen Träger von "gespensterhaftem Dualismus" [68, S. 32]. Hier beruht auch die mythische Vorstellung von nicht-biologisch bedingten Superintelligenzen, so wie sie uns in der Science-Fiction-Literatur aber auch und immer eindringlicher in 'wissenschaftlichen' Entwürfen über die Zukunft der Evolution, begegnet. Vgl z.B. [66, 61 S. 307-322]. Vor diesem Hintergrund läßt sich ein Vergleich mit der antik-mittelalterlichen Vorstellung von 'getrennten Intelligenzen' ziehen [24].  

11. Diese Konsequenz trifft auch für den Fall zu, wo dieses Ergebnis auf der Basis von Materialismus und Funktionalismus erreicht werden sollte. Vgl. [54]. Es bleibt allerdings eine contradictio in adjecto, wenn "autopoietische Maschinen" (Maturana/Varela) von uns programmiert werden sollen. Vgl. [82, S. 216-225].  

12. Die Hermeneutik im Sinne einer Theorie der Auslegung (griechisch 'hermeneuein') von insbes. theologischen, literarischen und juristischen Texten wurde von Hans-Georg Gadamer zu einer philosophischen Disziplin, in Anschluß an Heideggers Hermeneutik des "Daseins", weiterentwickelt [35]. Der von Winograd und Flores [90] in den Vordergrund gestellten Problematik des Zusammenhangs von Informatik und Hermeneutik ist unter dem Gesichtspunkt des Speicherns und Wiederfindens von Fachinformationen in Datenbanken meine Arbeit [16] gewidmet.   

13. Vgl. [19]. Die Kritik von M. Mohnhaupt und K. Rehkämper [65] bleibt äußerlich. Dem Ansatz von Winograd und Flores wird nicht eine, sondern "die kognitionswissenschaftliche Theorie" gegenübergestellt (S. 42), d.h. die Rezensenten begehen denselben Fehler, den sie angeblich bei Winograd und Flores vorzufinden glauben. Das führt zu einer dogmatischen Festschreibung oder 'Immuniserung' des eigenen Standpunktes, wobei zentrale Thesen der kritisierten Theorie wie etwa die der Funktionalität oder des "hermeneutischen Zirkels" im eigenen Lager wieder(!)gefunden werden. Der folgende Satz ist symptomatisch: "Wir hielten es deshalb gegenwärtig für einen erheblichen Rückschritt, wenn die Theorie von W & F die kognitionswissenschaftliche Theorie verdrängen würde." (S. 43, meine Hervorhebung). Im übrigen ist jede philosophische Diktion (nicht bloß "ein wenig"!) "gewöhnungsbedürftig" (S. 36). Für eine immanente Kritik des Ansatzes von Winograd und Flores vgl. [25]. Über Heidegger vgl. [20. 25]. Zur Heideggerschen Technikanalyse [80, 77].  

14. Vgl. auch Leidlmair [51]. In Anschluß an Lischka [55, 56] stellt Leidlmair die Frage, wie kognitive Systeme gebaut werden könnten, die "in-der-Welt-sind" [52].  

15. Zum Begriff der "Lebenstechnik" sowie zur Auffassung des Menschen von der "Künstlichkeit" her vgl. [77].  

16. Vgl. auch [32, 18, 86, 83, 13, 72, 49, 53]. Für die Diskussion in den USA vgl. [75, 69, 42, 43, 62, 63] sowie die grundlegende Pionierarbeit von [87, 88]. Vgl. die Aufsätze in [64] und meine Kritik [21].  

17. So Martens [59] im kritischen Abstand zu Deborah Johnson [42]. Vgl. auch [60]. 
 

18. Paradebeispiel für die Einseitigkeit einer scheinbar vorurteilslos rationalistisch verfahrenden Ethik ist P. Singer [81]. So spielen bei Singer z.B. Selbstbewußtsein, Autonomie und Rationalität (S. 106, 179) eine entscheidende Rolle etwa bei der Euthanasie-Frage, mit dem Ergebnis, daß (menschliches) Leben ohne Bewußtsein "über keinen Wert an sich verfügt" (S. 128), so daß Singer empfiehlt, Kindern "vielleicht für einen Monat" nach der Geburt "ein volles legales Recht auf Leben" abzusprechen (S. 170). Scheinbar vorurteilslos ist dieses Verfahren insofern, als solche Vorurteile über das Wesen des Menschen nirgendwo in Frage gestellt bzw. begründet werden. Und scheinbar rationalistisch insofern, als der Singer'sche Rationalismus in eine Glaubensposition und letztlich, wie beim Euthanasie-Beispiel, ins Irrationale umschlägt.  

19. Beispiele für solche Übungen findet man in [69]. Hier besteht aber weiterhin eine Lücke, nicht nur im Unterricht, sondern auch im Unterrichtsmaterial.    

 

 

  
    
  

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Letzte Änderung: 18. August  2017


   
 
    

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